Ursachen und Hintergründe
Simeulue: Auf die Berge, wenn die Erde dreimal bebt
85 Kilometer vom Tsunami-Epizentrum entfernt starben nur zwei Menschen, weil eine Geschichte über Generationen weitergegeben worden war.
„Bei uns weiß jedes Kind, dass man auf die Berge laufen muss, wenn es dreimal hintereinander heftig bebt oder wenn das Wasser sich zurückzieht”, erzählt Lilis Abonita. Die Mutter eines zweijährigen Sohnes sitzt in ihrem neu ausgebauten Haus auf der Insel Simeulue. Die Wände sind in frischem Grün gestrichen, auf dem Laminatboden liegt ein Teppich, die Fenster sind von gerüschten Vorhängen eingerahmt. Sogar eine Schrankwand steht im Wohnzimmer.
Das Meer nahm den Menschen ihre Existenz
Lilis Abonita hatte schon vor der Katastrophe einen kleinen Kiosk direkt am Meer. Kaffee und Nudelsuppen verkaufte sie dort. Am 26. Dezember 2004 will sie Neueröffnung feiern: Sie hat den Kiosk um ein paar Tische zu einem Restaurant erweitert. Doch dann bebt die Erde, heftig wie nie zuvor. Ihr Vater geht die wenigen Schritte hinunter ans Meer und sieht, wie das Wasser sich zurückzieht. Er rennt zu seiner Familie und schreit: „Lauft, lauft!” Auf halber Höhe des grünen, dicht bewachsenen Berges hinter dem Dorf sehen sie das Meer kommen. Die Welle, die ganz schwarz ist und so hoch wie zwei Kokospalmen. Lilis Abonita sieht ihr Restaurant davonschwimmen, die neuen Tische und Stühle – ihre ganze Existenz.
Lilis Abonita und ihre Familie haben nichts mehr außer den Kleidern, die sie am Leib tragen. Aus altem Holz, den umgefallenen Palmen und Brettern, die das Meer angeschwemmt hat, zimmert ihr Mann Mohan Simatupang am Fuß des Berges eine Hütte. Nach fünf Monaten wagten sie sich wieder nach Hause. Am Anfang war es schwer. Doch dann erhielt die Familie eines der Häuser, die die Welthungerhilfe auf Simeulue gebaut hat, und zwei Millionen Rupiah (etwa 130 Euro) als Startkapital für ihr neues Restaurant.
Nothilfe und Wiederaufbau in Indonesien
Die Welthungerhilfe hat nach dem Tsunami in Indonesien 23,3 Millionen Euro investiert: in Häuser, Schulen und Brunnen, in Saatgut, Kühe und Kleinkredite, um den Menschen beim Neuanfang zu helfen. Auf der abgelegenen Insel war vor allem die Materialbeschaffung schwierig, erzählt René von Prondzinski, der zehn Monate auf der Insel Häuser baute. Alles musste per Fähre in neun Stunden Fahrt herangeschafft werden. 150 Übergangshäuser aus Holz hat die Welthungerhilfe errichtet und 310 stabile, erdbebensichere Häuser in Metall- und Leichtbauweise. Viele der 36 Quadratmeter großen Häuser sind bunt gestrichen. Manche Bewohner haben einen Garten angelegt, andere ihr Häuschen erweitert wie Lilis Abonita, die inzwischen zwei weitere Zimmer und einen überdachten Durchgang zum Restaurant hat.
Und wenn die Erde wieder bebt? „Dann renne ich eben wieder.” Eine Tasche für Notfälle hat Lilis Abonita immer gepackt.
Andrea Kümpfbeck ist Ressortleiterin bei der "Augsburger Allgemeinen". Den ungekürzten Artikel finden Sie in der Welternährung 4/2014.