Was ist unser Ernährungssystem und wie kann es gerechter werden?
Der UN Gipfel für Ernährungssysteme: kein Systemwandel in Sicht
Weltweit werden mehr Lebensmittel produziert als je zuvor. Trotzdem steigen die Hungerzahlen seit sechs Jahren wieder und drohen sich bis 2030 sogar der Milliardengrenze zu nähern. Ein UN Gipfel zu Ernährungssystemen, der letzte Woche in New York stattfand, sollte diesen Widerspruch angehen – mit eher mäßigem Erfolg. Eine Bilanz.
Der Zeitpunkt des Gipfels hätte nicht besser gewählt sein können: Der Klimawandel und bewaffnete Konflikte machen die Erfolge in der Hungerbekämpfung zunichte, die Corona-Pandemie wirkt zusätzlich als Brandbeschleuniger. Während bis zu 811 Millionen Menschen hungern, ist jeder dritte Mensch mittlerweile übergewichtig oder fettleibig. Es ist also höchste Zeit, unser Ernährungssystem – die Art wie wir Nahrungsmittel produzieren, verarbeiten, handeln und konsumieren – grundlegend zu transformieren.
Das Problem: Unser Ernährungssystem ist ungerecht und nicht nachhaltig
Klimawandel als Ursache und Folge
Unser Ernährungssystem leidet unter dem Klimawandel, befeuert ihn aber auch weiter: Es ist für ca. ein Drittel aller Treibhausgasemissionen verantwortlich. Die Landwirtschaft ist aber auch ein Hauptreiber für den Verlust der weltweiten Biodiversität. Landnutzungsänderungen, intensive Anbaumethoden, Massentierhaltung und andere Praktiken führen zu massiven ökologischen Schäden.
Es werden weltweit – hinsichtlich der Kilokalorien – zwar ausreichend Lebensmittel produziert, jedoch nicht genügend gesunde Lebensmittel. Hunger ist meist kein Problem der Verfügbarkeit, sondern des Zugangs. 40% der Weltbevölkerung haben nicht ausreichend finanzielle Ressourcen, um sich eine gesunde Ernährung zu leisten. Darunter sind ebenfalls Kleinbauern oder Landarbeiterinnen im Globalen Süden, die u.a. Nahrungsmittel für den globalen Norden produzieren. Bewaffnete Konflikte, wie z.B. in Syrien oder dem Jemen, und die eskalierende Klimakrise verschärfen die Situation zusätzlich. Die Betroffenen haben keine Reserven und rutschen folglich in akute Hungerkrisen ab.
Das UN-Nachhaltigkeitsziel, den Hunger bis zum Jahr 2030 zu überwinden, ist kaum noch zu erreichen. Seit Jahren drängen zahlreiche Akteure darauf, das globale Ernährungssystem neu aufzustellen und es gerecht, nachhaltig und krisenfest zu gestalten. Denn angemessene Ernährung ist ein Menschenrecht.
UN Gipfel mit Ikarus-Effekt: Zu hoch geflogen
UN Generalsekretär António Guterres hatte für den UN-Ernährungsgipfel ambitionierte Ziele definiert: Es sollte ein historischer Gipfel werden, ein Gipfel, der mutige neue Maßnahmen einleitet, um den Negativtrend bei der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele umzukehren, ein Gipfel der konkreten Lösungen ausformuliert und weitgehende Verpflichtungen hervorbringt. Und er sollte integrativ sein – ein People’s Summit.
Hunderte Akteure haben sich in den letzten 18 Monaten in unzähligen Online-Treffen beraten, Arbeitsgruppen gegründet und Vorschläge zu Papier gebracht. Nahezu Tausend Dialogveranstaltungen wurden abgehalten und einen dreitägigen Vorgipfel in Rom Ende Juli verfolgten fast 22.000 Interessierte. Vergangenen Donnerstag trafen sich die 157 Delegierten der UN Mitgliedsstaaten virtuell zum ersten UN Gipfel zu Ernährungssystemen.
Leider konnte der Gipfel diese selbst gestellten Erwartungen kaum erfüllen, sie waren wohl zu hoch gegriffen:
Beliebigkeit statt Verbindlichkeit
Der Gipfel setzt maßgeblich auf freiwillige Verpflichtungen seitens ganz unterschiedlicher Akteure. Von NGOs bis zu multinationalen Konzernen wurden alle Interessierten aufgefordert darzulegen, wie ihr Beitrag zur Verbesserung des Ernährungssystems aussehen wird. Wie diese Selbstverpflichtungen nachgehalten werden, ist aber völlig unklar. Durch diese Ansprache eines ganzen Akteursbündels besteht die Gefahr, dass sich Regierungen aus der Verantwortung stehlen. Weiterhin drohen die Ergebnisse hinter bereits bestehende Vereinbarungen wie den UN-Nachhaltigkeitszielen und dem Pariser Klimaabkommen zurückzufallen. Ein ausuferndes Ankündigungspotpourrie á la „alles kann, nichts muss“ mag präsentabel sein, den Weg aus unseren multiplen Krisen wird es aber nicht ebnen.
Minimallösungen statt Systemwechsel
Im Vorbereitungsprozess des Gipfels wurden eine Fülle von Lösungsansätzen vor allem für die Überwindung von Hunger und Fehlernährung und die nachhaltige Nutzung unserer natürlichen Ressourcen erarbeitet. Auf dem Vorgipfel Ende Juli wurde dann aber klar: Die Probleme sollen jeweils in den Ländern gelöst werden. Alle Staaten wurden aufgefordert Nationale Aktionspläne dafür zu erarbeiten, wie sie die in ihrem Land identifizierten Schwachstellen im Ernährungssystem angehen wollen. Zwar ist es wichtig und richtig kontextspezifische Lösungen zu entwickeln, der einseitige Fokus auf Nationalstaaten negiert jedoch globale Zusammenhänge.
Die übergeordneten Aspekte wurden beim Gipfel dann auch weitestgehend ausgeblendet: Machtungleichgewichte im Handels- und Finanzsystem wurden nicht angesprochen und die situationsangemessene wie gleichwohl fundamentale Umgestaltungen unseres Wirtschaftssystems ausgeklammert. Diese komplexen Themen müssen aber auf multilateraler Ebene zentral adressiert werden – dafür wurden die Vereinten Nationen einstmals gegründet. Was wir sehen ist der Versuch das existierende System effizienter auszugestalten – dies wird aber nicht reichen, um allen Menschen auch der kommenden Generationen eine angemessene Ernährung zu ermöglichen.
Ausblick: Worauf es jetzt ankommt
Der Gipfel war ein wichtiger Auftakt, alleine dass sich eine Vielzahl von Akteuren erstmalig auf höchster Ebene mit „Ernährungssystemen“ beschäftigte ist ein Erfolg – wenn auch ein den großen Ankündigungen unangemessener. Bei den Ergebnissen des Gipfels kommt es nun auf folgendes an:
-
Die Nationalen Aktionspläne müssen sich daran messen lassen, ob sie die Situation der Menschen verbessern, die von den ökologischen und sozialen Folgekosten des globalen Ernährungssystems am stärksten betroffen sind: Kleinbäuer*innen sowie indigene und andere sozial benachteiligte Gruppen.
-
Repräsentant*innen dieser Gruppen müssen an der Ausgestaltung der Aktionspläne angemessen beteiligt werden und in der Lage sein, ihre Regierungen beim Wort zu nehmen.
-
Insbesondere bei uns im Globalen Norden braucht es eine institutionalisierte Politikfolgenabschätzung, die prüft, inwieweit sich Gesetze oder politische Initiativen auf Ernährungssysteme im Globalen Süden und das Recht auf Nahrung benachteiligter Gruppen auswirken.
-
Machtgefälle im internationalen Handels- und Finanzsystem müssen nachhaltig überwunden werden – nur dann können wir dafür Sorgetragen, dass sich künftig auch 10 Milliarden Menschen gesund ernähren können, ohne die Natur und das Klima zu zerstören.
Dies kann aber nur der Beginn eines wirklichen Systemwechsels sein.