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31.12.2016 | Blog

Kindersterblichkeit - „Es ist leicht, wegzuschauen“

Alle zwölf Sekunden stirbt ein Kind unter fünf Jahren an den Folgen von Unterernährung. Der Hunger ist, so heißt es, das größte lösbare Problem der Welt. Fünf Jahre hat der Argentinier Martín Caparrós den Globus bereist, um diese Schande zu kartografieren.

Vier Feldarbeiter bearbeiten ihr Reisfeld in Ruanda
Ruanda: Feldarbeiter bearbeiten ihr Reisfeld im Mwogo Valley. © Daniel Pilar
Christina Felschen

Am Ende der Reise steht ein einzigartiges Buch: Großreportage, Geschichtsschreibung und wütendes Manifest. Mit Journalistin Christina Felschen spricht der Autor Martín Caparrós darüber, warum uns Hunger nicht mehr berührt.

Herr Caparrós, es gibt seit Jahrzehnten Institutionen, die den Hunger in der Welt bekämpfen, erforschen und darüber schreiben. Warum machen Sie sich im 21. Jahrhundert auf und recherchieren ein 800-seitiges Buch zum Thema?

Ja, es wird viel darüber gesprochen – aber auf eine Weise, die niemanden mehr vom Hocker reißt. Die Worte »Millionen Menschen hungern« lösen keine Empörung mehr aus, wir haben uns so daran gewöhnt, dass sie zum Klischee geworden sind. »Was wollen Sie? Den Hunger in der Welt abschaffen?« ist zur sarkastischen Phrase geworden, gleichbedeutend mit: »Vergiss es!« Mit Expertenmeinungen, Zahlen und Begriffen wie »Unterernährung« halten wir die Katastrophe des Hungers abstrakt.

Sie fragen die Hungernden selbst. Sie hören Alltagsgeschichten, die wir uns kaum vorstellen können: Wie Amena aus Bangladesch abends Steine kocht, damit ihre Kinder denken, es gäbe am nächsten Morgen etwas zu essen. Oder wie Hussena aus dem Niger entscheiden muss, wer aus der Familie überhaupt zu essen bekommt.

Die Leser sollen eine Ahnung davon bekommen, wer sich hinter diesen 795 Millionen Hungernden verbirgt – wenn uns schon die Zahl nicht berührt. Aber dann muss mit den traurigen Geschichten auch mal Schluss sein! Ich will nicht in ihrem Elend herumstochern. Die bengalische Frau habe ich nicht gefragt, was ihre Kinder sagen, wenn sie am nächsten Morgen herausfinden, dass sie nichts zu essen bekommen. Sicher könnte man das in aller Breite ausführen, aber wem nützt diese Pornografie des Elends? Der Bengalin mit Sicherheit nicht.

Verbreitung, Ursachen und Folgen

Stattdessen stellen Sie die Systemfrage: Wie kann es sein, dass die weltweite Landwirtschaft zwölf Milliarden Menschen ernähren könnte – fünf Milliarden mehr Menschen als es gibt – und trotzdem fast eine Milliarde hungert? Das sind Zahlen aus dem Weltagrarbericht, der den Lebensstandard der Italiener zugrunde gelegt hat. Was ist Ihre Antwort?

Der Bericht bricht mit dem Mythos, dass es sich um ein technisches Problem handelt. Es ist ein Problem der Verteilung. Das Weltwirtschaftssystem ist so organisiert, dass ein Großteil der Nahrung dafür verwendet wird, die reichsten zwei bis drei Milliarden Menschen auf sehr hohem Niveau zu ernähren. Das ist eine Schande! Um ein Kilogramm Rindfleisch herzustellen, müssen wir erst einmal zehn Kilogramm Getreide oder Soja verfüttern – Nahrung, die am Ende fehlt.

Warum werden wir nicht alle Vegetarier und teilen das Getreide?

(lacht) Tja, gute Frage. Es ist absurd, aber wir tun nun mal nicht immer das, was uns korrekt erscheint. Ich muss gestehen, dass ich als Argentinier auch weiterhin Asado esse. Und das, obwohl ich mich über die ungerechte Verteilung aufrege.

Fehlt uns die Empathie?

Hunger ist das abgelegenste Problem der Welt. Klar, jeder achte Mensch ist davon betroffen – aber haben Sie unter Ihren Freunden jemanden, der hungert? Nein. Na also! Es sind immer andere. Das macht es leicht, wegzusehen und ein gutes Steak zu essen.

Portrait von Martín Caparrós

In Indien haben sich Generationen von Menschen an den Hunger gewöhnt. Viele wissen nicht einmal, dass sie unterernährt sind.

Martín Caparrós argentinischer Journalist und Schriftsteller

Sie schreiben davon, wie die Hungerkatastrophe in Biafra Ende der 1960er-Jahre weltweites Entsetzen auslöste. Unter dem Embargo der damaligen Militärdiktatur starben mindestens eine Millionen Menschen, die Bilder der Biafra-Kinder mit aufgeblähten Bäuchen gingen um die Welt. Über den alltäglichen Hunger in Indien heute regen wir uns nicht auf.

Weil er alltäglich ist und keine Bilder produziert. Akute Hungerkatastrophen lassen sich zum Glück inzwischen eindämmen. Hungernde sterben heute nur selten daran, dass sie zwei oder drei Wochen überhaupt kein Essen bekommen haben. Sie sterben, weil sie über Jahre und Generationen hinweg zu wenig gegessen haben und ihnen die Abwehrkräfte gegen die kleinste Krankheit fehlen. In den 60er-Jahren fiel es uns auch deshalb leichter, uns aufzuregen, weil wir dachten, wir hätten eine Lösung für die Ungerechtigkeit der Welt parat. Der Sozialismus sollte es lösen. Das glaubt heute kaum noch jemand. Wer keine klare Vision hat, hat das Gefühl, seine Energie zu verschwenden.

Ihre Gesprächspartner aus der »Anderen Welt«, wie Sie die Welt der Hungernden nennen, machen ihrer Wut ebenso wenig Luft, sondern richten die Wut gegen sich selbst. Viele geben sich selbst die Schuld an ihrer Armut. Manche sagen sogar, sie wünschten sich den Tod, wenn sie nicht für ihre Kinder verantwortlich wären. Warum gehen diese Menschen nicht auf die Barrikaden?

Überraschend viele halten es für ihr gottgewolltes Schicksal und hoffen auf ein besseres Leben nach dem Tod. Außerdem sind sie so mit dem täglichen Überlebenskampf beschäftigt, dass sie keine Zeit haben, darüber nachzudenken, wer schuld an ihrer Situation ist. In Indien haben sich Generationen von Menschen an den Hunger gewöhnt. Viele wissen nicht einmal, dass sie unterernährt sind.

Im Buch erscheint es, als würden Sie keinem politischen System, keiner Organisation oder Religion und keinem Betroffenen zutrauen, das Problem des Hungers zu lösen. Warum schreiben Sie ein so umfassendes Werk, wenn Sie keine Hoffnung haben?

Hoffnung habe ich schon: Vor 40 Jahren sprach kaum jemand über Umweltschutz, heute muss jeder Provinzgouverneur seinen Naturschutzplan haben. Mit dem Problem des Hungers muss etwas Ähnliches passieren: Sobald wir einsehen, dass es auch unser Problem ist, werden wir Lösungen finden. Aber die Lösung kann nicht darin bestehen, dass die eine Hälfte der Menschheit den Reichtum an sich zieht und den Vereinten Nationen erlaubt, die andere Hälfte mit Almosen abzuspeisen.

Hatten Sie nie das Bedürfnis, einem Gesprächspartner Saatgut oder eine Kuh zu kaufen, damit dieser eine Mensch nicht mehr hungern muss?

(lacht) Eine alte Frau in Mali hat mich vor ein paar Wochen um einen Sack Reis gebeten, und ich habe nachgegeben. Aber ich mache das nur selten, weil es die Erwartungen und die Abhängigkeit nur verstärkt.

Wenn Sie eine Nichtregierungsorganisation gründen könnten, wie würde die das Problem angehen?

Wenn ich das wüsste! Mit Sicherheit würde ich den Leuten kein Essen geben, sondern die Mittel und das Wissen, um dieses selbst anzubauen.

Immer wieder fragen Sie: »Wie zum Teufel können wir weiterleben, obwohl wir wissen, dass diese Dinge geschehen?« Wie leben Sie weiter?

Ich habe jahrelang an diesem Buch gearbeitet und spreche weiterhin darüber. Mir ist klar, dass das eine Ausrede ist. Aber mich gar nicht damit zu beschäftigen, würde mir noch schwerer fallen.

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