Zur Hauptnavigation springen Zur Suche springen Zum Seiteninhalt springen Zum Footer springen

30.07.2019 | Blog

Große Träume eines kleinen Mädchens

Muhammed Diyab ist selbst aus Syrien geflohen, heute arbeitet er für die Welthungerhilfe in der Türkei und unterstützt syrische Flüchtlinge bei ihrem Neuanfang. Ein Schicksal hat ihn dabei ganz besonders bewegt: Die Geschichte der 15-jährigen Nasaem und ihrer Familie.

Eine Frau mit einem Kopftuch und ein junges Mädchen.
Nasaem und ihre Mutter. © Muhammed Diyab
Muhammed Diyab Landesbüro Syrien/Türkei

Es ist fast acht Jahre her, dass der Bürgerkrieg in Syrien ausgebrochen ist. Als die Kämpfe in meiner Heimatstadt begannen, hatte ich keine andere Wahl: Ich musste meine Heimat, meine Freunde, meine Eltern, meine Geschwister und mein bescheidenes Haus im nördlichen Idlib verlassen. Es war nicht einfach für mich, all meinen Lieben den Rücken zu kehren, mit der Ungewissheit, ob ich sie jemals wiedersehen werde. Aber es gab einen guten Grund für meine Flucht: Mein kleiner Sohn, der sich vor dem Knall der Kugeln fürchtete. Ich wusste, dass unser Land kein sicherer Ort mehr war, in dem er leben und aufwachsen konnte.

Syrer*innen eine Stimme geben

Seit 2011 dauert der bewaffnete Konflikt in Syrien an, mit katastrophalen Folgen für die Menschen sowie die soziale und wirtschaftliche Situation im Land.

Im Februar 2012 floh ich mit meiner Frau und meinem Sohn in die Türkei. Wir haben viel Zeit in Flüchtlingscamp verbracht. Zuerst in Kilis für ein Jahr, dann zogen wir nach Adana und schließlich in das Flüchtlingscamp in Urfa. Zwei Jahre lang lebten meine Familie und ich in einem Zelt. Die heißen Sommer und bitterkalten Winter, das Ausharren in einer scheinbar ausweglosen Situation in überfüllten Camps, teilweise ohne Toiletten und Duschen und mit sehr knappen Nahrungsmittelrationen – Das alles hat uns emotional sehr zugesetzt. Seitdem wusste ich, dass ich Syrer*innen wie mir eine Stimme geben und das Bewusstsein für ihr Leid schärfen möchte. Es war mein Ziel, denen zu helfen, die unter dem langjährigen Konflikt in Syrien am meisten leiden.

Im September 2015 begann ich bei der Welthungerhilfe zu arbeiten. Mittlerweile bearbeiten wir auch besonders komplizierte Fälle, wie die Betreuung von Einzelschicksalen und die Unterstützung von Menschen mit Behinderung.

Die Geschichte von Nasaem aus Azaz

Ein Fall, der mich besonders berührte, schien lange Zeit unlösbar. Es ist der Fall von Nasaem, einem jungen Mädchen aus Syrien. Sie ist 15 Jahre alt und wurde in Azaz geboren.

Nasaem leidet an einer Wachstumsstörung als Folge einer Mangelernährung im Kindesalter. Sie ist für ihr Alter viel zu klein und weist Lerndefizite auf.

In Syrien erhielt Nasaem fünf Jahre lang hormonelle Injektionen, doch 2012 erreichte der Konflikt auch ihre Heimatstadt. Aufgrund der zahlreichen Angriffe auf Krankenhäuser konnte ihre Behandlung nicht mehr fortgesetzt werden. Ihre Mutter riskierte für eine weitere Arzneiration sogar ihr Leben: Um die Stadt Aleppo zu erreichen, wo sie neue Injektionen erhalten konnte, wagte sie den gefährlichen Grenzübergang zwischen Regime und Opposition. Ein Mädchen wurde dabei vor ihren Augen von Scharfschützen erschossen. „Ich begann, in Panik einfach nur noch um mein Leben zu rennen,“ erzählte sie mir später unter Tränen. „Ich wusste in diesem Moment: Entweder kehre ich mit den Medikamenten zu meiner Tochter zurück, oder ich sehe meine Familie nie wieder.“ Sie erreichte letztendlich Aleppo wohlbehalten und konnte dort Hormoninjektionen für einen Monat besorgen.

Als das Leben der Familie in Syrien fast unmöglich wurde und sich ihre Stadt allmählich in ein Schlachtfeld verwandelte, beschloss die Familie, in die Türkei zu fliehen. Als sich die Familie in der türkischen Stadt Kilis niedergelassen hatte, suchte die Mutter direkt nach medizinischer Unterstützung für ihre Tochter.

Sowohl im staatlichen Krankenhaus von Kilis als auch in Gaziantep erhielt sie nur Nahrungsergänzungsmittel, weil Hormonspritzen sehr teuer sind und die Familie sie nicht bezahlen konnte. Die Rücklagen der Familie waren zu dieser Zeit aber bereits fast aufgebraucht. 

Die Welthungerhilfe nimmt den Fall von Nasaem auf

Etwa 110.000 Syrer*innen suchen in den Flüchtlingscamps in Azaz im Norden des Landes Schutz. Die Welthungerhilfe unterstützt dort Familien mit Nahrungsmittelpaketen.

Mehr erfahren

Deshalb fing die Mutter an, ihr Hab und Gut zu verkaufen und sich Geld zu leihen. Doch die Ressourcen schwanden dahin, die Schulden stiegen. Und immer noch konnte ihr niemand helfen, ein ärztliches Rezept für die Injektionen zu erhalten. Eines Tages, als sie ohne Erfolg bei einer humanitären Organisation vorsprach und ihre Situation schilderte, wurde ein Mitarbeiter auf sie aufmerksam. Er sagte ihr, dass die Welthungerhilfe seit kurzem auch Einzelpersonen unterstütze. Noch am gleichen Tag kam sie zu uns ins Büro und wir nahmen den Fall ihrer Tochter an.

Zuerst schickten wir sie mit einem Übersetzer ins staatliche Krankenhaus. Doch leider konnte kein Rezept für die Hormonspritzen ausgestellt werden. Wir versuchten es mehrmals, ich begleitete Nasaem und ihre Mutter auch persönlich, aber immer ohne Erfolg. Die Krankenhäuser sind meist überlastet und behandeln deshalb vorrangig Patient*innen mit lebensbedrohlichen Krankheiten. Was mich dabei am meisten beeindruckte, war Nasaems Art, mit der ausweglosen Situation umzugehen. Einmal weinte sie aus Hoffnungslosigkeit, dann aber wischte sie sich ihre Tränen weg und sagte zu mir: „Wir haben schon andere Hürden überwunden, ich habe noch Hoffnung – es wird bestimmt noch ein Wunder geschehen".

Ein letzter Versuch: Das Gesundheitszentrum von Kilis

Schließlich hörten wir, dass ein neues Gesundheitszentrum in der Stadt eröffnet wurde. Ein letzter Versuch war es wert: Ich rief sofort die Mutter an und bat sie, beim Gesundheitszentrum vorzusprechen. Vielleicht bekommen wir dieses Mal den Arztbericht.

Als ich auf die Rückmeldung von Nasaem und ihrer Mutter wartete, gingen mir die Worte des Mädchens nicht mehr aus dem Kopf. Offen gesagt gaben sie mir Hoffnung, dass ihre Geschichte doch noch ein gutes Ende nehmen würde. Nach etwa anderthalb Stunden rief mich die Mutter an und sagte mir jauchzend, dass ihr ein offizielles Rezept zugesichert wurde. Ich sprang vor Freude auf: "Endlich haben wir es geschafft!"

Ein Mann mit einer Plastiktüte, gegenüber eine Frau mit zwei Arzneimitteln in den Händen.
Endlich neue Hormoninjektionen für Nasaem. © Muhammed Diyab

Ungefähr anderthalb Monate später erzählte mir die Mutter, dass das Ergebnis der Injektionen beeindruckend sei: "Es ist wie Zauberei, meine Tochter wuchs ganze fünf Zentimeter. Was für ein großer Segen", sagte sie. Auch Nasaem sei sehr glücklich. Die fünf Zentimeter geben dem Mädchen Selbstvertrauen. Sie erzählte mir, dass sich seitdem ihre Schulnoten verbessert haben und dass sie mehrere neue Freund*innen in der Schule hatte. Nasaem und ihre Mutter sind für mich zu einem großen Beispiel geworden, was Geduld, Wille, Entschlossenheit, Hoffnung und Erfolg betrifft. Ehrlich gesagt, haben sie mich gelehrt, dass wir mit Hoffnung das Unmögliche möglich machen können.  

  • Die URL wurde in die Zwischenablage kopiert

Das könnte Sie auch interessieren