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13.12.2016 | Gastbeitrag

Wo sonst könnten wir leben?

Ein Besuch bei Jesidinnen im Nordirak

Flüchtling Nisan im Profil
Nisan ist nach ihrer Flucht vor dem IS in ihre Heimat zurückgekehrt. © Stanislav Krupar
Andrea Jeska Freie Journalistin

Vor dem IS geflohene Jesiden sind nach Sinuni zurückgekehrt. Dort setzen sie mit Hilfe der Welthungerhilfe Gärten, Häuser und Straßen in Stand.

In der Mittagspause haben die Männer keine Chance gegen Nisan, das Mädchen mit dem leuchtend blauen Tuch um die dunklen Locken. An der Tischtennisplatte knallt die 21-Jährige ihnen die Bälle um die Ohren, bis einer nach dem anderen aufgibt. „Mach doch auch mal halblang, Nisan“, sagen sie im Scherz, bevor alle an ihre Arbeit zurückkehren: die Männer zu den Wänden, die sie neu verputzen, die Frauen in den Garten, den sie neu gestalten.

Rasensamen werden gesät, zwei Olivenbäume haben sie schon gepflanzt, nun sollen noch kleine Büsche in die Erde. Nisan schiebt sich energisch ihr Tuch wieder über die Haare, greift nach der Schaufel und sagt: „Halblang kann ich nicht.“

Es ist ein Oktobertag in der nordirakischen Provinz Niniwe. Über den nahen Sinjar-Bergen liegt ein Schleier aus Staub und die Sonne scheint warm in die Straßen der Kleinstadt Sinuni, dort am Fuß dieser Berge. Die im Garten arbeitenden Frauen haben die Ärmel hochgekrempelt und wischen sich Schweiß von der Stirn. Die temperamentvolle Nisan, von der ihre Freundinnen sagen, sie müsse immer das letzte Wort haben, ist Teil eines Teams aus 21 Frauen und Männern, die in jenen letzten Oktobertagen das kulturelle Zentrum von Sinuni renovieren. Sie nehmen teil an einem Cash-for-Work-Programm der Welthungerhilfe. Diese verteilt in 150 befreiten Dörfern der Region an insgesamt 30.000 Haushalte je 250 Dollar. Die Bedingung: 10 bis 12 Tage müssen die Programmteilnehmer beim Wiederaufbau der Infrastruktur in den zerstörten Dörfern und Städten helfen. Gemeinsam wird Schutt fortgeräumt, werden Fenster eingesetzt, Mauern hochgezogen, Dächer gedeckt oder Gärten angelegt. 

Nisan ist Jesidin, Mitglied einer uralten Glaubensgemeinschaft, deren Siedlungsgebiet der Nordirak ist. Und sie ist „eine Überlebende“, wie man die Jesidinnen hier nennt. Bei dem Überfall des IS auf ihre Städte und Dörfer im August 2014 konnten sie in das Gebirge flüchten, wo sie ausharrten, bis türkische und syrische Kämpfer ihnen auf der Westseite der Berge einen Fluchtweg freischossen.

Dass das Überleben soviel Glück wie Unglück ist, das haben schon die Juden und Jüdinnen thematisiert, die den deutschen Konzentrationslagern entkamen. Davongekommen zu sein, wenn andere sterben mussten, wirft die Frage auf: warum ich? Auch Nisan, Tochter einer Familie mit insgesamt fünf Kindern, zwei Brüdern, drei Schwestern, stellt sich diese Frage. „In den Bergen haben wir so viele sterben sehen. Babys und alte Leute. Mütter mussten ihre sterbenden Kinder am Wegrand zurück lassen, weil sie weiter fliehen mussten. Und manche Mädchen sind von den Felsen gesprungen, weil sie Angst hatten, die Terroristen fangen sie“, erinnert sie sich.

Sinuni vor dem Angriff des IS war eine lebendige Kleinstadt mit 25.000 Einwohnern. Heute ist vieles dort gespenstisch, nur ein Drittel der Bewohner ist bislang zurückgekehrt. Die meisten Häuser stehen leer, viele sind zerstört, auch die Geschäfte. Lediglich an der zentralen Kreuzung ist es so lebendig, wie man es von einer Stadt im arabischen Raum erwartet: An Stangen hängt Kleidung, in hölzernen Kisten leuchten Tomaten und Paprika, Friseure und Barbiere rufen nach Kunden. In einem Geschäft kann man alles kaufen, was man braucht, um in den Kampf zu ziehen – Camouflage-Uniformen, Patronengürtel, Gewehrhalterungen, Rucksack, Feldstecher, Klappmesser. 

Nisan und ihre Familie sind zurückgekehrt, weil sie es in den Flüchtlingscamps nicht aushielten. „So kann man nicht ewig leben“, sagt Nisan und schüttelt vehement den Kopf.

Und auch weil sie wussten, ihr Haus mit den gemalten Ornamenten, mit dem Stuck an den Decken und den Mosaikfliesen steht noch. Dass es von den IS-Kämpfern verschont wurde, scheint Nisan so rätselhaft wie ihr Überleben. In diesem Haus sitzt sie nun bei dem Gespräch, eingerahmt von ihren Schwestern. In einem Käfig plustern sich zwei Wellensittiche und in schmalen silbernen Gläsern servieren die Schwestern Tee, später bringen sie Couscous und Linsen, Gemüse und Huhn. „Ich koche nicht, ich verdiene hier schließlich das Geld“, scherzt Nisan und erntet dafür Knüffe von den Schwestern.

Der IS kam in Nisans letztem Schuljahr, bevor sie ihren Abschluss machen konnte. © Stanislav Krupar
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Bildung ist wichtig, vor allem in krisengebeutelten Ländern. Im Nordirak hat die Welthungerhilfe daher summer schools für jesidische Kinder organisiert. © Stanislav Krupar
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Trümmer in Sinuni: Das Haus dieses jesidischen Bauers wurde 2014 durch den IS zerstört. © Stanislav Krupar
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Nisan hat sich für das Cash-for-work-Projekt gemeldet, weil ihre Brüder beim Militär und ihre Schwestern zu klein sind, um zu arbeiten. „Einer muss ja die Dinge hier in die Hand nehmen“, sagt sie fröhlich. Sie hat sich aber auch gemeldet, weil sie nicht zur Schule gehen und ihren Abschluss machen kann, denn in der Stadt gibt es bislang nur eine arabische, aber keine kurdische weiterführende Schule.  Nisan käme es ohnehin seltsam vor, in ihrem Alter noch die Schulbank zu drücken. „Der IS kam in meinem letzten Schuljahr. Eigentlich hätte ich ja lange meinen Abschluss.“

Die Rückkehr der Vertriebenen an den Ort des Schreckens ist kein einfacher Schritt. Noch fehlt es in Sinuni an vielem – Wasser, Strom, Waren, Schulen – vor allem aber, sagen die Rückkehrer, an Sicherheit. Das Misstrauen der kurdischen Jesiden gegen die arabischen Nachbarn ist groß, weil sie diesen unterstellen, mit dem IS gemeinsame Sache gemacht zu haben. „Damals gab es Männer im Dorf, die haben uns an die Terroristen verraten. Heute sehe ich dieselben Männer in einer Soldatenuniform und ich frage mich, wann werden sie uns wieder verraten“, bringt Nisan die schwierige Situation auf den Punkt.

Dennoch, sagt sie schließlich, sei die Rückkehr richtig gewesen, gäbe es keinen anderen Ort als Heimat. „Wir können nicht in den Lagern bleiben. Wir müssen einen Neuanfang finden.“ Was ihr fehle, sei eine klare Zukunftsperspektive. „Wir alle verdienen mal hier, mal dort ein wenig Geld. Aber wir brauchen richtige Jobs. Ich würde gerne studieren, weiß aber nicht, wie das gehen soll. Die Frage, die wir uns alle stellen, ist: wohin von hier?“

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