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16.12.2014 | Gastbeitrag

Hart an der Grenze - die Flüchtlingspolitik der EU

Weltweit sind mehr als 51 Millionen Menschen auf der Flucht. Die EU muss für sichere und legale Zugangswege nach Europa sorgen, fordert Franziska Vilmar von Amnesty International.

Flüchtlinge in Zeltcamps auf ihrem Weg nach Europa.
Flüchtlinge in Zeltcamps auf ihrem Weg nach Europa.
Franziska Vilmar Gastautorin

Mehr als fünf Stunden kämpfte Alieu L. (Name geändert) auf hoher See in tiefschwarzer Nacht ums Überleben, festgeklammert an einen Kanister.  Der junge Mann aus Gambia saß am 27. Juni 2014 gemeinsam mit 100 anderen Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten in einem Boot auf dem Weg von Libyen nach Italien.

Verzweifelte Versuche nach Europa zu gelangen

Plötzlich drang Wasser ein und das Boot sank – mitten auf dem Mittelmeer. Mindestens 70 Menschen verloren bei dem Unglück im Juni 2014 ihr Leben. Alieu L. hielt durch, bis er von einer Tankerbesatzung und anschließend von der italienischen Marine gerettet wurde. Zurzeit wartet er in einem abgelegenen Aufnahmelager auf Sizilien auf die Entscheidung über seinen Asylantrag. Die meisten Flüchtlinge kommen aber nicht nach Deutschland oder Europa, sondern bleiben in ihren Nachbarländern. Alieu L. ist einer von mehr als 50 Flüchtlingen, die von Amnesty–Mitarbeitern interviewt wurden. Ihre Erlebnisse flossen ein in einen Bericht über die verzweifelten Versuche von Flüchtlingen, Europas Küsten zu erreichen, und über die Folgen der Politik der Europäischen Union (EU).

Da die Fluchtrouten nach Europa über Land massiv abgeschottet wurden, haben Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten keine andere Wahl, als auf dem viel gefährlicheren Weg über das Mittelmeer ihr Leben zu riskieren. Die EU nimmt dabei in Kauf, die Menschenrechte zu verraten und Menschenleben aufs Spiel zu setzen. Über 23 000 Menschen sind Schätzungen zufolge seit dem Jahr 2000 auf der Flucht über das Mittelmeer nach Europa ums Leben gekommen. Die Dunkelziffer ist weit höher. Sie kenterten mit überfüllten und seeuntüchtigen Booten und ertranken. Diese Menschen sind Opfer einer Politik, die vorsieht, dass die Mitgliedstaaten an den EU-Außengrenzen zuallererst den Auftrag haben, ihre Grenzen vor sogenannter illegaler Migration abzuschotten. Das Asylsystem greift erst nach Überschreiten der Grenze. Für den Zugang zum möglichen Asyl gibt es in den Zäunen und zwischen den Überwachungskameras keine Schlupflöcher.

Die wirkliche Last tragen die, die ohnehin schon wenig haben

In den vergangenen Wochen und Monaten war in den Medien und vonseiten der Politik wieder vermehrt von »Flüchtlingsströmen« und »Grenze der Belastbarkeit « die Rede. Dabei nimmt Europa vergleichsweise wenige Flüchtlinge auf. Die wirkliche Last tragen andere: die, die ohnehin schon wenig haben. Weltweit sind momentan über 51 Millionen Menschen auf der Flucht – das sind so viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Der überwiegende Teil der Menschen sucht innerhalb des eigenen Landes Schutz. Etwa 18 Millionen Menschen verlassen ihre Heimat. Die meisten Flüchtlinge kommen aber nicht nach Deutschland oder Europa, sondern bleiben in ihren Nachbarländern. Insgesamt nehmen sogenannte Entwicklungsländer inzwischen 86 Prozent aller Flüchtlinge auf – Tendenz steigend. Mit anderen Worten: Länder wie Pakistan, Iran, Libanon, Jordanien oder Kenia, in denen es viel weniger Ressourcen gibt als bei uns, leisten durch ihre Aufnahmebereitschaft den größten humanitären Beitrag für Flüchtlinge. Auch die Türkei ist hier zu nennen, die über eine Million syrische Flüchtlinge aufgenommen hat

Europa muss mehr unternehmen, um diese Länder zu unterstützen. Beispielsweise, indem es durch den Ausbau von Neuansiedlungs– und humanitären Aufnahmeprogrammen mehr sichere und legale Zugangswege nach Europa schafft. Menschen müssten schon im Flüchtlingslager einen Asylantrag stellen können und nicht erst europäischen Boden betreten müssen. Die Staaten in den Krisenregionen würden entlastet und Flüchtlinge müssten nicht mehr ihr Leben riskieren, um in Europa Asyl beantragen zu können. Außerdem muss ihnen endlich über einen großzügigen Familiennachzug die geschützte Einreise nach Europa ermöglicht werden.

Die finanziellen Mittel sind da, aber wenig Solidarität

Die finanziellen Mittel dafür wären da – wenn sie denn richtig genutzt würden: Zwischen 2007 und 2013 gab die Europäische Union (EU) fast zwei Milliarden Euro für den Bau von Grenzzäunen, hoch entwickelten Überwachungssystemen, Grenzkontrollen und die Grenzschutzagentur Frontex aus. Aber nur 700 Millionen Euro wurden in die Verbesserung der Situation von Asylsuchenden wie schnellere Asylverfahren und bessere Bedingungen in den Unterkünften investiert.

Die EU zeigt sich nicht nur wenig solidarisch mit Flüchtlingen und Entwicklungsländern, auch innerhalb der EU wird Solidarität beim Thema Flüchtlingshilfe nicht großgeschrieben. So hat Italien nach drei Flüchtlingstragödien im Mittelmeer mit mehr als 500 Toten im Oktober 2013 im Alleingang „Mare Nostrum“ gestartet, eine groß angelegte Seenotrettungsaktion, die zwischen Oktober 2013 und Oktober 2014 insgesamt über 155 000 Menschen das Leben gerettet hat. Die Kosten beliefen sich auf monatlich neun Millionen Euro. Italien wurde weder finanziell noch logistisch von den anderen EU-Mitgliedstaaten unterstützt. Die Operation „Mare Nostrum“ wurde zum Jahresende eingestellt. Seit dem 1. November wird „Triton“ als Ersatz gehandelt. Die Europäischen Regierungen haben entschieden, zwei bereits existierende Frontex-Einsätze – Hermes und Aeneas – zusammenzulegen. Deren Priorität ist in erster Linie die Bekämpfung der irregulären Migration, nicht die Seenotrettung. Das Einsatzgebiet von »Triton« grenzt zudem deutlich näher an die italienischen Küstengewässer an, nicht mehr bis an die libyschen, obwohl es dort zu den meisten Bootsunglücken kommt. Die Mitgliedstaaten geben für die Unterstützung dieser Frontex-Einsätze mit 2,8 Millionen Euro monatlich deutlich weniger aus als Italien bis dato allein (neun Millionen Euro pro Monat). Eine effektive Seenotrettung ist im Mittelmeer also nicht gewollt.

Bekenntnis zur europäischen Verantwortung im Mittelmeer

Es ist höchste Zeit, dass die EU -Mitgliedstaaten von ihrer inhumanen Flüchtlingspolitik abrücken und mehr Solidarität zeigen – sowohl untereinander und mit den Entwicklungsländern als auch mit den Flüchtlingen. Sie müssen sich endlich zur gemeinsamen Verantwortung zur Seenotrettung im Mittelmeer bekennen und sichere Zugangswege für Flüchtlinge nach Europa schaffen – damit Menschen wie Alieu L. nicht länger den Tod riskieren auf der Suche nach Schutz vor Bedrohung und nach einem besseren Leben.

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