Syrien: Millionen Menschen benötigen humanitäre Hilfe
Adib Abokhors arbeitet für die Welthungerhilfe-Büro in Aʿzāz in Syrien. Er hat sein Heimatland nie verlassen, wurde im Krieg schwer verletzt und möchte jetzt dazu beitragen sein verwüstetes Land wiederaufzubauen. Im Interview berichtet er von Freudentränen nach dem Machtwechsel, aber auch vom enormen Bedarf an humanitärer Hilfe in Syrien.
Wie geht es Ihnen, Adib Abokhors?
Ich bin, wie die allermeisten Syrer*innen, unglaublich glücklich über den Machtwechsel in Syrien nach über 13 Jahren Krieg. Auf den Straßen weinen Leute vor Glück und liegen sich in den Armen. Wir haben das Gefühl, dass wir seit ein paar Tagen in einem Traum leben.
Wie ist die aktuelle Lage in Syrien?
Unübersichtlich und unbeständig. Wir hoffen jedoch, dass sich die Lage schnell stabilisiert.
Wie viele Menschen sind derzeit in Syrien auf Humanitäre Hilfe angewiesen?
Nach über 13 Jahren Krieg sind 16,7 Millionen Einwohner*innen Syriens auf humanitäre Hilfe angewiesen, das entspricht zwei Drittel der gesamten Bevölkerung. Etwa 13 Millionen Menschen, rund die Hälfte der Bevölkerung, können sich ohne Hilfe nicht ausreichend ernähren.
Steigende Lebensmittelpreise und die kalten Wintermonate erschweren die Lage in Syrien
Unter welchen Problemen leiden die Menschen in Syrien derzeit?
Die ohnehin schwierige Situation wird durch eine tiefe Wirtschaftskrise, steigende Lebensmittelpreise und den massenhaften Verlust von Arbeitsplätzen weiter verschärft. Angestellte erhalten umgerechnet rund 25 Dollar Gehalt pro Monat. Aber schon ein 600 Gramm-Brot kostet ungefähr einen Dollar. Zerstörte Schulen, Krankenhäuser und Wassersysteme erschweren den Menschen den Zugang zu Bildung, medizinischer Versorgung und sauberem Wasser. Viele Familien leben weiterhin in Unsicherheit und blicken einer ungewissen Zukunft entgegen. Gewalt und Vertreibung prägen weiterhin in einigen Regionen den Alltag vieler Familien.
Wir stehen den Menschen in Syrien beim Neuanfang zur Seite.
Welche Herausforderungen bringt der Winter mit sich?
Weil ihre Häuser komplett zerstört wurden, leben Millionen von Binnenvertriebenen in provisorischen Unterkünften, die kaum Schutz vor eisigen Temperaturen, Schnee und Regen bieten. Das Risiko von Krankheiten wie Atemwegsinfektionen ist vor allem bei Kindern und älteren Menschen entsprechend hoch. Und jetzt kommen noch die rückkehrenden Familien hinzu.
Wer leidet am meisten?
Alle Menschen leiden unter den Folgen von mehr als 13 Jahren Krieg. Aber wie immer leiden Kinder, schwangere Frauen, Alte und chronisch Kranke am meisten.
Wie hilft die Welthungerhilfe derzeit den Menschen in Syrien?
Die Welthungerhilfe stellt und repariert Notunterkünfte, installiert und wartet sanitäre Anlagen, verteilt Decken, Kochutensilien und Hygienepaketen und führt Hygieneschulungen durch. Wir geben in Flüchtlingscamps Nahrungsmittelpakete aus und unterstützen Vertriebene mit Bargeld, damit sie ihre zerstörten Häuser reparieren und Kleidung und Heizmaterial kaufen können. Im letzten Jahr haben wir mit einem Budget von 23,3 Millionen Euro rund eine Million Menschen erreicht.
Soll die Hilfe jetzt ausgeweitet werden?
Ja, aber wie alle sind wir von den Entwicklungen der letzten Tage überrascht worden. Wir arbeiten jetzt unter Hochdruck daran, wie wir auch in den befreiten Landesteilen Hilfe leisten und so noch mehr Menschen erreichen können. Schon in diesem Monat wollen wir zusätzlich Familien, die vor den jüngsten Kämpfen flüchten mussten, mit Bargeld, Hygienesets, Zelten und warmen Decken versorgen. Zusammen mit unserer lokalen Partnerorganisation Shafak verteilen wir zudem in der Provinz Aleppo Brot an besonders bedürftige Familien.
Mit wie vielen Helfer*innen ist die Welthungerhilfe in Syrien im Einsatz?
Wir haben derzeit rund 90 feste und 60 freie Mitarbeitende. Mit der Ausweitung unserer Aktivitäten wird die Zahl sicher steigen. Derzeit arbeiten in Syrien nur Syrer*innen für die Welthungerhilfe. Viele von ihnen hätten während des Krieges fliehen können, doch sie sind im Land geblieben, um Menschen in Not zu helfen.
Die Anzahl der Menschen in Not wird steigen, denn das Land ist nach 13 Jahren Krieg verwüstet. Es gibt Gegenden, in denen stehen kein Haus und kein Baum mehr.
Adib Abokhors Kommunikationsexperte der Welthungerhilfe in SyrienWie gefährlich ist es jetzt, in Syrien Hilfe zu leisten?
Es ist immer noch gefährlich, in Syrien Hilfe zu leisten. Aber seit dem Machtwechsel ist es auf jeden Fall einfacher und sicherer geworden. Jetzt kann die Hilfe auch in Landesteilen, die bislang von Assad kontrolliert wurden, dort ankommen, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Die Welthungerhilfe hat nicht in den von Assad kontrollierten Gebieten gearbeitet.
Fokus auf humanitäre Hilfe und den Wiederaufbau
Werden in Zukunft in Syrien mehr oder weniger Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen sein?
Die Anzahl der Menschen in Not wird steigen, denn das Land ist nach 13 Jahren Krieg verwüstet. Es gibt Gegenden, in denen stehen kein Haus und kein Baum mehr. Hinzu kommt, dass nach dem Machtwechsel viele Menschen in ihre Heimat zurückkehren werden.
Denkt die Welthungerhilfe schon an den Wiederaufbau?
Die Welthungerhilfe plant schon jetzt, von der Nothilfe zu mittel- und langfristigen Entwicklungsprojekten überzugehen, um den Wiederaufbau der Infrastruktur zu unterstützen und Lebensgrundlagen für die Menschen wiederherzustellen. Dies erfordert jedoch eine stabile Sicherheitslage und ausreichende finanzielle Mittel. Auf jeden Fall muss auch dafür gesorgt werden, dass Schulen schnell wiederaufgebaut werden, damit in Syrien nicht eine verlorene Generation heranwächst.
Gibt es genug Mittel für humanitäre Hilfe und Wiederaufbau?
Die UN veranschlagten für die humanitäre Hilfe in Syrien für das Jahr 2024 rund 4,07 Milliarden US-Dollar. Davon sind bislang jedoch nur 31,6 Prozent finanziert. Die aktuelle Situation wird voraussichtlich dazu führen, dass der Bedarf weiter steigt, wodurch sich die Finanzierungslücke noch vergrößern dürfte.
Das Interview mit unserem Kollegen Adib Abokhors führte der Journalist Philipp Hedemann.