Nothilfeteam in Nepal
„Ich liebe meinen Job – ich gehe dahin, wo ich gebraucht werde“
„Ich habe schon viele Nachbeben miterlebt. Ich war nach dem Tsunami in Aceh (Indonesien), das Erdbeben in Nias (Sumatra) habe ich sogar miterlebt! Ich saß am Schreibtisch oder lag im Bett, als es losging. Aber wenn du auf einer dünnen Matratze in einem Zelt liegst – das fühlt sich ganz anders an, viel bedrohlicher.“ Das ist Jürgens Reaktion auf die ersten Nachbeben, die er im nepalesischen Sindhupalchowk Distrikt mitbekommen hat, wo wir hingefahren waren, um Hilfsgüter zu verteilen. Am Ende unserer dreitägigen Tour sind wir daran gewöhnt und können nachts schlafen, ohne großartig durch die Erdbeben gestört zu werden.
„Es braucht Erfahrung, damit komplizierte Aufgaben Routine werden“
Jürgen Mika, Mitglied des Nothilfeteams der Welthungerhilfe, ist am 2. Mai in Nepal angekommen um Birgit Zeitler und Rüdiger Ehrler zu unterstützen. Die beiden waren unmittelbar nach dem starken Erdbeben in Kathmandu vor Ort, das am 25. April 2015 Nepal tief erschütterte. Über 8.000 Menschen sind aktuellen Angaben zufolge bei der Katastrophe ums Leben gekommen, rund 290.000 Gebäude wurden schwer beschädigt. Jürgen ist seit 2006 Teil des Nothilfeteams – er hat viele Naturkatastrophen, Kriege und extrem dramatische Zustände miterlebt. Notsituationen unterscheiden sich in ihren Auswirkungen, den Bedürfnissen der Bevölkerung und den kulturellen Besonderheiten vor Ort, die bei der Hilfsarbeit bedacht werden müssen. Was gleich bleibt, ist die Art, wie das Nothilfeteam funktioniert. Jürgen erklärt: „Wir sind Profis.“
Wir kennen die Abläufe und wissen, wie man anstehende Dinge erledigt. Es braucht Erfahrung, damit komplizierte Aufgaben Routine werden und du von Anfang an weißt, was du machen sollst.
„Logistik ist die größte Herausforderung“
Genauso lief es in Nepal. Nachdem er um 6 Uhr morgens in Kathmandu gelandet war, hatte Jürgen nur Zeit für eine kalte Dusche im Hotel (heißes Wasser bekamen wir erst später in der Woche) und um sich von Birgit und Rüdiger schnell auf den neuesten Standbringen zu lassen. Dann fuhr er sofort wieder zum Flughafen um am Treffen des Logistik-Clusters teilzunehmen. „Ich kenne in diesem Bereich mittlerweile sehr viele Menschen und weiß, zu wem ich gehen muss, wenn ich etwas brauche“, sagt er. Jürgen ist gut vernetzt, durch seine Kontakte konnte er sofort ein Satellitentelefon und BGAN-Satellitenmodem besorgen, mit dem wir auch in weit abgelegenen Dörfern Internetempfang haben.
In Nepal hat sich Jürgen hauptsächlich um die Logistik gekümmert, aber in den vielen Jahren in der Nothilfe hat er schon nahezu jede Aufgabe übernommen – je nach dem, was die Situation erfordert:
Jeder von uns ist in bestimmten Aufgabenfeldern spezialisiert, aber jeder muss eigentlich alles können, damit wir uns auch ersetzen können. Du musst flexibel und in der Lage sein, dich der Situation anzupassen, was auch immer sie erfordert“, erklärt er mir.
Die ersten zwei Tage in Kathmandu verbringt Jürgen am Flughafen, wo er darauf wartet, dass unsere Planen aus Dubai ankommen und sich um die Zollabwicklung und Lagerung kümmert. „Logistik“, sagt er „ist immer die größte Herausforderung in Notsituationen: Das Material ins Land zu befördern und sicherzustellen, dass es Empfänger erreicht. Ob nun kleine Inseln das Ziel sind, wie bei den Philippinen, oder die Infrastruktur komplett zerstört ist, wie auf Haiti, oder ob es Erdrutsche und schlechte Bergstraßen gibt, wie in Nepal – das Problem ist immer das Gleiche. Du musst wissen, wie du damit umgehst, aber auch Geduld haben, denn man muss oft lange warten.“ Als unsere Ladung endlich ankam, arrangierte Jürgen den Transport des Materials nach Sindhupalchowk; noch ein Abstecher beim Flughafen und er hatte uns ein paar Trucks vom World Food Programme gesichert.
„Ich nehme nicht die Bilder der Zerstörung mit, sondern die guten Dinge, die passiert sind“
Unser Weg in die Bergregionen von Sindhupalchowk lief nicht problemlos ab: Wir wussten nie, wo wir die Nacht verbringen würden, und mussten unsere Zelte immer im Dunkeln aufschlagen. Wir verbrachten Stunden im Auto, zusammengepfercht zu acht Leuten auf einer sehr holprigen Straße. Mehr als einmal mussten wir aussteigen, entweder damit das Auto über eine besonders unebene Stelle fahren konnte, oder um einen Pick-Up, der vor uns steckengeblieben war, weiterzuschieben. Während des letzten Streckenabschnitts musste Jürgen auf den Decken sitzen, die wir mit dem Truck transportierten, weil im Fahrerraum kein Platz mehr war. Aber die Straße war so schmal und löchrig – und die Abhänge so steil – dass er lieber abstieg und das verbliebene Stück Weg laufen wollte. Er kreuzte die Felder und schaffte es so zu den Dörfern, bevor der Truck sie erreichte. „Der Weg war sehr heftig, auch für jemand Erfahrenen wie mich. Aber ich wusste, dass ich darüber lachen werde, wenn ich zurück bin. Und genauso war es: Jetzt kann ich meiner Familie und meinen Freunden auf jeden Fall viele Geschichten erzählen, wenn ich wieder in Deutschland bin“, sagt er und lacht, als er sich an unsere Fahrt erinnert. Dieser Weg, meint er, wird seine schönste Erinnerung an seinen kurzen Aufenthalt in Nepal sein.
Am Ende ist nicht wichtig, was wir durchgemacht haben. Es kommt nur darauf an, dass wir die wirklich bedürftigen Menschen erreichen. Es war nicht einfach für uns, aber für sie war es in den letzten Wochen sehr viel schlimmer. Wir konnten ihnen Unterschlupf geben, etwas Komfort – das entschädigt mich für alle Schwierigkeiten, die wir auf dem Weg hatten.
„Wenn ich von einem Nothilfeeinsatz zurückkomme“, sagt er weiter „sind es nicht die Bilder der Zerstörung, die ich mitnehme, sondern die guten Dinge die passiert sind: die Unterstützung, die wir der Bevölkerung geben konnten, die Großherzigkeit und Freundlichkeit der Menschen, die ich getroffen habe.“ Das muss wohl der einzige Weg sein, um mit einem so fordernden Job klarzukommen, bei dem der emotionale Stress wahrscheinlich noch größer ist als der physische, denke ich mir.
Jürgen hat Nepal am 11. Mai wieder verlassen, nur zwei Tage nachdem wir aus Sindhupalchowk zurückgekehrt waren, wo er eine Verteilung von 2.000 Planen und Decken in den drei am weitesten abgelegenen Gebieten des Distrikts koordiniert hat. Nach einem kurzen Besuch zuhause, um seine Frau und seine beiden kleinen Mädchen zu sehen, fährt er weiter nach Pakistan für ein dreiwöchiges Training. Wo er danach hinreist, weiß er noch nicht – in den Irak oder in den Sudan vielleicht. „Ich weiß nie, was als nächstes kommt. Aber ich liebe meinen Job – also werde ich hingehen, wo ich gebraucht werde“, sagt er. Ich kann ihm ansehen, dass er es so meint. Sein Gehirn schaltet schon auf ein neues Land um, bereit für den nächsten Auftrag und die nächste Herausforderung.