Sozialleistungen nur mit Ausweis
Wer als Bolivianer keinen Ausweis hat, existiert auf dem Papier nicht – und hat daher keinen Zugang zu zahlreichen Sozialleistungen. Das "Fest der Rechte" klärt nun über Bürgerrechte auf.
Was ist ein Mensch wert, dessen Name in keiner Liste steht? Was gilt ein Leben voller Arbeit und Mühe, wenn es auf dem Papier nie begonnen hat? Viele Mitglieder der indigenen Bevölkerung Boliviens besitzen keine gültigen Personalpapiere – und sind damit von den Rechten ausgeschlossen, die die neue Verfassung Boliviens ihnen zusichert. Auf "Festen der Rechte" klärt Fundación Tierra, eine Partnerorganisation der Welthungerhilfe, Bürger*innen über ihre Rechte auf.
Vor dem Rathaus der Gemeinde Tarabuco im zentralen Hochland Boliviens wird das Fest der Rechte gefeiert. Ein nicht mal neunjähriges Kind steht auf der Bühne. Das Gedicht, das es mit voller Hingabe in die Zuschauermenge ruft, erzählt vom dem Recht aller Menschen auf Bildung. Dem Recht zur Wahl zu gehen und von gleichen Chancen für alle auf ein besseres Leben.
Menschen in farbenprächtigen Ponchos bleiben stehen, viele tragen die typische helmartige Kopfbedeckung der Quechua-Indigena. Die Gesichter sind vom harten Leben im kargen Hochland gezeichnet. Daneben leuchten junge, hellwache Augen, die widerspiegeln, dass das, was hier in Gedichten, Liedern und kleinen Theaterstücken erzählt wird, die eigene Geschichte ist.
In Bolivien klärt das "Fest der Rechte" über Bürgerrechte auf
Natürlich sind die Indigenas der Quechua-Kultur im Zentralen Hochland bolivianische Staatsbürger mit allen dazugehörenden Rechten. Aber die Verfassung, die dies zusichert, ist für die Bewohner*innen auf dem Land oft nicht das Papier wert, auf dem sie geschrieben steht. Richard Haep, Regionalkoordinator der Welthungerhilfe in Südamerika, bringt das Problem auf den Punkt. »Die Regierung in Bolivien hat ein sehr umfangreiches Sozialprogramm aufgelegt«, erklärt er. »Erstmals sind auch Mitteltransfers vorgesehen, die in den ländlichen Raum gehen, zum Beispiel über Sonderzahlungen für ältere Menschen oder für Schulkinder. Ganz viele Menschen können daran aber nicht teilnehmen, weil sie keine Personaldokumente haben.«
Hunderttausende Menschen seien von den Grundrechten, die der Staat zusichert, ausgeschlossen, schätzt Richard Haep. Wie viele es genau sind, weiß niemand in Bolivien, denn gezählt wird vom Staat nur, wer sich auch registrieren lässt. Im abgelegenen ländlichen Raum fehlt es dafür an Möglichkeiten und Information. Vor allem viele ältere Menschen können weder lesen noch schreiben. Umso aufmerksamer verfolgen sie daher Veranstaltungen wie das Fest der Rechte, das von der bolivianischen Fundación Tierra organisiert wurde, einer Partnerorganisation der Welthungerhilfe.
In Icla sind Leinen mit bunten Tüchern über die Straßen gespannt, die Menschen strömen zum Rathaus des Dorfes. Es ist ein wichtiger Tag für die ganze Region. In Icla hat die Fundación Tierra an diesem Sonntag eine Kollektivhochzeit organisiert. 32 Paare werden sich das Jawort geben. Es sind Männer und Frauen, die bereits gemeinsame Kinder haben. Paare, die zusammen alt geworden sind, die den Großteil ihres Lebens miteinander verbracht haben. »Trauscheine hat es hier nie gegeben. Das ist in der Kultur der Aymara und Quechua ganz normal«, erklärt Carmen Rosa Gonzales. Sie ist Direktorin der Fundación Tierra in der Region Valles. Sie und ihre Mitarbeiter*innen haben die letzten Monate damit verbracht, den Menschen in den Dörfern deutlich zu machen, welche Bedeutung Dokumente wie ein Trauschein oder eine Geburtsurkunde für ihr Leben haben.
Ausweis entscheidet über Existenz
Im Bolivien von heute entscheiden diese Papiere über Sein oder Nichtsein. »Das ist in Deutschland doch nicht anders«, sagt Richard Haep. »Wenn Sie in Deutschland zu einer Behörde gehen und etwas beantragen wollen, dann fragt man Sie nach Ihrem Ausweis. Und wenn Sie keinen Ausweis haben, dann existieren Sie de facto einfach nicht! So haben ausgerechnet Menschen, die eine besondere Bedürftigkeit haben, nicht die Chance, die Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen, die für sie gedacht waren.« Ohne Trauschein könnten Frauen zum Beispiel kein Land erben und sind auch sonst von den bürgerlichen Rechten praktisch ausgeschlossen.
Es ist kein leichter Weg, den die Mitarbeitenden der Fundación Tierra gewählt haben. Es sind Rechtspromoter*innen und Jurist*innen, die von der Welthungerhilfe zusätzlich in Themen wie Bürger- und Menschenrechte, Demokratie und Friedenskultur geschult werden. In den Dörfern besuchen die Mitarbeitenden Schulen, um bereits die Kinder über ihre Rechte und Pflichten als Staatsbürger aufzuklären. Sie helfen bei Behördengängen und suchen nach Zeugen, die Existenzen bestätigen können, wo Personaldokumente fehlen. Und sie schulen Mitarbeiter*innen in den Behörden, die oft erst lernen müssen, wie sie Dokumente richtig ausstellen. Manche können selbst nicht lesen und schreiben.
Auch von den Paaren, die zu ihrer Hochzeit nach Icla gekommen sind, können die wenigsten schreiben. Sie unterzeichnen mit einem Fingerabdruck. Tage, an denen ein Fingerabdruck Menschen eine Existenz schenkt, sind wichtig. Es sind Tage der Hoffnung für die Unsichtbaren Boliviens.