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30.11.2016 | Blog

"Syrien ist immer in meinem Herzen"

Rana Taloo kommt aus Syrien und arbeitet an der türkisch-syrischen Grenze für die Welthungerhilfe. Im Blog schreibt sie, warum sie Kaffee vermisst und beim Anblick eines Mädchens weinen musste.

Eine Frau hängt Wäsche auf eine Leine.
Auf der Flucht vor Verfolgung und Krieg mussten viele, so auch diese Frau, ihre Heimat Syrien verlassen. Zurück geblieben sind persönliche Gegenstände wie das Lieblingskleid oder die Kaffeekanne. © Welthungerhilfe
Rana Taloo Landesbüro Türkei

Noch immer denke ich an das Kleid, das ich zurückgelassen habe, bevor es getrocknet war, und noch immer suche ich nach einem Balkon, der aussieht wie unser Balkon zuhause.

Es ist drei Jahre her, dass ich aus Aleppo in die Türkei gekommen bin, aber wenn ich über das Jahr 2013 spreche, sage ich immer noch „letztes Jahr“. Als ob die Zeit in einer nostalgischen Schleife hängengeblieben wäre, seit ich zum ersten Mal den Geruch von Kanonenpulver gerochen habe, seit ich alles mitgenommen habe, was ich retten konnte, und aus meinem Haus gerannt bin, während mein Herz an der Wäscheleine hängen blieb, neben meinem Lieblingskleid.

Die Gewürze schmecken hier nach nichts. Im Kaffee ist kein Kardamom.

Um halb sieben Uhr morgens verneigen sich die weißen Vorhänge vor der aufgehenden Sonne, die meine Träume unterbricht und meinem Wecker zuvorkommt. Wann werde ich mich an diese weißen Vorhänge gewöhnen und daran, dass diese Räume im Morgenlicht freudig leuchten? In meiner Stadt waren die Fenster nicht nur durch Vorhänge geschützt, wir verwendeten außerdem, was wir „Louvre“ nennen, eine Art Rolladen. Dies schützte nicht nur unsere Fenster  vor der Sonne, sondern auch uns voreinander.

Ich verfluche die weißen Vorhänge, die Louvres. Ich setze meine Schlafmaske wieder auf und versuche noch einmal einzuschlafen. Nachdem ich mich vergeblich in meinem Bett herumgedreht habe, gehe ich in die Küche und suche nach der Kaffeekanne.Meine Mutter sagt immer: „Ich wünschte, Du würdest einmal Kaffee kochen, ohne ihn über den ganzen Herd zu verschütten.“ Sie hat recht: Sobald der Kaffeelöffel in den blubbernden Kaffee taucht, verliere ich mich in diesem Duft. Plötzlich bin ich wieder in unserem großen Wohnzimmer, ich rieche den Jasmin und höre die Nachbarskinder, die auf dem Weg in die Schule sind, dazwischen meine jüngste Schwester, die laut darüber nachdenkt, was sie anziehen soll, und meinen Bruder, der seine Socken sucht. Und hinter all diesen Geräuschen höre ich aus dem Radio Musik von Fairouz: eine wunderschöne Symphonie, in der es keinen Missklang gibt.

Meine Arbeit ist ein Schmerzmittel, das mir hilft, zurechtzukommen

Plötzlich unterbricht die Kaffeekanne meine Symphonie. Wieder ist der Kaffee übergegangen, so wie mein Herz übergeht von Schmerz und Erinnerungen. Der Kaffee soll allein auskühlen, ich werfe die Tür hinter mir ins Schloss, es kümmert mich nicht. Unser Projektleiter hat gestern gesagt: „Versucht morgen pünktlich zu kommen, wir haben wichtige Arbeit vor uns.“

Meine Arbeit ist, was ich am meisten liebe, trotz meiner Skepsis gegenüber humanitärer Hilfe und meinem ständigen Wunsch, mehr als einen Nahrungsmittelkorb oder einen Beutel mit Reis zu haben, um die Würde eines Menschen zu wahren. Was wir anbieten, ist gut: eine ordentliche elektronische Karte, die mir nicht wehtut und für die Armen lebenswichtig ist.

Durch meine Arbeit bleibe ich nahe an Syrien, das immer in meinem Herzen ist. Sie ist meine Waffe gegen die Geografie und ein Schmerzmittel, das ich täglich, außer samstags und sonntags, von acht Uhr morgens bis fünf Uhr nachmittags nehme und das mir hilft, mit der Zerstörung und dem Tod zurechtzukommen, die uns über die Nachrichten erreichen.

Um 8:30 Uhr sind wir alle in den Büroräumen der NRO, für die wir arbeiten, wir reden und lachen durcheinander. Unser deutscher Chef betrachtet uns mit seinem freundlichen Gesicht. Er wiederholt in liebenswürdigem Ton seinen berühmten Satz und deutet dabei auf seine große Armbanduhr: „Macht euch einen Kaffee und kommt in den Besprechungsraum“.

„Ich habe noch nie geweint, bis ich dieses Gebäude gesehen habe“

Die Besprechung beginnt. Einige flüstern miteinander, einer scherzt mit seiner Freundin. Das geht so, bis wir bemerken, dass die grünen Augen unseres Chefs gerötet sind. Die Blässe seines Gesichts setzt der leichtsinnigen Atmosphäre ein Ende. Auf einmal ist es still, alle Augen sind auf ihn gerichtet, er hat die ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Wir haben von einem eurer Kollegen die Information erhalten, dass am Rande von Gaziantep ein Gebäude steht, in dem fast 180 syrische Familien unter unmenschlichen Bedingungen leben … Ich will, dass sie alle registriert werden, unabhängig von unseren Registrierungskriterien, und ich will, dass ihr gut auf euch aufpasst, wenn ihr dort seid – es ist ein unmenschlicher Ort.“ Ein türkischer Kollege unterbricht ihn: „Ich habe noch nie geweint, bis ich dieses Gebäude gesehen habe.“

Die Besprechung endet ganz anders als sie begonnen hat. Wir verlassen den Raum, ohne zu sprechen, jeder begibt sich zu seinem Spind, um seine Uniform anzuziehen. Es ist kalt. Kalt wie zu Neujahr oder zu Weihnachten: eine strenge Kälte, die in die Knochen der Einsamen kriecht. Ich ziehe Arbeitsstiefel an und gehe nach draußen.

Auf dem Weg versuche ich mir das Gebäude vorzustellen. Nachdem ich es zum ersten Mal gesehen habe, helfen mir diese Vorstellungen nicht: Mein Mund steht offen, minutenlang. Ein riesiges Gebäude. Kalt wie ein Leichenschauhaus oder ein Internierungslager.

Ich gehe langsam, meine Augen tasten die Dimensionen ab, die so unverhältnismäßig sind. Das ist Gaziantep. Hier leben etwa 180 Familien, die vor dem Tod geflohen sind, um hier auf eine andere Art tot zu sein. Alles ist hier anders. Alles sieht schrecklich aus.

In der Luft hängt ein unerträglicher Geruch. Es ist der Geruch, den die Heizöfen verursachen. Um Wärme zu erzeugen, wird alles verbrannt, sogar Abfall. Ich kann nichts dagegen tun, als ich mich frage, ob nicht die Kälte gnädiger ist als der Gestank.

Je höher wir hinaufgehen, desto mehr Elend finden wir vor

Räume, in denen die Atemluft steht. Hilflose Kinder, die mit Stromrechnungen und Brotfragen beschäftigt sind und keinen Platz zum Spielen haben. Es gibt weder Türen noch Fenster. Die vielen Familien, die sich einen Raum teilen, sind nur durch Vorhänge voneinander getrennt.

Ich schäme mich, weil ich mich über die sauberen, weißen Vorhänge beschwert habe, wegen denen ich vor dem Wecker aufwache. Je höher wir hinaufgehen, desto kälter wird es, desto mehr Elend finden wir vor. Das sind keine Räume, sondern Löcher mit Vorhängen. Keine Küche, kein Badezimmer. Nur zusammengepferchte Menschen zwischen Wänden und keine Luft dazwischen. Mühsam bewegen wir uns von einem Loch zum nächsten, um diese Menschen zu registrieren. Ich hebe einen neuen Vorhang und sehe: ein junges Mädchen, seine Besonderheit und seine Tragödie.

Sara, ist sieben Jahre alt und sieht viel jünger aus, als sie tatsächlich ist. Ihre Augen sind sehr groß. Ihr Haar ist stark und glänzend, obwohl ihr Körper so schwach ist. Ihre Kleider sind alt und geflickt, aber sehr sauber. Voller Verzweiflung sieht sie zu mir hoch, während ich lächle und ihr meine Hand entgegen strecke. Sie versteckt sich zwischen den Beinen ihrer Mutter und beginnt zu weinen. Ich will zu ihr, aber ihr Weinen wird mit jedem Schritt, den ich auf sie zu gehe, heftiger und hält mich davon ab, mich weiter zu nähern.

„Sie denkt nicht daran, zu spielen oder in die Schule zu gehen“

Sara lebt mit nur einer Niere. Ihr Fuß ist geschwollen und kann kaum bedeckt werden. Ihre kleinen Füße sind deshalb im Sommer wie im Winter nackt. „Weißt Du, warum Sara weint?“, fragt ihre Mutter. „Jedes Mal, wenn sie einen fremden Menschen sieht, denkt sie, man will sie ins Krankenhaus bringen. Sara denkt nicht daran, zu spielen oder in die Schule zu gehen. Sie träumt nur von einem Paar kleiner Schuhe und einem Tag, an dem sie nicht ins Krankenhaus muss.“

Ich stürme aus dem Zimmer, mein Gesicht ist nass von Tränen. Ich will meine Arbeit schnell beenden, damit ich Zeit mehr habe, Sara noch einmal zu sehen. Ich frage mich, ob sie noch immer weint.

Ich habe Glück und sehe Sara wieder. Vorsichtig hebe ich den Vorhang, als ihre Mutter ruft: „Sara, komm, sie sind zurück“. Als ob Sara auf uns gewartet hätte. Als ob sie gespürt hätte, dass ihre Hilferufe sich in mein Herz gebohrt haben. Scheu steht sie hinter ihrer Mutter und lächelt. Wieder versuche ich, sie anzufassen. Sie umarmt mich. Es fühlt sich an, als würde Gott mich umarmen!

Das Lieblingskleid passt vielleicht gar nicht mehr

„Schau, Tante, ist mein Haar nicht wunderschön?“
„Dein Haar ist prächtig wie das einer Meerjungfrau.“
„Tante, ich fürchte mich nicht mehr vor fremden Leuten und ich will auch wieder zur Schule gehen.“
„Und ich will mich nicht länger über die Vorhänge beschweren und will auch keine Gewürze mehr in meinem Essen und ich will Kaffee ohne Kardamom lieben.“
Sara lächelt, nicht weil sie versteht, was ich sage, sondern weil sie es spürt.
„Komm uns immer wieder besuchen, Tante.“

Ich werde Sara nie vergessen. Ich werde ihre schönen, kranken Augen nicht vergessen. Ich werde ihren grausigen Fuß nicht vergessen. Ich werde die Heiserkeit ihrer Stimme nicht vergessen, als sie so entzückend mit mir plauderte, nachdem sie zu weinen aufgehört hatte. An diesem Tag schloss ich Frieden mit meinen Vorhängen und beschloss, meinen neuen Balkon zu lieben und mit Blumen zu bepflanzen. Und mein Lieblingskleid, das noch immer an der Wäscheleine hängt, passt mir vielleicht gar nicht mehr. Ich werde mir ein neues Lieblingskleid suchen.

Solange du jeden Tag deine Schuhe tragen kannst, lächle und lerne von Sara etwas über das Leben.

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