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15.06.2016 | Blog

Der Regen kommt zu spät

Till Wahnbaeck, Vorstandsvorsitzender der Welthungerhilfe ist unterwegs im dürregeplagten Äthiopien.

Till Wahnbaeck mit einem anderen Mann in der Wüste.
Wüste soweit das Auge reicht. Der Regen kommt zu spät für das dürregeplagte Äthiopien. © Jens Grossmann
Dr. Till Wahnbaeck Vorstandsvorsitzender (bis 08/2018)

Ich bin in Äthiopien, in der Hirtenregion Afar im Norden des Landes. Hier herrscht die größte Dürre seit Jahrzehnten, aber wir hören unterschiedliche Signale, wie schlimm die Situation wirklich ist. Anfang der Woche hat es begonnen zu regnen. Mein Flug aus Addis Abeba wurde in letzter Minute wegen Überschwemmung der Rollbahn gestrichen, wir fahren gut zehn Stunden mit dem Auto in den Norden. Ist das ein Zeichen für Entwarnung?

Viel zu viel Regen zu dieser Jahreszeit

Wir kommen an überschwemmten Flächen vorbei. „So etwas habe ich noch nie gesehen. Das ist viel zu viel Regen zu dieser Jahreszeit“, sagt Valerie Browning, eine Australierin, die seit über dreißig Jahren in Äthiopien lebt, mit einem Afar-Hirten verheiratet ist und die Hilfsorganisation APDA gegründet hat, mit der zusammen wir unsere Projekte in dieser Region durchführen. Ein paar Kilometer weiter ist die Erde wieder knochentrocken. Wir kommen an den Bargale Damm, den die Welthungerhilfe vor einigen Jahren gebaut hat. Viele Hirten sind in Hoffnung auf Wasser mit ihren Herden hierhergekommen. Der Damm ist trocken, die Tiere waren zu geschwächt, um den Rückweg anzutreten. Die Hälfte der Herde ist auf dem Weg zurück verendet.

„Der Regen hilft, aber er kommt zu spät. Unsere Tiere sind tot.“ Das sagt mir ein Afar-Hirte im Dorf Lii. Igahle Utban ist 36, er hat sechs Kinder, mit denen er in einer ca. 6 Quadratmeter großen Basthütte lebt. Vor drei Jahren hatte er 100 Ziegen, dann 50. Heute sind ihm fünf geblieben. Eine Familie braucht jedoch mindestens 15 Ziegen zum Überleben, denn sie ernähren sich von Milch und Fleisch ihrer Tiere. Der Hirte schlägt sich als Tagelöhner durch, aber auch das reicht nicht. Er ist auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen.

Die Ziegen geben keine Milch mehr

Ein paar Hundert Meter weiter rühren junge Mütter einen Brei an, der aus Mais und Soja besteht: Schulspeisung für die mobile Nomadenschule, damit die Kinder weiterhin in die Schule gehen. Die Aussicht auf Essen motiviert sie, bis zu eineinhalb Stunden morgens zur Schule zu gehen. Der Brei macht satt, aber ausgewogen ist die Ernährung nicht. Die verbliebenen Ziegen geben keine Milch mehr, zum Schlachten sind es zu wenige, Kohlehydrate und Protein allein reichen nicht aus. Die Mangelernährung von kleinen Kindern ist besonders schlimm, denn den Startnachteil holen sie nie mehr auf, körperliche und geistige Entwicklung bleibt für immer gestört. Aber diese Kinder überleben. Das ist nicht immer der Fall. „Ja, ich weiß von Kindern die verhungert sind“, sagt mir ein Stammesältester und zeigt auf einen Hügel. „Da hinten sind die Gräber“. Unsere Partnerorganisationen sprechen von Hunderten von Hungertoten in den vergangenen Monaten.

Seit zwei Jahren regnet es nicht mehr, aber das Problem ist nicht diese eine Krise. Das Problem ist, dass der Klimawandel die Erntesituation seit Jahren verschlechtert. „Dies ist die schlimmste Situation, die ich je erlebt habe“, sagt mir der Stammesälteste Mohamed Nasir, immerhin 61 Jahre alt. „Die große Krise von 1984 war nicht so schlimm, denn danach gab es eine Erholung. Jetzt gibt es keine Erholungspausen mehr, schon seit zehn Jahren nicht“. Wenn dann eine außergewöhnlich brutale Dürre einsetzt wie jetzt, sind alle Widerstandskräfte aufgebraucht.

Wir fahren weiter. An einer kleinen namenlosen Siedlung halten wir an, reden mit zwanzig zurückhaltenden Frauen, umringt von Dutzenden Kindern, die keinen Laut von sich geben. „Wir haben unsere Packtiere durch die Dürre verloren“, sagt mir eine von ihnen. „Die anderen Familien sind dem Wasser gefolgt. Wir konnten das nicht; ohne Packtiere sind wir hier gefangen“. Und: „Ja, unsere Kinder hungern. Dreißig von ihnen haben wir ins Krankenhaus von Semera geschickt“. Sie leiden an akuter Mangelernährung, sind dort als Notfälle eingeliefert worden.

„Das Leid der Menschen macht mich zornig und traurig …“

Es ist eine bedrückende Situation, das Leid der Menschen macht mich zornig und traurig. Und doch kann dieses Mal das Allerschlimmste verhindert werden. In den letzten Jahren hat sich viel getan: die Regierung hat in die Getreidelager rechtzeitig gefüllt und verteilt seit Monaten Nahrungsmittel. Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe haben Zisternen gebaut, die das wenige Wasser speichern. Das Gemeinschaftsgefühl und der Zusammenhalt der Afar-Hirten sind so stark, dass sie den Ärmsten der Armen helfen, auch wenn sie selbst fast alles verloren haben.

Wie dramatisch ist die Lage wirklich?

Wie schlimm ist die Situation also? Die Lage ist dramatisch, die größte Dürre seit Jahrzehnten. Tiere sterben, Menschen hungern, nicht nur hier in Äthiopien, sondern in weiten Teilen Afrikas bis hinunter nach Simbabwe. Schuld ist der Klimawandel, den die Menschen hier nicht ausgelöst haben, aber unter dessen Folgen sie am meisten leiden.

„Diese Krise ist nicht medienwirksam.“

Das Problem ist, dass die Krise mittlerweile Normalität geworden ist, auf eine Krise folgt die nächste, es gibt keine Erholungspausen mehr wie noch 1984. Und doch ist heute vieles anders: die Arbeit der letzten Jahre – von Regierung, Hilfsorganisationen, der Bevölkerung – hat gefruchtet. Die schlimmen Bilder von verhungernden Kindern bleiben diesmal zum Glück aus. Aber das schafft ein neues Problem: dies ist eine vergessene Krise, weil sie uns nicht so stark direkt bedroht wie zum Beispiel die syrische Flüchtlingskrise. Oder weil sie nicht so medienwirksam ist. Versteckten Hunger sieht man nicht.

Wer meint, das Problem sei jetzt gelöst, da es ja regne, hat Unrecht. Der Regen kommt für die Hirten zu spät, sie haben ihre Lebensgrundlage verloren. Und das grundsätzliche Problem ist nicht gelöst: wir müssen uns engagieren, um in Wiederaufbau zu investieren und die Widerstandskraft zu stärken. Ein Land allein kann das nicht schaffen. Jetzt müssen auch wir ran – mit Geld, mit konkreter Hilfe, mit einer starken Stimme. Sonst hört der Hunger nie auf. Aber er kann aufhören, denn wir haben schon so viel erreicht:  das ist – trotz allem Leid, das ich auf der Reise gesehen habe – das starke Gefühl, mit dem ich Äthiopien wieder verlasse.

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