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13.04.2015 | Blog

Müll in Madagaskar: Wo bitte geht’s zum Strand?

In der Stadt Tuléar, im Südwesten Madagaskars, stapeln sich Berge aus Müll auf brachliegendem Land. Vor allem der Stadtteil Tsongobory hat sich über die Jahre hinweg zur wilden Mülldeponie entwickelt: Plastiktüten, Essensreste, leere Kartons sowie Feuerholzreste bilden bunte Abfallhaufen.

Eine Landschaft, die von Müll besudelt ist
Die Müllhalde von Tsongobory, einem Stadtteil von Tuléar in Madagaskar. © Welthungerhilfe
Felix Heppe Landesbüro Madagaskar (bis 2015)

Täglich werden hier Tonnen an Müll abgeladen und über mehrere Hektar verteilt. Die Stadtverwaltung verfügt weder über genügend finanzielle Mittel noch über die geeignete Ausrüstung, um eine regelmäßige Müllabfuhr zu gewährleisten. Und so haben viele Haushalte die Abfallentsorgung selbst in die Hand genommen.

Das Ergebnis: Jeder deponiert seinen Müll wie und wo er will. Haushalte entleeren ihre mit Dreck gefüllten Karren, Unternehmen schicken Lastwagen voller Industrieabfälle auf die wenigen noch freien Flächen. Zugleich ist die Müllhalde in Tsongobory zur größten öffentlichen Latrine der Stadt geworden. Ein Großteil der Menschen hat keinen Zugang zu Toiletten. Zudem halten sich die Menschen an die ländlichen Verhaltensregeln und Verbote (fady), die es Familien untersagen, ihre Notdurft in der Nähe der eigenen Wohnstätte zu verrichten. Da ist die Mülldeponie eine willkommene Alternative.

Manchmal muss Mamiosa Reste von der Müllkippe essen

In dieser Umgebung aus Dreck und Kot arbeitet die 15-jährige Mamisoa jeden Tag von morgens bis abends unter der gleißenden Sonne. In der Hitze sucht sie mit anderen Kindern die Müllberge nach etwas Verwertbarem ab. Einige Kinder sammeln alte Plastiktüten, die sie am Ende des Tages an Straßenhändler verkaufen. Sie erzielen damit meist nie mehr als 300 Ariary (umgerechnet 9 Cent) pro Tag. Mamisoa dagegen gräbt mit einem Holzstab nach Kohlestücken, die ihre Mutter zum Reiskochen für das einzige Mahl am Abend benötigt. Ihre Mutter verdient als Putzfrau so wenig, dass sie Mamisoa seit Kindesalter zum Müllsammeln nach Tsongobory schicken muss. Wenn das Geld am Ende des Monats nicht mehr ausreicht, ist Mamisoa gezwungen, Reste von der Müllkippe zu essen.

Einige Kilometer von dem Müllplatz entfernt verkauft Madame Valentine Gemüse auf dem größten Markt Tuléars. Sie ist verärgert. Die Stadt kommt trotz einer monatlichen Gebühr ihrer Säuberungspflicht auf dem Markt nicht nach. Gemeinsam mit den anderen Händlern sorgt sie nun dafür, dass der Markt von Zeit zu Zeit gereinigt wird. Das Ergebnis ist bescheiden: Neben vielen Ständen sammeln sich große, pechschwarze Wasserlachen an, die Insekten und Mikroben als perfekte Brutstätten dienen. Insbesondere an den Fisch- und Fleischständen schwirren unzählige Fliegen um Lebensmittel, die auf blutigen Tischen ausgebreitet liegen. Direkt neben dem Markt werden verdorbene Nahrungsmittel und Gedärme auf eine kleine Halde geworfen. Nicht selten bleiben sie dort monatelang liegen. Eine geregelte Weiterverwertung des organischen Abfalls existiert nicht. Stattdessen finden sich Kinder und Tiere auf den Müllbergen, die Brocken herausfischen.

Abfälle und Exkremente gehörem zum Leben dazu

Mamisoa und Madame Valentine leben und arbeiten in einer Umgebung in der Abfälle, Exkremente und Nahrungsmittel nah beieinander liegen. Sie sind fast täglich diesen Verunreinigungen und krankheitserregenden Bakterien ausgesetzt. Ihre Lebensbedingungen sind keine Einzelfälle, sondern die Regel in madagassischen Großstädten.

Durch die ungefilterte Ablagerung der Abfälle auf der Erde gelangen Schadstoffe in das Grundwasser und verschmutzen die umliegenden Gewässer. Zudem werden Nahrungsmittel auf dem Boden und direkt neben den Abfällen zubereitet. Da mehr als zwei Drittel der Bevölkerung ihr Geschäft im Freien verrichtet, gelangt die Verunreinigung auf unmittelbarem Weg in die Nahrungskette. Die Fliegen übertragen Krankheiten, die sie durch Tier- und Menschenfäzes aufgenommen haben. Kurzum: Der Übergang zwischen der Nahrungsmittelaufnahme und ihrer Ausscheidung ist fließend.

Das hat gravierende Folgen für die Bevölkerung. Knapp 40 Prozent der Bevölkerung Tuléars leiden an Mangelernährung. Die Produktion von Lebensmitteln ist zu gering und ihr Erwerb zu teuer. Das Trinken von verunreinigtem Wasser führt zu tagelangen Durchfallerkrankungen, die sich schnell ausbreiten, da fast die Hälfte der Menschen keine Seife zum Händewaschen benutzt. Insbesondere Kinder sind die Leidtragenden. Jedes Jahr sterben 55.000 Kleinkinder im Südwesten Madagaskars. Wenn wir unseren Umgang mit Abfällen ändern, kann Tuléar eine schöne Stadt werden.

Hygiene-Probleme in den Griff bekommen

Viele Madagassen kennen diese Gefahren. Auch die Gemüsehändlerin Madame Valentine ist sich dieser Gesundheitsrisiken bewusst. Vorsorglich wäscht sie deshalb einmal am Tag ihre Lebensmittel mit sauberem Wasser ab. Sie weiß, dass dies gerade ausreicht, um ihre Produkte vor dem gröbsten Dreck zu schützen. Allein kann sie wenig gegen die Verschmutzung auf dem Markt ausrichten, und für Größeres fehlt ihr das Geld. „Nur wenn wir alle zusammenarbeiten und unser Verhalten beim Umgang mit unseren Lebensmitteln und Abfällen ändern, kann Tuléar eine schöne Stadt werden“, sagt sie.

Wer die Lebensbedingungen der Menschen in Tuléar verbessern will, muss deshalb zu allererst die hygienischen Probleme in den Griff bekommen. Ein funktionierendes Abfallsystem, ein besserer Zugang zu sauberem Trinkwasser und Latrinen, aber auch eine Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion können nachhaltig Ernährungssicherheit schaffen. So kann die Zahl der Erkrankungen gesenkt werden. Genau hier setzt das neue Projekt der Welthungerhilfe in Tuléar an.

Bis 2017 soll es ein neues System zur Abfallbeseitigung geben

In Kooperation mit den städtischen Behörden soll ein System der Abfallbeseitigung etabliert werden. Mindestens 60 Prozent aller Haushalte sollen bis Juli 2017 an eine funktionierende Müllentsorgung angeschlossen sein. Die Anzahl der wilden Mülldeponien wird somit halbiert. Auch die Wasserverfügbarkeit soll durch die Errichtung von Brunnen und Dämmen verbessert und die Bevölkerung in Hygienemaßnahmen zur Prävention von Krankheiten geschult werden. Um die Nahrungsmittelproduktion zu steigern, sieht das Projekt vor, Bauern im Gemüseanbau zu beraten und mit landwirtschaftlichen Materialien auszustatten.

Die Anpflanzung von resistenteren Gemüsesorten und schnell wachsenden Obstbäumen soll zusätzlich zu einer Diversifizierung des Nahrungsangebots beitragen. Insgesamt sollen bis zu 20.000 Personen in den städtischen und ländlichen Gebieten um Tuléar direkt von diesen Maßnahmen profitieren. Vor allem alleinerziehende Frauen mit Kindern, die mit bis zu 100.000 Ariary Einkommen pro Monat (ca. 30 Euro) zu den ärmsten Bevölkerungsgruppen zählen, sollen in das Projekt eingebunden werden. Elementarer Bestandteil des Projektes ist die Inklusion der verschiedensten Interessengruppen. Durch einen fortlaufenden Austausch mit der Zivilgesellschaft, Politikern und Unternehmern sollen alle Meinungen berücksichtigt und eine breite Projektbeteiligung erreicht werden.

Wird sich das Projekt in der Praxis bewähren?

Schon jetzt zeichnet sich ab, dass dies in der Theorie meist einfacher klingt, als es in der Praxis verwirklicht werden kann. Beim Thema Abfallbeseitigung werden bislang die drei vorgeschlagenen, potenziellen Müllhalden außerhalb der Stadt von der Tourismusbranche abgelehnt, weil diese Gegenden für manche Hoteliers von touristischem Wert sind. Überdies hat die Stadt Probleme, ihre zugesagte finanzielle Beteiligung und die Bereitstellung von Personal zu erfüllen. Und auch die Bereitschaft der Menschen, sich ehrenamtlich für hygienische Standards und eine saubere Stadt einzusetzen, ist wenig ausgeprägt.

Gleichwohl zeigt die Lebenswirklichkeit der Menschen wie Mamisoa und Madame Valentine, dass die Notwendigkeit für bessere Leistungen im Bereich der Abfallbeseitigung, der Sanitäranlagen und der landwirtschaftlichen Produktion vorhanden ist. Es muss klar gemacht werden, dass Veränderungen in diesen Bereichen auch zu einer Steigerung der individuellen Lebensqualität führen. Bessere Ernährung und weniger Umweltverschmutzung wirken sich direkt auf die Gesundheit und die finanzielle Situation der Menschen aus, da weniger Ausgaben für Medikamente anfallen und die Arbeitsproduktivität steigt. Diese Argumente können treibende Kräfte sein, die aus einem Wunsch nach einer sauberen Stadt eine handfeste Forderung machen, die von einer breiten Mehrheit der Bevölkerung getragen wird.

Vielleicht kann dann auch der Stadtteil Tsongobory wieder das werden, was er früher einmal war: Eine große, grüne Weide, über die man gemütlich spaziert, um zu Tuléars Strand zu gelangen. Der ist nämlich ganz nah.

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