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17.08.2020 | Blog

Syrische Flüchtlings­camps: Es fehlt an allem

Rund 70 Prozent der Menschen im Nordwesten Syriens können nur mit humanitärer Hilfe überleben. Nach erneuten Kampfhandlungen Anfang des Jahres bedeutet die Coronavirus-Pandemie nun die Krise in der Krise.

Geflüchtete tragen Tüten mit Fladenbrot von einer Verteilung.
Brotverteilung in einem Flüchtlingscamp in Idlib in Zusammenarbeit mit der Partnerorganisation HIHFAD (2019). © HIHFAD
Jessica Kühnle Landesbüro Türkei/Syrien/Irak

Ende letzten bis Anfang dieses Jahres erlebte Syrien die schlimmste Flüchtlingskrise seit Ausbruch des Konflikts vor neun Jahren. Innerhalb von vier Monaten sind im Nordwesten des Landes fast eine Millionen Menschen geflohen. Im Nordwesten Syriens leben 4,1 Millionen Menschen, davon sind 2,8 Millionen auf lebenswichtige humanitäre Hilfe angewiesen. Die Kampfhandlungen Anfang des Jahres und der Zusammenbruch der Wirtschaft verschärfen die Not und das Leid der Menschen immens. Hinzu kommt die folgenschwere Entscheidung des UN Sicherheitsrats Mitte Juli, einen weiteren Grenzübergang zur Türkei für humanitäre Hilfe zu schließen – zu einem besonders schwierigen Zeitpunkt: Als das Coronavirus die Region erreichte.

Jessica Kühnle, Expert Communications, sprach mit Dr. Konstantin Witschel, Expert for Programme Coordination in der Türkei, über die Situation im Nordwesten Syriens. 

Jessica Kühnle: Wie sind die Lebensbedingungen in den Camps im Nordwesten Syriens zurzeit? 

Konstantin Witschel: Die derzeitigen Lebensbedingungen in den Camps sind katastrophal. Als Folge der intensiven Kampfhandlungen, des Heranrückens der Regimetruppen und der russischen Luftangriffe sind Anfang des Jahres viele weitere Menschen geflohen: Rund 400.000 nach A’zaz im Norden von Aleppo und etwa 600.000 in die wenigen sicheren Gebiete im Westen der Provinz Idlib. Die Situation in den Camps war bereits vor der Ankunft der neuen Binnenvertriebenen prekär. In kürzester Zeit mussten eine weitere Million Menschen versorgt werden. Wer keinen Platz mehr in den Camps fand, musste auf Äckern oder am Straßenrand eine provisorische Unterkunft aufbauen – ohne Zugang zu sanitären Anlagen, Trinkwasser und humanitärer Hilfe. Und noch immer, einige Monate später, leben viele Binnenvertriebene unter völlig menschenunwürdigen Bedingungen. Ihre Zelte und Verschläge schützen sie nicht vor den heißen Temperaturen und viele der Menschen können nicht angemessen versorgt werden. 

Porträtfoto von Konstantin Witschel

Viele Menschen stehen vor der Entscheidung: Trinke ich das wenige Wasser, was mir zur Verfügung steht, oder wasche ich mir damit die Hände?

Konstantin Witschel Expert for Programme Coordination in der Türkei

Jessica Kühnle: Was bedeutet die Bekanntmachung der ersten bestätigten Corona-Fälle im Nordwesten von Syrien für die Menschen in den Camps?  

Konstantin Witschel: Die Pandemie trifft die Region zum schlimmstmöglichen Zeitpunkt. Dadurch, dass rund eine Million Menschen neu vertrieben wurde, sind die Camps maßlos überfüllt. Es ist nahezu unmöglich, die internationalen Hygieneempfehlungen wie „social distancing“ einzuhalten. Rund 60 Prozent der Menschen haben keinen ausreichenden Zugang zu sauberem Wasser. Viele Menschen stehen vor der Entscheidung: Trinke ich das wenige Wasser, was mir zur Verfügung steht, oder wasche ich mir damit die Hände? Vielen fehlen außerdem Masken oder Desinfektionsmittel. Maßnahmen wie Ausgangsperren sind für Menschen, die keinerlei finanzielle Reserven haben und von der Hand in den Mund leben, einfach nicht realisierbar. Die Menschen müssen auf die Straße, um irgendwie Geld zu verdienen und zu überleben. Nicht ihre wirtschaftliche, sondern ihre physische Existenz ist bedroht.  

Jessica Kühnle: Wie reagieren die Hilfsorganisationen auf die ersten bestätigten Corona-Fälle? 

Konstantin Witschel: Die syrischen und medizinischen Hilfsorganisationen leisten hier gute Arbeit mit den wenigen Mitteln und Ressourcen, die sie zur Verfügung haben. Bisher gibt es nur wenige Fälle, jedoch droht die Gefahr eines massiven Ausbruchs weiterhin. Sollte dieser kommen, werden die Folgen kaum abzusehen sein, da nahezu die gesamte medizinische Infrastruktur im Krieg zerstört wurde. 

In einem Flüchtlingscamp in Nord-Aleppo: Die Straßen sind schlammig, die Zelte undicht. Sie schützen nicht vor den momentan herrschenden heißen Temperaturen und viele der Menschen können nicht angemessen versorgt werden. © HIHFAD/Welthungerhilfe
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Im Verteilungszelt: Hier werden die Hilfsgüter der Welthungerhilfe gelagert. © Welthungerhilfe
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Die Welthungerhilfe organisiert Brotverteilungen in Flüchtlingscamps im Nordwesten Syriens. © Welthungerhilfe
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Brotverteilung der Welthungerhilfe in einem Flüchtlingscamp in Idlib in Zusammenarbeit mit unserer Partnerorganisation HIHFAD. © HIHFAD
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Jessica Kühnle: Das syrische Pfund ist im freien Fall, Preise für Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs explodieren. Hinzukommt die Corona-Pandemie. Welche Auswirkungen hat all das auf die Lebensbedingungen der Menschen?  

Konstantin Witschel: Der wirtschaftliche Zusammenbruch gekoppelt mit den Auswirkungen der Corona-Krise verschärft das Leid der Menschen und die humanitäre Lage immens. Es gibt immer weniger Arbeitsmöglichkeiten. Bereits jetzt leben 80 Prozent der Menschen unter der Armutsgrenze, gleichzeitig sind Preise für Lebensmittel innerhalb eines Jahres um 240 Prozent gestiegen. Familien sind dazu gezwungen, Mahlzeiten auszusetzen und sich weiter zu verschulden. Es gibt immer mehr Menschen, die betteln müssen oder sich verdorbenes Essen aus Mülltonnen zusammensuchen. Frauen sehen sich gezwungen, sich für Geld anzubieten. 9,3 Millionen Menschen in Syrien wissen nicht, wie sie sich ernähren sollen und so stimmen einige Eltern in ihrer absoluten Verzweiflung, um ihre Kinder vor dem Hungertod zu retten, einer Zwangs- oder Frühverheiratung zu.   

Jessica Kühnle: Was benötigen die Menschen in den Camps am dringendsten und warum?  

Konstantin Witschel: Es fehlt an allem! Am dringendsten benötigen die Menschen jedoch Nahrungsmittel, Zugang zu Hygienematerialen, sicheren Unterkünften sowie zu sanitären Einrichtungen und ausreichend sauberem Wasser. Auch das Schaffen von Einkommensmöglichkeiten ist wichtig, damit die Menschen in den Camps sich selbst versorgen können und dadurch weniger abhängig von humanitärer Hilfe sind. Für die Geflüchteten ist die Situation, in einer absoluten Untätigkeit und Hilflosigkeit gefangen zu sein, natürlich enorm belastend. Niemand möchte von Hilfe abhängig sein.

Jessica Kühnle: Was macht die Welthungerhilfe, um die Menschen in den Camps zu unterstützen?  

Konstantin Witschel: In erster Linie setzten wir groß angelegte Nahrungsmittelprogramme um. Das bedeutet, wir verteilen vor allem Gutscheine, die die Menschen zum Beispiel für Nahrungsmittel oder Hygieneprodukte umtauschen können. So können sie  selbst entscheiden, was sie kaufen möchten. Wo wir nicht die Möglichkeit haben, Gutscheine zu verteilen, unterstützen wir die Menschen mit kostenlosen Brotverteilungen und führen Notreparaturen an Bäckereien durch, welche wir anschließend mit Mehl beliefern. 

Außerdem versorgen wir die Geflüchteten  verstärkt auch mit Trinkwasser, installieren Latrinen samt Waschstellen in den Camps und statten diese mit Desinfektionsmittel aus. Um den Binnenvertriebenen eine menschenwürdige und sichere Unterkunft bereitzustellen und die Regeln des „social distancing“ zu ermöglichen, bauen wir außerdem Unterkünfte in den Camps und führen Notreparaturen durch.

Porträtfoto von Konstantin Witschel

Auch wenn die Pandemie die Volkswirtschaften vieler Staaten fest im Griff hat: Wir dürfen die Menschen in Syrien und anderen krisengebeutelten Ländern wie Jemen oder Bangladesch keinesfalls vergessen.

Konstantin Witschel Expert for Programme Coordination

Jessica Kühnle: Was muss passieren, damit sich die Situation für die Menschen im Nordwesten sowie in anderen Teilen Syriens nach neun Jahren des Konflikts endlich verbessert? 

Konstantin Witschel: In erster Linie brauchen die Menschen Sicherheit und ein baldiges Ende der Gewalt. Die Vereinten Nationen und die internationale Gemeinschaft müssen alles daransetzen, den Genfer Friedensprozess für Syrien wieder aufzunehmen, denn dort sitzen die wichtigsten Akteur*innen mit am Tisch – auch die syrische Zivilbevölkerung.

Im Moment hält die Waffenruhe zumindest mehr oder weniger an, diese ist aber sehr brüchig. Gerade jetzt ist es lebenswichtig, dass die Waffenruhe bestehen bleibt, damit nicht noch mehr Menschen vertrieben und wichtige Infrastrukturen wie Krankenhäuser zerstört werden oder Zugang zu den Menschen eingeschränkt wird. 

Jessica Kühnle: Was bedeutet die Entscheidung des UN Sicherheitsrats, einen weiteren Grenzübergang für grenzüberschreitende humanitäre Hilfe aus der Türkei in den Nordwesten Syriens zu schließen?  

Das bedeutet, dass es zu einer Reduktion der Hilfslieferungen von Seiten der Vereinten Nationen kommen und die Hilfe auch teurer werden wird, da sich die Transportwege verlängern. Am Ende werden weniger Menschen erreicht werden können. Leider wird die Einschränkung humanitärer Hilfe auf diese Weise als Waffe im Konflikt eingesetzt. 

Die Gebernationen müssen alle Mittel und Wege nutzen, um humanitäre Hilfe in Syrien auch weiterhin zu finanzieren. Falls sich abzeichnen sollte, dass die UN durch die Schließung eines weiteren Grenzübergangs in den Nordwesten Syriens die notleidende Bevölkerung nicht mehr ausreichend versorgen kann, müssen Mittel auf andere Hilfsorganisationen umverteilt verteilt. 

Die Versprechen, die bei der jüngsten Geberkonferenz in Brüssel gemacht wurden, müssen auch eingehalten werden. Auch wenn die Pandemie die Volkswirtschaften vieler Staaten fest im Griff hat, dürfen wir keinesfalls die Menschen in Syrien und anderen krisengebeutelten Ländern wie Jemen oder Bangladesch vergessen. Wir müssen unserer humanitären Verantwortung gerecht werden. 

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