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25.06.2015 | Blog

Keine Ruhe in Nepal: Nach dem Beben nun der Erdrutsch

Geröll – und Schlammlawinen rissen 160 Häuser mit sich. 55 Menschen starben, 250 Familien verloren ihr ganzes Hab und Gut. Sie sind die jüngsten Opfer des großen Erdbebens.

Eine Frau beschriftet Hilfsgüter wie Decken, Matten und Nahrung
Verteilung von Decken, Matten und Nahrung nach dem Erdrutsch in Taplejung: Susma Kale beschriftet Hilfsgüter für sich und ihre Nachbarn.
Sonja Eberle Team Engagement (bis 2016)

Eigentlich hatten die Bewohner*innen von Taplejung großes Glück. Als am 25. April 2015 in der Nähe der Hauptstadt Kathmandu die Erde bebte, spürte man im knapp 500km entfernten, östlichsten Distrikt des Landes nur ein Zittern. Allerdings wiesen die Berghänge nach dem Beben neue, tiefe Furchen und Spalten auf. Dann kam der Monsun, es regnet zuweilen ganze Nächte durch. Genau diese Mischung aus Regen, Erosionsschäden und Nachbeben führte in der Nacht zum 11. Juni zu einem gewaltigen Erdrutsch an den umliegenden Berghängen Taplejungs, wo die Welthungerhilfe schon vor dem Erdbeben mit einem Entwicklungsprojekt aktiv war.

Am Morgen nach dem Erdrutsch haben wir beschlossen, auch den jüngsten Erdbebenopfern zu helfen. Noch am selben Tag einigten sich die örtliche Distriktverwaltung, die Polizei, das Rote Kreuz und unser lokaler Partner Rural Reconstruction Nepal (RRN) – vor Ort mit Büro und fünf motivierten Sozialarbeiter*innen – auf die gemeinsame Verteilungsaktion.

Und so machte ich mich mit meinem Welthungerhilfe-Kollegen Surendra Gautam auf den Weg.  Mit „Buddha Air“ flogen wir ins tropische Flachland, nach Badrahpur an der indischen Grenze. Dort holte uns der junge, schüchterne Projektbuchhalter Sarog ab, der eher flüstert als spricht. Dann ging es im Jeep nur noch bergan in den hohen Norden: Wir überwanden 240 Kilometer schlechte Straße, unzählige Serpentinen und mehreren Pässe mit bis zu 2.400 Höhenmeter um am folgenden Tag an unser Ziel Taplejung zu gelangen.

Transport mit Hindernissen

Auf der Fahrt erklärte mir Surendra, warum die Beschaffung der Hilfsgüter für Taplejung nicht so leicht ist:

Alle Nahrungsvorräte, Decken und Matten waren bereits zwei Monate zuvor aus der Region abgerufen worden, um sie an die Erdbebenopfern zu verteilen. Wir mussten also unser Material aus Badrahpur bestellen. Deswegen nehmen unsere Hilfsgüter den gleichen, mühsamen Weg wie wir.

Auch deswegen hatte uns Sarog, der Buchhalter, persönlich abgeholt. In Badraphur hatte er tags zuvor die Beladung der Ware auf Lastwagen und deren Abfahrt kontrolliert: Auf zwei LKWs waren für jede Familie schon zwei Doppel-Isomatten, zwei Doppel-Wolldecken, fünf Liter Öl, fünf Kilogramm Salz und 15 Kilogramm Dal auf der Fahrt zur Verteilung.

Wir waren bester Stimmung, wähnten uns kurz vor dem Ziel. Als wir etwa 60 Kilometer vor Taplejung auf einen der beiden LKW, den zerknirschten Fahrer sowie sieben Tonnen unserer Hilfsgüter –  Linsen, Salz und Öl – trafen. Die Stimmung kippte schnell. Unser Buchhalter wurde ganz bleich und mein gutmütiger Kollege Surendra sprach erstaunlich scharf, allerdings auf Nepali, und telefonierte anschließend lange.

Da ich nichts verstand, übersetzte Sarog flüsternd die Zusammenhänge:

Seine Bremsen sind runtergefahren, neue hat der Fahrer in Badraphur bestellt. Es wird 7 Stunden dauern, bis die Ersatzteile hier sind! Die Fahrer aus dem Tal wollen nicht hoch nach Taplejung fahren – sie kennen sich nicht gut genug mit den engen Serpentinenstraßen aus. Dann hatten wir endlich ein Unternehmen gefunden, das zwei Laster mit Fahrer für unseren Hilfstransport stellte. Doch es gab wieder Schwierigkeiten. Und das ein Tag bevor die Verteilung stattfinden soll!

Innerhalb einer Stunde hatte Surendra aus dem direkten Umland einen weiteren Lastwagen sowie einen Fahrer organisiert. Sarog seufzte. Da er bei seiner Problemladung bleiben wollte, setzten wir unsere Weiterfahrt ohne ihn fort.  Zur Mittagszeit kamen wir in Taplejung an, wo man bereits mit den Vorbereitungen begonnen hatte: Unsere fünf Projektmitarbeiter*innen schnitten Isomatten zu und entluden schwere Deckenpakete von dem Laster, der sein Ziel erreichte.

Verteilung an der Hängebrücke

Surendra und ich checkten im einzigen Hotel der Stadt ein und stiegen auf die Dachterrasse, um uns ein Bild von der Katastrophe zu machen. Die breiten und tiefen Furchen am Gegenhang waren gut zu erkennen. Dazwischen glänzten viele Wellblechdächer in der grellen Sonne. Surendra, der hier in der Nähe groß geworden ist, erkennt die Berghänge seiner Kindheit nicht wieder. Nach kurzem Schweigen sagte er:

Weißt Du, Sonja, ein Erdbeben ist schlimm und gefährlich, vielleicht wird das eigene Haus zerstört. Glaub mir, ich hasse Erdbeben. Aber nach einem Beben kann man seine Habseligkeiten wieder ausgraben. Viele Menschen in Kathmandu haben das gemacht. Aber bei einem Erdrutsch? Wenn so eine Schlammlawine das Haus 600 Meter mit ins Tal reißt, kann man nur das retten, was man am Leib trägt.

Abends trafen endlich auch Sarog und die restlichen Grundnahrungsmittel in Taplejung ein. Da es schon spät war, mussten die vier Traktoren, mit denen es zur Verteilung gehen sollte, mit Taschenlampen beladen werden. Schließlich besprachen wir noch Ablauf und Vorgehen: In zwei Stationen sollten die Menschen unten am Fluss erst Reis vom Roten Kreuz, dann Nahrungsmittel und Decken von uns erhalten. Bis zum Platz bei der Hängebrücke ist der Pfad noch befahrbar – also ist das der einzig mögliche Verteilungsort. Weil die Menschen teilweise mehrere Stunden dorthin wandern müssen, ist die Verteilung für den ganzen Tag angesetzt. Glücklicherweise hatten Helikopter bereits vor vier Tagen Zeltplanen und Seifen abgeworfen, was unsere Aktion erleichterte.

Jeder hilft mit

Am Tag der Verteilung standen wir früh auf, zur besagten Hängebrücke brauchen wir zwei Stunden. Dort bauten wir unsere Stationen auf und portionierten Dal. Dann kamen die Menschen über die Hängebrücke, vor allem Frauen und Jugendliche. Sie hatten Tragetücher oder alte Reissäcke dabei und setzen sich in den Schatten, denn bereits am Vormittag war es sehr heiß. Wir riefen Namen auf und vergaben Coupons. Plötzlich war alles auf den Beinen. Für mich schienen die Abläufe zunächst unverständlich. Nach einiger Zeit aber erkannte ich: Auch Menschen, deren Namen noch nicht aufgerufen worden war, halfen unseren Mitarbeitenden beim Ausstatten ihrer Nachbarn mit Reissäcken oder Decken. Auch die örtliche Polizei half beim Beschriften der Säcke. Außerdem erkannte ich eine „Lagerbildung“: Menschen trugen Nahrungsmittel, Decken und Matten zurück zu wartenden Nachbar*innen und bildeten dort Materialhaufen. Ich fragte mich, warum sie nicht mit ihren Sachen den Rückweg antraten.

Xhoxhang und ihre Nachbarinnen: Leben wie auf einer Insel

Auf einer Treppe oberhalb der Verteilungsstation wartete eine Gruppe Frauen. Hier war es schattig und man behielt einen guten Überblick. Ich gesellte mich zu ihnen. Xhoxhang stellte mir ihre Nachbarinnen vor. Sie erzählte von der Nacht der Katastrophe, vom großen Lärm und dem großen Entsetzen danach. Von den 20 Häusern ihrer Nachbarschaft fehlen jetzt fünf – sie sind einfach nicht mehr da.

Sechs weitere seien seit der Lawine unter Felsbrocken begraben. Nun sei es, als lebe sie auf einer Insel – rechts und links von ihrem Haus verlaufen Lawinenfurchen. Sie fühle sich gar nicht wohl. Mir wurde schlagartig klar, dass ich weiß, wo Xhoxhang wohnt: Ich habe die Wellblechhütten am Vorabend von der Dachterrasse aus gesehen.

Phulmaya hat beim Erdrutsch ihren Sohn verloren. Als ihr Haus ins Tal abgerutscht sei, habe er noch drinnen geschlafen. Ihre dreijährige Tochter hat überlebt, ebenso ihr Ehemann. Er war am Tag der Verteilung im Krankenhaus, denn man hatte seinen Bruder schwerverletzt aus den Trümmern seines zerstörten Hauses geborgen. Phulmaya war ganz alleine zur Verteilung kommen. Ich fragte sie, wie sie denn die schweren Säcke Reis und Linsen alleine nach Hause tragen wolle. Es war das erste und einzige Mal, dass sie bei unserem Gespräch lächelte: Sie würde den größten Teil auf dem Weg nach oben verstecken. Schließlich dauert der Weg zurück für sie drei Stunden.

Und dann war da noch Susma Kale Sherpa. Ich entdeckte sie inmitten eines sehr großen Berges Hilfsgüter. Mit einigen Angehörigen beschriftete sie Reissäcke und Isomatten und schien alle Umstehenden zu organisieren. Sie erzählte, sie sei seit 8 Uhr morgens mit ihrer Familie unterwegs. Die tiefen Furchen im Berg hätten sie zu Umwegen gezwungen. Susmas Siedlung bestand aus 23 Häusern, fünf davon sind während des Erdrutsches abgesackt. Ihr Zuhause sei zerstört, ein großer Felsbrocken habe zwei Außenwände unter sich begraben. Sie sagte:

Wir haben alles verloren. Wir sind einfache Bauern, aber nun haben wir nicht einmal mehr unser Reisfeld. Ich würde gerne auf diese Seite des Berges ziehen. Hier gibt es einfach mehr – Straßen und eine weiterführende Schule für die Kinder. Aber ich versorge meine Schwiegereltern, sie sind alt und brauchen uns.

Wie die anderen schien auch Susma Kale keine Eile zu haben. Sie schien einfach mit ihren Nachbar*innen und den Hilfsgütern zu warten. Ich fragte, warum sie denn nun nicht den Rückweg antrete. Sie antwortete:

Wir wandern etwa neun Stunden hoch zu unserem Haus. Die Strecke werden wir heute nicht mehr schaffen. Deswegen schlafen wir heute Nacht hier am Fluss und brechen dann morgen ganz früh auf.

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