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02.09.2016 | Blog

Kurdistan: Eine Woche im Nordirak

„Wohin geht’s?“ fragte der freundliche Taxifahrer, der mich um kurz vor 4 Uhr morgens in Deutschland zum Flughafen bringt, „nach New York?“ – „Nein, nach Erbil“, antwortete ich und er war erstaunt: „Wo ist das denn?“ Das ist im Irak, genauer gesagt in der Kurdistan Region of Iraq im Norden – ich bin endlich mal wieder dienstlich unterwegs.

Hügelige Landschaft mit einer Straße in der Mitte im Nordirak
Neue Straßen, grüne Hügel. Ist ein Leben im Nordirak wieder möglich? © Barbara Kürsten
Barbara Kürsten Team Human Resources

Als eine der letzten kam ich zur Passkontrolle. „Ihr erster Besuch in Erbil?“ fragte der Zollbeamte lächelnd. „Der erste Besuch im Irak“, entgegnete ich. Darauf wurde sein Lächeln noch herzlicher, er haute den – im Vergleich mit dem zuvor erledigten Daumenabdruck und Iris-Scan – altmodischen Stempel in den Pass und verabschiedete mich mit einem „Willkommen im Irak!“

Projekte der Welthungerhilfe im Nordirak

Im Irak bringt mich ein Fahrer nach Dohuk, dort und in den umliegenden Regionen ist die Welthungerhilfe tätig.  Von ihm erfuhr ich, was eine echte Flüchtlingskrise ist. Wenn eine Stadt mit vielleicht 1,5 Millionen Einwohnern ca. 500.000 Flüchtlinge aufnimmt. Wenn diese Stadt, diese Region, dieses Land selbst unter kriegerischen Auseinandersetzungen leidet. Wenn Lehrer im Ruhestand wegen „der Krise“, die eigentlich die gefallenen Rohölpreise meint, seit April keine Pensionszahlungen mehr bekommen haben. Alles gleichzeitig.

Es reichen einige Kilometer Fahrt, um zu klären, dass die Lage hier zwar soweit ruhig, aber unter stetiger Beobachtung ist. Auf dem Weg nach Sinuni kommt man gefühlt alle zwei Kilometer an einen Checkpoint: Peshmerga in Tarnanzügen und Sicherheitswesten halten jedes Fahrzeug an. Das geht immer anstandslos, kein Problem bei der Gesichtskontrolle. Der Fahrer wechselt ein paar Worte, hilfreich dabei auch der am Rückspiegel baumelnde Rosenkranz. Wer hätte das gedacht: Christen werden hier als neutral betrachtet – da ist es dann von Vorteil, das im wahrsten Sinne des Wortes heraushängen zu lassen. An einem Checkpoint verstehe ich nur das kurdische Wort für Deutschland (sowas wie almani), worauf der Soldat sich grinsend ins Fenster beugt und fragt „Wie geht’s?“ Verdattert kriege ich noch ein „Gut – und selbst?“ raus und es geht schon weiter.

Tonnenweise Weizen findet wegen der Krise keine Abnehmer

Schon aus dem Flugzeug konnte man abgeerntete Weizenfelder sehen, soweit das Auge reichte. Daneben LKW randvoll mit Weizen. Die stehen da und warten. Hunderte. Ich möchte fast sagen tausende. Unfassbar. Es heißt, der Weizen findet wegen der Krise keine Abnehmer. Die Welt ist verrückt – aber kann das wahr sein? Allein die Tatsache, dass diese ganzen LKW nicht anderweitig genutzt werden können… noch die Betrachtung der Fotos lässt mich mit offenem Mund dasitzen.

Die Gegend wird einsamer, alles flimmert bei den um die 45°C, dazu kommt starker Wind, man sieht mehrere staubgeladene Windhosen in der Ferne – und direkt über die Straße werden distelartige Büsche und Kleinkram geweht… irgendwie hat es was vom wilden Westen. Die Zahl der Checkpoints steigt an, es sind aber auch Verschläge auf einem am Straßenrand aufgeschütteten Hügel, auf dem ein zum Schutz gegen den heißen Wind vermummter Soldat sitzt, die Stellung hält und Richtung Syrien guckt. „Das da hinten sind syrische Dörfer“, werde ich informiert – nur wenige Kilometer Luftlinie entfernt.

Hunderte Lastwagen stehen voll beladen neben den Feldern. Wegen der Krise kauft keiner Weizen. © Barbara Kürsten
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Abgeerntete Weizenfelder soweit das Auge reicht. © Barbara Kürsten
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Von der Luft aus gut zu sehen: Die Felder sind abgeerntet. © Barbara Kürsten
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Viele Häuser sind zerstört. Wie soll man Leute bewegen, sich hier wieder anzusiedeln? © Barbara Kürsten
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Zerstörte Häuser. In der Kurdistan Region of Iraq wurden ganze Dörfer in Schutt un Asche gelegt. © Barbara Kürsten
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Wer will hier noch wohnen?

Zerstörte Häuser, ein zerbombter Krankenhausrohbau, ganze Dörfer platt gemacht. Unwirklich. Zehn, fünfzehn Meter rechts der Straße zieht sich über Kilometer ein jetzt unbemannter Schützengraben. Bizarr, aber irgendwie nicht bedrohlich. Trotzdem stellt sich die Frage, wie man Leute bewegen soll, sich hier wieder anzusiedeln? Wo oft einfach nichts mehr ist und womit wahrscheinlich furchtbare Erinnerungen verbunden sind. Ist das realistisch? Wenn man es nach wochen- oder monatelanger, gefährlicher Reise endlich nach Europa geschafft hat? Wenn man in einem Zelt oder einem Container in einem Flüchtlingslager in der Mitte von nirgendwo wohnt? Oder schlimmer noch: in einer „wilden Siedlung“ am Fuß des Sinjar-Gebirges?

Aber dann der Ort, von dem aus die Ansiedlung losgehen soll: Sinuni. Breite Straßen. Eine Art Allee, die auf dem Weg war, eine Prachtstraße zu werden. Leider fehlt ihr unter anderem noch der Asphalt. Ja, auch Trümmer, Stacheldraht – aber bei weitem nicht überall. Es gibt ein kleines Zentrum, wo das Leben schon jetzt wieder losgeht: Es gibt kleine Läden, mit Bergen an Gurken, Auberginen, Feigen, Zwiebeln, Tomaten, Gasflaschen, Wasser und Softdrinks, Kochgeschirr, Plastikeimer und –schüsseln, Kekse und Reis und viel mehr.

Die Leute glauben anscheinend daran, dass der Neuanfang klappen kann. Auch wenn hier und da noch Maschinengewehre griffbereit im Wohnzimmer stehen. Ich wünsche ihnen, dass es funktioniert.

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