Zur Hauptnavigation springen Zur Suche springen Zum Seiteninhalt springen Zum Footer springen

09.05.2015 | Blog

Nepal nach dem Beben: Tiefe Trauer, ein bisschen Glück

Ich dachte ich wäre vorbereitet, ich wusste was ich vorfinden würde. Aber ich war es nicht.

Eine Schlange von Nepalesi, welche für Nothilfegüter anstehen.
Kahl rasierte Köpfe egal wohin man blickt. Nach Hindu-Tradition schneiden sich die Männer in Nepal die Haare ab, wenn ein Familienmitglied gestorben ist. © Welthungerhilfe
Francesca Schraffl Beraterin Stiftungskooperationen (bis September 2021)

Ein kahlrasierter Kopf mit nur einem kleinen Haarbüschel auf der Rückseite. Nach Hindu-Tradition schneiden sich die Männer in Nepal die Haare ab, wenn ein Familienmitglied gestorben ist. Über drei Tage hinweg begleiten mich in den Bergen die rasierten Köpfe, während ich Planen und Decken in abgelegenen Dörfern verteile. Jedes Mal wenn ich einen von ihnen sehe, wird mir schwer ums Herz. Ist das ein kleiner Junge, der jetzt keine Mutter mehr hat, kein Geschwisterkind? Hat dieser Mann seinen älteren Bruder verloren, seinen Vater oder ein Kind?

Aus täglichen UN-Berichten, die unter den Nothelfer*innen herumgingen wusste ich, wie verheerend das Erdbeben im Sindhupalchowk-Distrikt gewesen war; wie viele Opfer die Katastrophe gefordert hatte, wie viele Häuser dem Erdboden gleich gemacht wurden. Also dachte ich, ich sei vorbereitet – aber das war ich nicht. Ich war nicht vorbereitet auf die Zerstörung, die uns umgab, als wir uns mit dem Auto langsam die abschüssigen, felsigen Straßen herauf bewegten. Ein Haufen Trümmer nach dem anderen, mehr nicht. Eine Tür noch in den Angeln, ein offenes Fenster; ein Stuhl steht falsch herum, auf einem Tisch liegt noch ein Buch; ein einzelner Schuh, ein beliebiges Kleidungsstück… es sind einige Dinge, die intakt geblieben sind. Sie stehen da, mitten im Nichts. Es ist eine Erinnerung an das was war und jetzt nicht mehr ist.

Straßen in furchtbarem Zustand und zahlreiche verwüstete Dörfer

Ich war nicht vorbereitet auf den Gestank, der unter den Trümmern hervorkam – ein Zeichen, dass jemand es nicht rechtzeitig aus dem Haus geschafft hat (vielleicht ‚nur‘ ein Haustier, sagte ich zu mir). Ich war nicht vorbereitet ein Such- und Rettungs-Team in Aktion zu sehen, das dabei war, eine Leiche aus einem Haufen Steine zu bergen, während der Rest der Familie da stand und wartete. Ich war bestimmt nicht auf die Geschichte einer Vierjährigen vorbereitet, die die Armee am Tag zuvor in Gunsa – dem am weitesten abgelegenen Dorf – in den Trümmern ausgegraben hatte. Sie wäre nicht tot gewesen, erzählt mir ein Leutnant, hätten sie oder ein Rettungs-Team das Dorf früher erreicht. Das Mädchen war noch am Leben, als sie durch das Beben in ihrem Haus eingeschlossen wurde. Die Nepalesische Armee kam erst vor ein paar Tagen in dem Dorf an, aufgehalten durch die schlechten Straßenbedingungen und weil so viele andere zerstörte Dörfer auf dem Weg Unterstützung brauchten. Um Gunsa zu erreichen, mussten die Soldaten vier Stunden laufen, Ausrüstung tragen sie auf dem Rücken.

Nein, ich war nicht auf diese extreme Lage vorbereitet. Und es wird eine Weile dauern, bis ich alles verarbeitet habe.

Lang erwartete Decken und Planen werden verteilt

Auch auf den alten Nepaleser war ich nicht vorbereitet, der mich in dem ersten Dorf, in das wir kamen fragte, ob wir ihnen „Schutz“ bringen würden. Er sprach offensichtlich kein Englisch und mit meinem gebrochenen Hindi konnte ich seinen nepalesischen Dialekt nicht verstehen. Er nahm seine Hände zu Hilfe und formte ein Zelt über seinem Kopf. „Ja“, schrie ich dann beinahe. „Ja das haben wir mitgebracht!“ Und auch ich malte ein Zelt in die Luft. Ich war nicht vorbereitet auf die Kinder, die im Hof einer zusammengestürzten Schule glücklich Tischtennis spielten. Und Verstecken zwischen den Steinhaufen, die von einem Gebäude übrig geblieben waren. Ich war nicht darauf vorbereitet, zusammen mit den anderen sieben Team-Mitgliedern von nepalesischen Familien genährt zu werden. Sie waren so dankbar, dass wir ihnen Planen gebracht hatten, dass sie die improvisierte Feuerstelle, die sie unter einem wackligen Holzschuppen errichtet hatten nutzten, um uns ein vollständiges Abendessen zuzubereiten – mit Reis, Gemüse, Linsen und sogar gerösteten Chillies! Ich war nicht vorbereitet, als mir eine nepalesische Frau eine Khata (traditioneller zeremonieller Schal der Buddhisten) um den Hals legte und mir als einzige englischsprechende Dorfbewohnerin im Namen aller offiziell dankte. Ich war nicht vorbereitet, auf den folgenden Applaus. All das, weil wir ihnen Planen gebracht hatten.  

Das ist nur ein Bruchteil dessen, was ich in den drei Tagen vor Ort erlebt habe. Wir waren gemeinsam mit unserem Partner Rural Reconstruction Nepal (RRN) in die am weitesten abgelegenen Gegenden im Sindupalchowk-Distrikt gereist, um Güter wie Decken und die lange erwarteten Planen zu verteilen.

Aufbruch zu den Dörfern: 90 km in fünf Stunden

Der Weg in die Dörfer war ein Abenteuer: Wir brauchten fünf Stunden um 90 Kilometer zurückzulegen und weitere drei für die letzten 15 Kilometer. Schließlich kamen wir dann in Melamchi an – ein Armee-Knotenpunkt von wo aus der Chief District Officer entscheidet, was in welche Dörfer geliefert wird, je nach Bedarf und Verfügbarkeit. Wir mussten uns kleinere Trucks suchen, denn unsere Fahrzeuge waren zu groß um bis in die Dörfer zu gelangen, welchen wir zugeteilt worden waren.

Auf dem Weg wurden wir von einer Gruppe Dorfbewohner*innen aufgehalten; sie hatten große Steine auf die Straße geschafft um vorbeifahrende Trucks zu stoppen und um mehr Material zu bitten. „Wir haben nicht genug bekommen!“ flehte ein Dorfbewohner. „Wir gehen zu denen, die nichts haben“, war die unbestreitbare Antwort von Dr. Sarba Khadka, Berater von RRN und Koordinator des‚ Right to Food‘ Netzwerks. Wir mussten warten, während der Fahrer die größten Steine von der Straße entfernte, damit wir weiterfahren konnten. Wir mussten aussteigen um einen Pick-up zu schieben, der in einem Bach stecken geblieben war. Wir mussten einen Truck entladen und einige Kilometer zurücklaufen, um die Ladung des zweiten Fahrzeugs zu sichern, das auf dem Weg liegengeblieben war.

Spät in der Nacht erreichten wir schließlich die Dörfer und schlugen unsere Zelte in der Dunkelheit auf. Dort wachten wir dann auf zwischen eingestürzten Gebäuden und zerbrochenen Häusern, aber auch in der atemberaubenden Schönheit dieses Landes. Mit Feldern von einem so satten Grün, du möchtest dich am liebsten hineinlegen. Endlose Meere von Weizengarben, die sich mit dem Wind bewegen und – natürlich – so majestätisch, wie man sie sich nur vorstellen kann: die schneebedeckten Gipfel des Himalayas. Wir verteilten Planen in drei Gebieten, die aus jeweils aus einigen Dörfern bestehen. Die Menschen reihten sich vor unserem Schreibtisch auf und warteten, bis sie ihre Unterschrift und oft auch nur ihren Daumenabdruck auf ein Papier setzen konnten um zu bestätigen, dass sie die Güter erhalten hatten. Alte Männer, die am Stock gehen; buckelige Frauen, die langsam einen Fuß vor den anderen setzen; kleine Kinder, deren Eltern krank sind, alt oder behindert und das Material nicht selbst abholen konnten. Sie alle gingen mit einem Lächeln auf dem Gesicht – manchmal brachten sie sich sogar für ein Foto in Pose! – manche mussten ganze fünf Kilometer auf den steilen Pfaden laufen, Plane und Decke trugen sie auf ihren Rücken, unterstützt durch einen Schal, den sie sich um den Kopf gebunden hatten. Es ist die gleiche Art, wie sie auch Grasbündel und Körbe voll Holz transportieren.

Die Plane können die Menschen nutzen, um sich selbst und Lebensmittel damit zu schützen. Sie stützen die Plane durch Holzpfeiler, die Glücklicheren nehmen sie als Dach für provisorische Hütten, die sie aus dem bestehenden Material errichtet haben. Die Planen können auch als ‚Plastik-Wände‘ für improvisierten Latrinen genutzt werden, um den Familien – insbesondere den Frauen – etwas Privatsphäre und Würde zurückzugeben. Nach über zehn Tagen, die sie den Launen des Wetters ausgeliefert waren, ist das für die Menschen die einzige Möglichkeit des Schutzes, bis ihre Häuser wieder aufgebaut sind – auch um sich gegen die kommenden Monsun-Regen abzuschirmen.

In Gunsa, wo die Vierjährige gestorben ist und wir zeremonielle Schals geschenkt bekommen haben, treffen wir ein medizinisches Team aus Deutschland, die Bergwacht Sachsen. Sie waren die Ersten, die nach dem Erdbeben das Gebiet erreichten, sogar noch vor der Armee. Als sie ankamen, war die Gemeinde für eine Woche völlig auf sich allein gestellt gewesen. Während wir nun Männern und Frauen in der traditionellen Kleidung der Tamang zusahen, die zufrieden mit ihrem Bündel auf dem Kopf davongingen, erzählte mir ein Mitglied aus dem Team: „Ihr habt heute ein ganzes Dorf glücklich gemacht. Normalerweise hören wir nicht auf zu arbeiten bevor es dunkel wird, da ist immer eine Schlange von Menschen, die vor unserem Zelt warten. Seit ihr mit den Planen gekommen seid ist niemand mehr gekommen!“

„Das zeigt wie wichtig Planen für die Menschen sind, sogar noch wichtiger, als ihre eigene Gesundheit.“

Ich kann nicht aufhören über das kleine Mädchen nachzudenken; welche Angst sie gehabt und wie einsam sie gewesen sein muss, während sie auf jemanden gewartet hat, der kommt und sie rettet. Ich kann nicht aufhören, mir ihre Familie vorzustellen. Sie hören die Kleine weinen und versuchen verzweifelt die Steine mit ihren Händen wegzuräumen, können sie aber nicht erreichen. Nichts kann den Verlust wiedergutmachen, den sie und so viele andere erlitten haben. Aber ich tröste mich damit, dass die Decken und Planen, die wir ihnen gebracht haben zumindest ein wenig Komfort bieten und dieser Familie die Möglichkeit geben, um ihr kleines Mädchen zu trauern – ohne sich um den Regen zu sorgen, der kommen wird.

Schlagworte

Das könnte Sie auch interessieren