Flucht in die Türkei
Die islamistische Terrorgruppe ISIS hat weitere Städte im syrischen Grenzgebiet eingenommen. Viele Flüchtlinge suchen daher Schutz in der Türkei. Ralph Weihermann berichtet von vor Ort.
Zu Besuch in der türkischen Kleinstadt Karkamis – nur fünf Kilometer vom Grenzübergang Jarabulus in Syrien entfernt. Ein paar Kilometer weiter gehören viele der zerschossenen syrischen Dörfer und Städte nun zum Machtbereich der islamistischen Gruppe ISIS. Erst vor wenigen Tagen haben sie in der Grenzregion einen islamischen Staat ausgerufen. Immer mehr Flüchtlinge suchen daher Schutz in der Türkei. Ganze Zelt- und Containerstädte prägen das Gebiet rund um Karkamis. Praktisch alle Flüchtlingslager sind voll. Neuankommende Flüchtlinge finden daher nur noch Unterkunft bei türkischen Gastfamilien. Erfahren Sie hier, wie wir den syrischen Flüchtlingen in der Türkei auch außerhalb der Camps helfen.
Ein Bericht von Ralph Weihermann
Es ist ruhig und friedlich in Karkamis - aber der Krieg ist in Rufnähe. Morgens um neun fahre ich mit einem Team der Welthungerhilfe durch die Stadt. Kein großer LKW mit Tonnen von Hilfsgütern, sondern ein kleiner Kompaktwagen - agil ist er, und kommt überall hin, auch die kleinsten Gassen zu den Unterkünften der Flüchtlinge. "Wir versorgen in der Region 4.300 Familien mit Lebensmitteln, Menschen, die sonst oft hungern würden", erklärt Tasnim Hilani von der Welthungerhilfe. Die junge Frau mit dem weißen Kopftuch ist selbst vor einem Jahr aus dem Bürgerkrieg in Syrien geflohen. Hinten im Auto liegen 15 große Kartons. In einer kleinen Seitenstraße klopft Tasnim an die Tür eines Hinterhofs. Es dauert ein paar Minuten bis geöffnet wird, und nochmal einen Moment, bis geklärt ist, dass auch der fremde Reporter mit hineindarf.
Tasnim und ihre Kollegen tragen die Pakete in den Hof. Eine syrische Familie steht dort aufgereiht, Vater, Mutter, zwei Kinder zwischen sechs und acht Jahren. Leere Gesichter, traurige Blicke, nur der Junge schielt schon mit einem Auge auf die Kartons mit den Lebensmitteln. Wir wollen etwas von ihrer Geschichte erfahren, aber was sollen sie uns erzählen? Der Vater will es versuchen. Viele Erinnerungen werden verdrängt, an den Raketeneinschlag im Haus, an den Tod der jüngsten Tochter, der Schwiegermutter. Der Vater erzählt es tonlos, ohne Verbitterung, irgendwie muss es weitergehen.
"Ohne die Pakete müssten wir betteln!"
In den Kartons sind Grundnahrungsmittel für einen Monat. Nudeln, Reis, Konserven, Gewürze. Die Lebensmittel in der Stadt kann sich kaum ein Flüchtling leisten- und je mehr von ihnen kommen, umso teurer wird alles. Die vierköpfige Familie wohnt im Erdgeschoss in einem Raum - ein Ventilator verteilt die heiße Luft von einer Ecke in die andere - Gebetsteppiche liegen aus. Miete müssen sie hier nicht zahlen, da geht es ihnen schon mal besser als vielen anderen - die türkischen Hausbesitzer können sich das in dem Fall einfach leisten. Die Eltern packen die Pakete aus. Wie rohe Eier werden Konserven, Reis und Bohnen ins Haus getragen. "Ohne diese Pakete wären wir wohl schon zum Betteln auf der Straße", sagt die Mutter.
Nach zwanzig Minuten zieht der Tross weiter, auch Mehmet Akar ist mit dabei. Akar ist 25, ein smarter Typ mit Sonnenbrille und Halbglatze, und er hat eine große Verantwortung. Er ist beim Sozialamt Karkamis für die Betreuung der Flüchtlinge aus Syrien zuständig. Seitdem verbringt er immer weniger Zeit in seinem klimatisierten Büro.
Für die Welthungerhilfe ist Mehmet Akar der lokale Partner bei der Hilfsaktion im Südosten der Türkei. "Wir haben jetzt 1,8 Millionen syrische Flüchtlinge im Land", sagt Akar "und bei aller Hilfsbereitschaft sind wir doch ziemlich überfordert. Ohne die Welthungerhilfe würde das hier in Karkamis längst nicht mehr funktionieren."
Akar begleitet praktisch jeden Transport der Welthungerhilfe in Karkamis und an unserer nächsten Station sehe ich auch, warum das Sinn macht. Während die Pakete für eine syrische Familie ausgeladen werden, kommen aufgeregte türkische Nachbarn dazu und beklagen sich. "Hier wird großartig Essen an die Syrer verteilt - und was ist mit uns?" Ein älterer Mann fuchtelt aufgebracht mit seinem Gehstock vor Tasnims Nase herum. Die junge Mitarbeiterin der Welthungerhilfe bleibt ganz ruhig und Mehmet Akar schaltet sich ein. "Kommt nächste Woche zum Sozialamt, Ihr wisst doch, dass wir Euch auch finanziell unterstützen."
Hitzige Debatten mit dem Grenzzaun im Hintergrund
Schließlich lässt sich der Mann beruhigen - Syrien ist hier ganz nah. Die nächste Familie besteht nur aus Frauen, die Männer sind im Krieg gefallen oder kämpfen immer noch. Die Mutter des Hauses zeigt uns dreimal die erhobene Hand mit ihren fünf Fingern. Dreimal fünf - fünfzehn junge Männer haben sie in ihrem Beisein ermordet. Das ist gerade mal ein paar Monate her. Wie soll man da an Frieden denken, oder gar an eine Rückkehr nach Syrien? Während im Hintergrund der Muezzin-Ruf aus blechernen Lautsprechern tönt, reißt die Frau die Lebensmittelpakete auf und wirft den Reis gleich ins kochende Wasser. "Die Kinder haben in den letzten zwei Tagen praktisch gar nichts gehabt, die müssen jetzt was essen", erklärt sie und nimmt Tasnim auf dem Weg zum Kochtopf nochmal kurz in den Arm.
Alle Flüchtlinge, die privat bei Familien unterkommen, habe es vorher schon mal in den Lagern versucht - ohne Erfolg. Ganze Zelt- und Containerstädte prägen in der Grenzregion die Landschaft, aber praktisch alle Flüchtlingslager sind voll. Ein paar Kilometer weiter direkt am Ufer des Euphrat treffen wir eine syrische Familie, die ihre Wäsche im Fluss wäscht. Nein, im Lager gibt es keinen Platz, man hat sie weggeschickt und eine Familie haben sie auch nicht gefunden. Jetzt schlafen sie seit einigen Nächten in der Moschee auf dem nackten Fußboden. Ob wir keine Idee hätten für eine Unterkunft. Ich sehe, wie sich Mehmet Akar im Hintergrund das Telefon ans Ohr klemmt.
Die Welthungerhilfe unterstützt syrische Flüchtlinge an verschiedenen Orten in der türkischen Grenzregion. Rund um die Orte Karkamis, Nizip und Celanpinar werden seit Februar 2014 mehr als 30.000 Flüchtlinge mit Hilfspaketen versorgt. Die Welthungerhilfe plant ihre Aktivitäten auszubauen. Die andauernden Kampfhandlungen werden höchstwahrscheinlich weitere syrische, aber auch irakische Familien zur Flucht in die Türkei zwingen. Helfen Sie uns dabei, dort weitere Flüchtlinge mit Nahrungsmitteln zu versorgen.