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04.01.2017 | Blog

Nothilfe ist mehr als Reis verteilen

Wie verwandelt man einen Fußballplatz in ein Hilfslager? Warum hilft Geld in der Not oft sehr viel? Eine Annäherung an das Thema Nothilfe liefert Daniela Ramsauer.

Frau läuft unter Trümmern her
Nicht schon wieder Haiti - das Land wird häufig von Naturkatastrophen wie Wirbelstürmen und Erdbeben heimgesucht. © Andreas Herzau
Daniela Ramsauer Freie Journalistin

Früher habe ich Katastrophenmeldungen nur am Rande wahr genommen.  Seit ich freie Mitarbeiterin der Welthungerhilfe bin, ist das anders. Ich kenne Kollegen, die in Katastrophengebieten arbeiten, in Haiti war ich selbst schon mal. Bricht das Nothilfe-Team wenige Stunden nach einem Erdbeben, Hurrikan oder einem Tsunami zum Einsatz auf, mache ich mir Sorgen. Die Reisen sind gefährlich und es kann viel schief laufen vor Ort.

Professionell Hilfe zu leisten ist eine großartige Leistung, hinter der wesentlich mehr steckt, als Decken und ein paar Säcke Reis zu verteilen – in dieser Meinung wurde ich bei der Veranstaltung Nothilfe – ein Blick hinter die Kulissen am Flughafen Frankfurt bestätigt. Die Welthungerhilfe und das Desaster Response Team der Deutsche Post DHL Group hatten Förderer und Interessierte zu Vorträgen und Gruppenarbeiten eingeladen. Ich war dabei, weil ich noch immer viele Fragen zum praktischen Ablauf der Hilfe hatte.

Was geht im Kopf eines Logistikers vor?

Ungewöhnlich fand ich den Blick, mit dem Bruno Vandemeulebroecke Katastrophengebiete betrachtet. Er arbeitet als Logistiker für die Welthungerhilfe und war schon in vielen Ländern im Einsatz. Seine Arbeit habe ich mir in etwa so vorgestellt: Hilfsgüter aus dem Flugzeug laden, in LKW rein, wegfahren und am Ende an die Betroffenen verteilen.

Doch ein Logistiker sieht die Welt mit anderen Augen. Infrastruktur ist das Zauberwort. Er erzählte, wie er nach dem Erdbeben 2015 in Nepal in Katmandu ankam: „Ich und die anderen Logistiker der Organisationen haben zuerst das kleine Rollfeld, die Berge und die schmalen Straßen rund um den Flughafen registriert. Bei dem Ausmaß der Katastrophe wussten wir, dass hier weder besonders viele Flugzeuge mit Hilfsgütern landen, noch Transporter den Flughafen im Talkessel  problemlos an- und abfahren können. Es hätte Staus gegeben und die – teilweise zerstörten – Straßen hätten die Last vielleicht nicht getragen“, erklärt Bruno.

Tiere und Kinder müssen draußen bleiben

Also haben sie vor Ort mit den Behörden und lokalen Mitarbeitern nach alternativen Orten und Mitteln gesucht, die sich besser zur Koordination der Hilfsgüter eignen. „In einem vom Erdbeben schwer getroffenen Gebiet gab es einen Fußballplatz“, sagt er. „Ein perfekter Hubschrauberlandeplatz!“ Der Platz wurde von Bulldozern eingeebnet, es wurden Zäune erreichtet, um Tiere und Kinder am Zutritt zu hindern. Erstere fressen Nahrungsmittel weg, zweite laufen Gefahr, überfahren oder verletzt zu werden. Logistiker müssen improvisieren können und Erfahrung mitbringen.

„Dann musste ein Weg gefunden werden, die Waren aus dem Tal und bis hoch in zerstörte, schwer zugängliche Bergdörfer zu bringen“, sagt Bruno. Nach dem Erdbeben lag der Tourismus am Boden. Die meisten Touristen hatten das Land schnellstmöglich verlassen. Hunderte Esel und Maultiere, die normalerweise das Gepäck von Reisenden in die Berge tragen, waren arbeitslos. „Wir haben die Tiere gemietet und als Transportmittel benutzt“, sagt Bruno.

Stolz zeigt der Logistiker ein Foto. Große, weiße Zelte und Container auf einer platten Sandfläche. Innerhalb kürzester Zeit war der Fußballplatz in ein Hilfslager verwandelt worden. Genug Platz für die Annahme und Weitergabe von Hilfsgütern, Raum für Koordinationstreffen mit Kollegen anderer Hilfsorganisationen. Diese Entwicklung und diese Fotos hätte ich ohne Brunos Worte unspektakulär gefunden. Jetzt bin ich mit ihm stolz auf das, was er in Katmandu geleistet hat.

Fast wäre der Flughafen im Chaos versunken

Und ich kann verstehen, warum er sich bei Rania Al-Khatib vom GARD (Getting Airports ready for Disaster) -Programm der Deutschen Post DHL Group überschwänglich für die gute Zusammenarbeit in Nepal bedankt. Das Team der Deutschen Post DHL hilft nicht nur nach einer Katastrophe, sondern es bereitet auch Flughäfen in gefährdeten Regionen auf den Ernstfall vor. In Nepal etwa wurden lokale Mitarbeiter unter anderem darin geschult, wie man einen Gabelstapler fährt. „Ohne Gabelstapler inklusive Fahrer hätten wir die Paletten nicht von den Flugzeugen wegbekommen. Der Flughafen wäre innerhalb kürzester Zeit verstopft gewesen“, sagt Bruno. Immerhin wurde nach dem Erdbeben in drei Monaten so viel Fracht wie sonst in einem Jahr durch den Flughafen in Katmandu geschleust.

Nachdenklich hat mich Jürgen Mika gemacht, der das Cash Card System der Welthungerhilfe vorstellte. Das Konzept ist einfach: Statt Reis, Trinkwasser oder Decken bekommen die Menschen von der Welthungerhilfe Scheckkarten, mit denen sie in Geschäften zahlen oder Geld aus den umliegenden Bankautomaten ziehen können. Jürgen hat dieses System unter anderem für Flüchtlinge aus Syrien, die jetzt im Irak und der Türkei leben, eingeführt.

Als Jürgen von der Idee und den Erfahrungen mit Cash Cards erzählt, hören die Gäste mit skeptischen Mienen zu. Auch ich bin unsicher: Ist es gut, Geld zu verteilen? Auf der Leinwand sind Leute zu sehen, die Geld am Automaten abheben.

Ein Sack Reis hilft nicht in jeder Notlage

Ich kenne Fotos der Welthungerhilfe, auf denen sind Menschenmassen abgebildet, tausende Hilfsbedürftige stehen für Hilfsgüter an. Das Bankautomat-Bild wirkt im Vergleich dazu sehr undramatisch. „So haben Sie keine Kontrolle, was die Menschen mit dem Geld machen“, merkt eine Frau aus dem Publikum an.  „Was ist daran schlecht?“, fragt Jürgen. „Stellen Sie sich vor: Ihr Haus wurde ausgebombt, Ihre Familie ist tot, Sie sind wochenlang gewandert. Und dann komme ich und stelle Ihnen einen Sack Reis hin.“

Ich denke nach: Wie soll ich den Reis denn kochen ohne Topf und Wasser? Wie transportiere ich den schweren Sack? Über Jürgens Geschenk hätte ich mich also nicht gefreut. Nach einer strapaziösen Flucht hätte ich vielleicht lieber etwas anderes wie ein heißes Getränk oder eine Matratze zum Ausruhen gehabt. Sind wir in der Not wirklich alle gleich?

Jeder soll über sein eigenes Leben bestimmen dürfen

„Es hilft den Menschen, wenn sie selbst entscheiden können, was sie wollen. Das gibt ihnen ein wenig Würde zurück, die sie oft auf der Flucht und in einem überfüllten Lager verloren haben. Die eine Familie wird entscheiden, mit dem Geld einen Arztbesuch des kranken Kindes zu bezahlen, ein anderer wird warme Kleidung oder Heizmaterial wichtiger finden“, fährt Jürgen fort. Die Frau, die vorhin die Frage gestellt hat, blickt noch immer skeptisch. Mich hat Jürgen überzeugt. Jeder darf doch über sein eigenes Leben bestimmen. Besonders dann, wenn er in einer Notsituation ist …

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