Die inspirierende Geschichte von Mariam Khaled Mohammad.
„Manchmal funktioniert Objektivität einfach nicht“
Wie fühlen sich Menschen, die ein ganz normales Leben führten, bis sie eines Tages von einem grausamen Krieg überrascht wurden? Was bedeuten Vertreibung und existentielle Not? Stephanie Binder berichtet über die Schicksale von Menschen, die zur Flucht gezwungen wurden.
Auch nach sieben Jahren Syrienkrieg haben viele Menschen in Europa kein konkretes Bild von den Gründen, die Familien in Syrien und im Irak zur Flucht zwingen. Noch weniger davon, welches Leben sie danach erwartet. Viele denken automatisch an Kinder, die barfuß laufen, Menschen, die nur mit einer Plastiktüte fliehen. Doch Krieg betrifft alle Menschen aus unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen und mit verschiedenen Bildungsständen. Meine Aufgabe ist es, Geschichten einzufangen, die uns diese vielfältigen Schicksale verstehen lassen. Deshalb berichte ich über die Arbeit der Welthungerhilfe und die Menschen, die wir unterstützen.
Viele meiner Kolleg*innen und Freund*innen haben Schreckliches erlebt
Ich begegne Menschen, die direkt von Krieg und Armut betroffen sind, traumatisiert und ihrer materiellen Existenz beraubt: alte, junge, arme, reiche, religiöse, nicht religiöse, politisch oder nicht politisch gesinnte Syrer*innen sowie Iraker*innen. Viele meiner syrischen Kolleg*innen und Freund*innen haben Schreckliches erlebt, sie verloren Familienmitglieder und wurden selbst zu Flüchtlingen. Sie hatten die gleichen Träume wie ich und wie viele meiner Freund*innen in Europa. Doch im Gegensatz zu uns wissen sie, wie es sich anfühlt, wenn vor ihren Augen erst eine Revolution und dann ein Krieg ausbricht: Auf Hoffnung und Euphorie folgen Ernüchterung, Angst um die Familie, das eigene Leben, die Zukunft, Neuanfang in der Fremde, Diskriminierung.
Zusammenreißen und Abstand wahren
Bevor ich zur Welthungerhilfe kam, arbeitete ich bei einer amerikanischen Nachrichtenagentur und berichtete unter anderem über die Unruhen in Ägypten, den Bombenanschlag auf die iranische Botschaft im Libanon und den Gazakrieg 2014. Innerhalb eines Jahres starben drei meiner Kolleg*innen im Einsatz. Nichtsdestotrotz oder gerade deswegen lautete die Devise: Neutralität und Objektivität sind die obersten Gebote im Journalismus. Geschrieben wird mit Abstand zu den Schicksalen der Menschen. Zum Heulen geht man aufs Klo. Man reißt sich zusammen, schließlich ist der syrische Arzt, der unter Bombenhagel Kinder mit Schusswunden operiert, das Opfer. Nicht wir Kommunikationsprofis, die Bericht erstatten.
In meinem ersten Jahr bei der Welthungerhilfe habe ich gemerkt, dass es oft unmöglich ist, die Rolle der objektiven Berichterstatterin zu wahren. Eine syrische Frau im Südosten der Türkei bat mich, medizinische Dokumente ihres krebskranken Mannes aus dem Deutschen zu übersetzen. Er war Monate zuvor nach Deutschland geflohen. Nach dem medizinischen Gutachten, das sie mir in den Schoß legte, hatte ihr Mann nur noch sechs Monate zu leben. Eine andere Mutter erzählte mir, dass sie mit ihren beiden Söhnen auf der Straße Plastik sammelt und verkauft, um zu überleben. Im Irak besuchte ich eine Familie mit einem schwerkranken Sohn, der während unseres Gespräches einen epileptischen Anfall bekam. Medikamente können sich die Eltern nicht leisten.
Stärke, die Mut macht
Immer wieder beeindruckt mich die Haltung der Menschen, denen ich begegne, ihr Lebensmut trotz aller Widrigkeiten. Vor allem die Rollen vieler Frauen haben sich mit dem Krieg verändert. Sie beweisen eindrucksvolle Stärke und übernehmen oft Verantwortung für ganze Familien. So auch Mariam. Die 47-Jährige ist alleinerziehende Mutter von acht Kindern. Sie lebt in der irakischen Stadt Rabia. Ihr Mann wurde erst vom IS angeschossen und starb später an Krebs. Mariam erkrankte an Brustkrebs und kann ihren linken Arm nicht mehr bewegen.
Ich sitze auf dem Boden in einem kahlen Raum und möchte wissen, wie sie sich als Frau und alleinerziehende Mutter in einer erzkonservativen Gesellschaft behauptet. Ich frage sie, in welchem Alter junge Mädchen verheiratet werden. Sie sagt, mit etwa siebzehn Jahren. Ich schaue skeptisch, wissend, dass Viele viel jünger sind. Als ich nochmal nachfrage, verdunkelt sich Mariams Gesicht und sie beginnt zu weinen. Sie erzählt, dass ihre beiden Töchter aus erster Ehe von ihrem damaligen Mann mit elf und zwölf Jahren verheiratet wurden. Ihr Mann ließ sich scheiden und verwehrte ihr jeglichen Kontakt zu ihren Töchtern. Meine journalistisch antrainierte Objektivität ist in diesem Moment vergessen, meine Emotionen überwältigen mich für einen Moment. Mein irakischer Kollege, der mit der Übersetzung hilft, schaut mich betreten an.
Geschichten wie die von Mariam sind Teil von mir geworden. Sie bewegen und inspirieren mich. Bei allem Leid habe ich gelernt, dass es auch im grausamsten Krieg Hoffnung gibt. Kinder werden geboren, Hochzeiten und Schulabschlüsse gefeiert. Teenager hoffen auf eine bessere Zukunft: Ausbildung, eine Chance auf Arbeit und ein Leben in Frieden. Nie zuvor habe ich Menschen kennengelernt, die Krieg, Verlust und Zukunftsangst mit solcher Energie begegnen wie hier. Das macht Mut. Genauso wie die Geschichten über den Unterschied, den unsere Arbeit für die Menschen hier macht. Auch sie gibt es. Zum Glück.