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25.05.2022 | Blog

"Weltweit werden mehr Menschen hungern"

Im Interview spricht Mathias Mogge, Generalsekretär der Welthungerhilfe, über die Arbeit in der Ukraine und die Auswirkungen des Krieges auf die weltweiten Lebensmittelpreise.

Eine Frau an einem Marktstand, bei dem Fladenbrot verkauft wird.
Brotverkauf im Nyamliell, Südsudan. Viele ärmere Länder des Globalen Südens waren bislang direkt oder indirekt stark von russischen und ukrainischen Exporten abhängig. Diese Länder erhalten jetzt ihre bestellte Ware nicht oder müssen dafür sehr viel mehr bezahlen. © Stefanie Glinski/Welthungerhilfe

Die Welthungerhilfe unterstützt Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine in die Nachbarländer flohen. Hilft sie auch im Land selbst?   

Mit unseren Partnern der Alliance2015, einem Netzwerk aus sieben europäischen Hilfsorganisationen, bringen wir Lebensmittel, Hygieneartikel und andere Hilfsgüter in verschiedene Regionen der Ukraine. Um sie in die umkämpften Gebiete zu transportieren, beladen wir in der Tschechischen Republik Sonderzüge, die bis in den Osten der Ukraine fahren. Von den Bahnhöfen werden die Hilfsgüter dann mit Lastwagen in Dörfer und Städte gebracht, in denen die Not am größten ist. Auch in Orte, die unter Beschuss liegen. Zudem sichern wir das Überleben von Menschen durch Bargeldtransfers dort, wo es noch etwas zu kaufen gibt. 

Wird dies ein dauerhafter Einsatz in der Ukraine? 

Wir gehen dorthin, wo die Not am größten ist. Die Ukraine konnte sich bis zum Ausbruch des Krieges sehr gut selbst ernähren. Aber der Krieg ändert jetzt alles. Es hungern jetzt auch dort Menschen, und solange es nötig ist, werden wir humanitäre Nothilfe leisten. Nach einem hoffentlich baldigen Ende des Krieges kann es gut sein, dass wir uns mit unserer langjährigen Erfahrung beim Wiederaufbau beteiligen werden. Zugleich bleiben wir in Ländern aktiv, die weniger internationale Aufmerksamkeit und Unterstützung erhalten als die Ukraine, in denen der Bedarf jedoch trotzdem enorm ist. Man muss aufpassen, dass man ein Land nicht gegen ein anderes ausspielt. Und wir müssen darauf achten, dass wir mit unseren Ressourcen so umgehen, dass wir möglichst viele der bedürftigsten Menschen der Welt erreichen. 

Eine Frau mit einem Kind auf dem Arm und einem anderen Kind an der Hand, steigt eine Treppe hoch.
Menschen aus Odessa fliehen aus dem Land: Am Bahnhof von Lviv wechseln sie den Zug in Richtung polnische Grenze. © Stefanie Glinski/Welthungerhilfe

Humanitäre Hilfe soll unparteiisch und neutral sein. Ist das im völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg überhaupt möglich?

Das internationale humanitäre Völkerrecht wird in der Ukraine und in vielen anderen Konflikten mit Füßen getreten. Afghanistan, Syrien, Südsudan, Jemen…Diese Liste ließe sich leicht fortsetzen. In der Ukraine werden Menschen ausgehungert und zivile Helfer*innen daran gehindert, Bedürftige zu erreichen. Es werden Evakuierungskorridore beschossen. Wir wissen, dass in Kriegen alle Parteien Propaganda einsetzen. Auch wir laufen Gefahr, Teil und Opfer dieser Propaganda zu werden. Die Kriegsparteien könnten uns beispielsweise vorwerfen, dass wir nur einer Seite helfen. Aber als humanitäre Organisation sind wir zu absoluter Neutralität verpflichtet. Uns geht es um die Bedürftigkeit der Menschen, nicht um Politik.

Krieg in der Ukraine verschärft Hunger weltweit

Russland und die Ukraine waren bislang wichtige Getreide- und Speiseöl-Exporteure. Wird der Krieg jetzt weltweit zu Hungersnöten führen?

Die Gefahr ist leider groß. Länder wie Ägypten, Kenia, der Südsudan, der Libanon und viele andere Staaten waren bislang direkt oder indirekt stark von russischen und ukrainischen Exporten abhängig. Diese Länder erhalten jetzt ihre bestellte Ware nicht oder müssen dafür sehr viel mehr bezahlen. Schon vor dem Krieg waren die Lebensmittelpreise unter anderem auf Grund von Klimawandel, Konflikten, der Corona-Pandemie und Spekulationen auf den Weltmärkten auf einem Allzeithoch. Die durch den Krieg gestiegenen Energiepreise werden jetzt dazu führen, dass unter anderem die Bewässerung in der Landwirtschaft noch teurer wird. Das wird zu einem weiteren Anstieg der Lebensmittelpreise führen.

Lebensmittelpreise auf Rekordkurs, 2022.
Entwicklung der Nahrungsmittelpreise innerhalb der letzten 20 Jahre. © Welthungerhilfe

Mit welchen Konsequenzen? 

Dies trifft vor allem arme Menschen, die bereits einen hohen Anteil ihres verfügbaren Einkommens für Lebensmittel ausgeben. Sie müssen häufig schon jetzt Mahlzeiten ausfallen lassen. Durch den Krieg in der Ukraine werden mehr Menschen in aller Welt hungern. Laut der Welternährungsorganisation (FAO) könnten zusätzliche 13 Millionen Menschen in den Hunger getrieben werden. Auch für Hilfsorganisationen wie die Welthungerhilfe sind die gestiegen Preise ein riesiges Problem. Wir werden weniger Lebensmittel für Verteilungen kaufen können. Das Welternährungsprogramm (WFP) etwa musste seine Hilfsrationen für den Jemen bereits reduzieren.  

Nachhaltige landwirtschaftliche Produktion für mehr Ernährungssicherheit

Weltweit werden Nahrungsmittel stetig teurer. Schon 2021 sind die Preise für Lebensmittel weltweit teils um 28 Prozent gestiegen, so hoch wie seit zehn Jahren nicht mehr. Durch den Krieg in der Ukraine ist die Situation noch dramatischer geworden.

Die Welthungerhilfe arbeitet seit vielen Jahren daran, die Abhängigkeit der Entwicklungsländer von Lebensmittelimporten durch eine Steigerung der Produktion vor Ort zu senken. Gibt die aktuelle Situation diesem Ansatz einen neuen Schub? 

Der Krieg ist ein Weckruf, in Ländern, die unter Hunger leiden, endlich eine nachhaltige landwirtschaftliche Produktion zu etablieren. Der Fokus muss darauf gelegt werden, ländliche Räume attraktiv zu machen, Infrastruktur auszubauen und mit kleinbäuerlichen Familien daran zu arbeiten, mehr, sortenreichere und hochwertigere Nahrungsmittel anzubauen, damit sich diese Länder selbst ernähren können. Wir setzen uns intensiv dafür ein, dass Deutschland dabei auch im Rahmen seiner aktuellen G-7-Präsdentschaft eine Führungsrolle übernimmt.  

Kann Entwicklungszusammenarbeit in Kriegs- und Krisengebieten überhaupt Entscheidendes verändern? 

Wir sind leider vorwiegend in Ländern tätig, in denen es sehr gewalttätige Konflikte gibt. Trotzdem arbeiten wir gemeinsam mit der lokalen Bevölkerung daran, selbst unter schwierigsten Bedingungen unmittelbare Not zu lindern und mittel- und langfristige Perspektiven zu schaffen. In Syrien beispielsweise verteilen wir Brot, parallel haben wir zerstörte Bäckereien saniert und sichern die dauerhafte Versorgung. Auch in Kriegs- und Krisengebieten können wir mit Projekten wie Küchengärten oder Bewässerungsmöglichkeiten viel erreichen, unter anderem in Afghanistan. Resiliente Ernährungssysteme wiederum tragen zur Friedensförderung bei. Das Wichtigste aber sind dauerhafte politische Lösungen, auch als stabiler Rahmen für unsere Arbeit. Es bereitet mir große Sorge, dass viele Länder jetzt massiv aufrüsten. Im Moment haben leider die Falken die Oberhand und nicht die Tauben. Ich halte die Rückbesinnung auf das Nationale für extrem schädlich. Wir brauchen jetzt genau das Gegenteil: mehr internationale Kooperation, um Lösungen für die großen Menschheitsprobleme wie Klimawandel, Konflikte, Pandemie und Bekämpfung des Hungers zu finden. 

Das Interview führte Philipp Hedemann, freier Journalist aus Berlin. Es erscheint ebenfalls im Welthungerhilfe-Magazin, Ausgabe: 02/2022.

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