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10.10.2016 | Blog

Wie Haiti nach Hurrikan Matthew leidet

Hurrikan Matthew hat Leben zerstört, Häuser und Tiere verweht. Erschütternde Beobachtungen wenige Tage nach der Katastrophe.

Ein Baum ist beinahe auf ein Haus gefallen.
Auf Haiti - wie hier im Department Nippes - hat Matthew Bäume entwurzelt und Häuser abgedeckt. © Thomas Rommel
Thomas Rommel Freier Journalist

Haiti – die Perle der Antillen. Kaum vorstellbar, dass hier vor gerade mal fünf Tagen Weltuntergangsstimmung herrschte. Die Landschaft die sich vor mir ausbreitet, als wir die Serpentinen hinabfahren, könnte kein Bilderbuch schöner abbilden. Sanfte grüne Hänge, einzelne herausragende felsige Hügel, in weiter Ferne Bergketten. In der Bucht vor uns liegt Miragoane, eine kleine Stadt direkt am blau strahlenden karibischen Meer. Am 4. Oktober traf der Hurrikan Matthew auf Haiti und damit auch auf Miragoane. Ein Hurrikan der Kategorie 4. Heftige Winde peitschten sintflutartigen Regen mit 230 Kilometer in der Stunde. Der Sturm riss Bäume aus, Dächer von den Häusern. Ziegen und Schafe, Hühner und Hunde verwehten auf Nimmerwiedersehen.

Dieser Sturm zog nicht einfach vorbei

Von August bis Oktober ist Hurrikan-Saison auf Haiti, die Menschen erleben jedes Jahr in diesen Monaten sehr starke Winde. Es gibt ein Hurrikan-Frühwarnsystem, die Menschen waren deshalb vor Matthew gewarnt. Trotzdem haben manche – anstatt in eine Notunterkunft zu gehen –  ihre Häuser nicht verlassen. Sie hatten die Hoffnung, dass nach zwei Stunden alles vorbei ist und wieder seinen gewohnten Gang nimmt. Das Vorbeiziehen des Hurrikans einfach abzuwarten, hat diesmal nicht funktioniert. Matthew fegte mit unglaublicher Geschwindigkeit über Haiti.

Einem gigantischen Mahlwerk gleich wanderte der Sturm von Süden nach Norden. Die Wellblechplatten der Hütten brachen unter den permanenten Schlägen des Sturms, der Regen verwandelte sich in reißende Flüsse und schoss durch Städte und Dörfer. Spätestens zu diesem Zeitpunkt erkannten jene, die zuhause gebliebenen waren, dass sie den Sturm unterschätzt hatten. Was nun? Das Dach ist weg, die Wände gebrochen und noch immer schleudert der Wind Holz, Wellblech und Äste durch die Luft. Viele gingen das Wagnis ein, sich zu stabileren Häusern durchzuschlagen. Sie suchten Zuflucht in Kirchen, Schulen oder bei Menschen, die in einem Haus aus Beton wohnen.

Ein Flachdachhaus aus Beton.
Häuser aus Beton gelten zu Sturmzeiten als sicher. In diesem übernachten zur Zeit 32 Personen. © Thomas Rommel

Strenge Regeln sollen Anarchie im Hilfe leisten vorbeugen

Fünf Tage nach dem Sturm sitze ich im Katastrophenschutzamt des Departements Nippes. Der Koordinator des Katastrophenschutzes spricht zu Vertretern von mehreren Hilfsorganisationen, welche in den letzten Tagen eingetroffen sind und in der Region arbeiten wollen. Er betont, dass keine Organisation aktiv werden darf, ohne sich vorher mit den staatlichen Stellen zu koordinieren. Jede Organisation muss ihre offiziellen Papiere vorlegen, soll einen Plan über die Hilfsmaßnahmen vorlegen und genau angeben, wo an wen was verteilt wird. Ist das Schikane? Behinderung der Hilfsleistungen? Nein, weit gefehlt: Die haitianische Regierung hat aus den oft kritisierten Ereignissen nach dem Erdbeben 2010 gelernt. Mit strengen Regeln versucht sie, einer Anarchie beim Hilfe leisten vorzubeugen. Durch gute Koordination soll möglichst vielen Menschen Unterstützung zukommen.

Im Lager des Katastrophenschutzes sind am Morgen erste Lieferungen von Nahrungsmitteln angekommen. Diese sollen nun teilweise für die Verteilung an vier Notunterkünfte, in denen circa 600 Menschen leben, aufgeladen werden. Die Zivilschutzbeamten zählen ab, notieren, Eingang, Ausgang, was bleibt. Die Lagerarbeiter nehmen ihre Arbeit auf. Nach einiger Zeit beginnt die Verteilung. Die Menschen bekommen Reis, Bohnen, Salz, Sardinen und Kondensmilch.  Die Verteilung geschieht neben der Kirche. In der Kirche selbst arbeiten in einem kleinen Raum sechs Frauen. Teller werden hin und hergereicht, sie werden gefüllt mit einer Kelle Reis, Soße mit Bohnen, Fisch. Zwei ehrenamtliche Mitarbeiter tragen das Essen in das Kirchenschiff.

Reis, Soße mit Bohnen und Fisch für die Opfer

Frauen schöpfen Reis und Fisch auf die Teller. © Thomas Rommel
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Das Essen wird auf großen Tabletts gebracht. © Thomas Rommel
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Viele haben beim Sturm alles verloren. Auch die Kochstelle. Sie sind auf Nahrungsmittelverteilungen angewiesen. © Thomas Rommel
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Hier warten auf vollbesetzten Bänken hungrige Menschen. Sie haben keinen Ort mehr zum Schlafen. Ihre Häuser oder Hausdächer wurden zerstört, sie haben Felder und Vieh verloren. Nachts räumen die Menschen die Bänke beiseite und legen sich auf feuchten Beton des Kirchenbodens schlafen.

„Sie hat ihren Mann verloren. Was soll ich da sagen?“

Während ich durch die Reihen laufe und versuche, einen guten Winkel, ein gutes Motiv für ein Foto zu finden, sehe ich eine junge Frau. Sie hält ein Baby in ihren Armen und lächelt. Sie sitzt nur halb auf der Bank, während neben ihr drei kleine Jungs, vielleicht im Alter zwischen drei und sechs Jahren, auf die Teller blicken, die verteilt werden. Die Frau gibt die Teller an die Jungs weiter. Sie lassen es sich umgehend schmecken. „Sind das ihre Söhne?“, frage ich. „Ja“, sagt sie. Ich versuche, ein Gespräch mit ihr anzufangen. Ich bin neugierig, wie es hier war, als der Hurrikan durchzog.

Eine Mutter wartet mit ihren Kindern auf Essen.
Diese Frau wartet mit ihren Kindern auf das erste Essen nach dem Sturm. Ihr Mann kam bei der Katastrophe um. © Thomas Rommel

Denn trotz der Bilder, trotz der Analysen im Wetterbericht – eine wirkliche Vorstellung wie es ist, einen Hurrikan zu erleben, habe ich nicht. Da sie Kreol und ich französisch spreche, müssen wir etwas improvisieren. Aber wir verstehen uns weitgehend. Was ich verstanden habe: Sie ist Mutter von den vier Kindern, hat ihr Haus verloren und somit auch das meiste, was darin war. Und dass ihr Mann gestorben ist, sagt sie. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich würde gerne etwas sagen. Aber was? Da sitzt sie nun, und wartet auf ihre erste warme Mahlzeit seit fünf Tagen, bevor sie sich mit ihren vier Kindern auf dem Betonboden zur Nacht bettet. Ich sage nichts.

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