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28.03.2018 | Gastbeitrag

Geschichten sammeln im Krisengebiet

Kommunikationsexpertin – und Mensch. Stephanie Binder ist für die Welthungerhilfe in Syrien, der Türkei und dem Nordirak im Einsatz.

Stephanie Binder im Irak
Für die Welthungerhilfe im Einsatz: Die Kommunikationsreferentin Stephanie Binder (Mitte) interviewt Anwohner im Talkaif in der Nähe von Mossul. Die Welthungerhilfe baut in dem irakischen Ort zerstörte Wasserleitungen wieder auf. © Welthungerhilfe
Harun Atmaca Gießener Anzeiger

Mücke/Gaziantep. Seit sieben Jahren tobt der Krieg in Syrien. Rund 5,6 Millionen Menschen sind in die Nachbarländer geflohen. Die Kommunikationsreferentin Stephanie Binder aus Mücke ist seit Januar 2017 für die Welthungerhilfe in der türkischen Stadt Gaziantep nahe der syrischen Grenze im Einsatz. Zu ihren Aufgaben gehören die Medien- und Öffentlichkeitsarbeit: Sie sammelt vor Ort und im Nordirak Geschichten, schreibt Reportagen, unterstützt Projektkollegen bei Interviewanfragen und begleitet Journalistenreisen in die Region. Per Telefon-Interview gibt sie dem Anzeiger einen Einblick in ihre Arbeit.

Frau Binder, Sie haben Nahostwissenschaften studiert und sprechen Arabisch. Seit 2013 reisen Sie regelmäßig in diese Krisenregion. Was fasziniert sie so sehr am Nahen Osten?

Ich habe während meines Bachelorstudiums in den USA angefangen, Arabisch zu lernen. Ich dachte, ich mach das mal so nebenbei, was natürlich totaler Irrsinn war, weil das super anstrengend ist. Über die Sprache habe ich ein Interesse für die Region entwickelt und habe dann auch ein paar Kurse über die amerikanische Außenpolitik in der Region belegt. Man bekommt über die Sprache einen Zugang, der sehr vielfältig ist: die Kultur, die Musik, das Essen. Es geht dann gar nicht mehr nur um politische Themen. Wie das so ist, wenn man sich für etwas interessiert, umgibt man sich zunehmend mit Menschen, die sich auch dafür interessieren. Ich hatte nach einer Weile viele Freunde aus dieser Region: Syrer, Palästinenser, auch schon vor dem Arabischen Frühling 2011.

Danach reisten Sie regelmäßig in den Nahen Osten?

Erst seit 2013 war ich regelmäßig in der Region. Ich war sehr oft im Libanon, auch bevor ich 2014 schließlich nach Beirut gezogen bin, um mein Arabisch zu verbessern. Ich war aber tatsächlich auch im August 2011 in Ägypten, um einen Freund zu besuchen. Ich war mit einer Freundin unterwegs und es war richtig toll, wir haben super Erfahrungen gemacht. Die Leute haben sich sehr gefreut, dass wir da waren. Wie man sich vorstellen kann, waren überhaupt keine Touristen zu der Zeit dort. Im August geht erst mal kein normaler Mensch nach Kairo, wenn es gefühlte 55 Grad dort sind. Und so kurz nach den Unruhen traute sich niemand nach Ägypten.

Hatten Sie keine Bedenken wegen der Sicherheit?

Ich habe mir gar nicht so große Gedanken darüber gemacht, dass das zu diesem Zeitpunkt vielleicht keine so gute Idee ist. Meine Entscheidungen waren immer sehr von meinem Interesse gelenkt, wobei ich auch niemand bin, der die Gefahr sucht. Absolut nicht. Ich denke, man muss bei solchen Reisen sehr gut auf sich aufpassen, aber ich war nie in einer Situation, die brenzlig war. Es gab zu dem Zeitpunkt nur noch kleinere Proteste auf dem Tahir-Platz. Und überall sah man Polizei und Militär.

Wie sind Sie zur Welthungerhilfe gekommen?

Ich habe während meines Masterstudiums in London für die Associated Press (AP) als Nachrichtenassistentin und später als feste Redakteurin gearbeitet. Nach etwa zweieinhalb  Jahren habe ich gekündigt und bin nach Beirut gezogen. Als ich 2015, nach einem Jahr und zur Hochzeit der Flüchtlingskrise, nach Deutschland zurückkehrte, habe ich mich ehrenamtlich bei der Diakonie in Gießen engagiert. Mein Ziel war es aber, relativ schnell wieder zurück in die Region zu gehen, und das hat sich mit dem Job für die Welthungerhilfe dann auch ergeben. 

Kinder zusammen auf der Flucht mit ihren Eltern - in einem von der Welthungerhilfe unterstütztem Flüchtlingscamp in der Region Idlib haben sie zeitweise Zuflucht gefunden. © Hand in Hand for Syria
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Cash Cards in der Türkei: Mit den Geldkarten können syrische Flüchtlinge im Supermarkt einkaufen, was sie benötigen. © Martin Stollberg
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Die Welthungerhilfe engagiert sich schon seit vielen Jahren in der Region. Hier zu sehen ist eine Projektschule in Mardin in 2014. © Ralph Dickerhof
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Syrische Bauern pflanzen auf türkischem Boden Paprika und Tomaten an, um sie auf dem lokalen Markt zu verkaufen. © Martin Stollberg/Welthungerhilfe
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In einem Fotoprojekt der Welthungerhilfe entwickeln syrische und türkische Kinder gemeinsam Bilder – und Freundschaften. © Welthungerhilfe
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Was sind Ihre Aufgaben in Gaziantep?

Ich bin für die Öffentlichkeitsarbeit und die Medienarbeit in der Region zuständig, das heißt für die Türkei, Syrien, Libanon und den Irak. Unser Büro ist in Gaziantep, ich reise aber auch regelmäßig in den Irak. Ich interviewe Menschen, sammle Geschichten, mache Fotos und schicke diese dann an meine Kollegen in Bonn für den Einsatz in der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit und soziale Medien in Deutschland. Ich besuche außerdem regelmäßig unsere Projekte in Kahramanmaras, Mardin und Hatay, wo wir zum Beispiel syrische Familien mit Bargeldkarten unterstützen. Und ich betreute Journalistenbesuche. Mein allererster Journalistenbesuch war übrigens gleich mit Hans-Ulrich Gack vom ZDF im Irak, das war meine Feuertaufe bei der Welthungerhilfe.

Können Sie sich im Nordirak frei bewegen? Fühlen Sie sich sicher?

Die Welthungerhilfe hat sehr strenge Richtlinien, was Sicherheit angeht. Wir sind nicht in Gegenden unterwegs, wo unsere Sicherheit nicht gewährleistet werden kann. Natürlich geht man in einer gewissen Weise in solchen Regionen immer ein Risiko ein, aber wir analysieren ständig die Situation vor Ort. Grundsätzlich kann ich mich aber sehr frei bewegen. Wir haben natürlich auch Fahrer und lokales Personal, das sich in den Gegenden auskennt.

Welche Aufgaben nimmt die Welthungerhilfe in der Türkei wahr?

Anders als in Syrien, wo die Welthungerhilfe im achten Jahr des Krieges noch humanitäre Nothilfe in Idlib und im Westen der Provinz Aleppo leistet, konzentriert sich die Arbeit in der Türkei immer mehr darauf syrische Flüchtlinge, die nicht in den Camps untergebracht sind, dabei zu unterstützen sich in der Türkei zurechtzufinden. In der Türkei gibt es beispielsweise gute staatliche und nicht-staatliche soziale und gesundheitliche Leistungen für Syrerinnen und Syrer, viele von ihnen haben jedoch aufgrund von fehlenden Sprachkenntnissen und fehlenden Kenntnissen über die administrativen Prozesse Probleme, sich für diese Leistungen zu registrieren. In Zusammenarbeit mit türkischen Behörden und Organisationen helfen wir den Menschen, Dokumente auszufüllen, übersetzen, begleiten sie zu Behördenbesuchen und klären sie über ihre Rechte und Pflichten in der Türkei auf. Flüchtlinge leben hier auf sehr unterschiedliche Weise. Es gibt Leute, die ihre Ersparnisse mit in die Türkei nehmen konnten, die in eigenen Wohnungen leben und ein relativ normales Leben haben. Es gibt aber auch Menschen, die in sehr armen Verhältnissen leben. Da fehlt es an fast allem. Diesen Menschen helfen wir beispielsweise mit Bargeldkarten. 

Der Hauptteil der geflohenen Syrer ist in den Nachbarländern, nicht in Europa. Das wird oft vergessen.

Stephanie Binder, Kommunikationsreferentin für Syrien, Türkei, Libanon & Irak

Wie funktioniert das?

Die Menschen kriegen eine mit einem gewissen Betrag aufgeladene Geldkarte, mit der sie dann in Geschäften einkaufen gehen können und Lebensmittel und Artikel des täglichen Bedarfs wie etwa Hygieneartikel kaufen können. So gibt man den Menschen ein Stück Würde zurück, da sie selber entscheiden können, was sie für ihr tägliches Leben am nötigsten brauchen. Zigaretten oder Süßigkeiten kann man mit diesen sogenannten Cash Cards nicht kaufen.

Wie ist die Situation aktuell vor Ort? 

Im Moment ist das große Thema Syrien, da wir uns mittlerweile im achten Jahr des Krieges befinden. Natürlich ist aktuell die humanitäre Situation in Syrien sehr schlimm. Vor allem die Zivilbevölkerung leidet sehr darunter. Es gibt immer noch Kampfhandlungen, vor allem Luftangriffe. Die Menschen sind auch nach sieben Jahren noch immer auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die meisten Menschen in Syrien wurden mehrmals vertrieben. Ich hatte auch diese Woche wieder eine Geschichte auf dem Tisch von einem Familienvater, der mehrere Male mit seiner Familie vor Kämpfen fliehen musste. Er sagte – das fand ich sehr berührend –, dass er jeden Morgen vor der kleinen Hütte in Idlib sitzt, wo er mit seiner Familie untergekommen ist, und überlegt, wie er seine acht Kinder sattbekommt. Oft isst er dann selbst nichts, damit wenigstens die Kinder genug Nahrung haben. 6,5 Millionen Syrerinnen und Syrer können sich nicht ohne Hilfe ernähren, weitere 4 Millionen sind von Hunger bedroht.

Seit 2011 herrscht Bürgerkrieg in Syrien an. Millionen von Menschen sind auf Hilfe angewiesen. So schafft die Welthungerhilfe Perspektiven.

Ist es nicht auf Dauer belastend für Sie, ständig mit solchen Geschichten konfrontiert zu werden?

Diese Geschichten gehen natürlich nicht spurlos an einem vorbei. Man kann sich aber auch nicht bei jeder Geschichte seinen Emotionen hingeben, dann könnte man seine Arbeit nicht mehr machen. Es ist aber auch in Ordnung, wenn man davon berührt ist, vor allem, wenn man in einem Kontext arbeitet wie hier. Auch viele meiner Kollegen in der Türkei sind selber syrische Flüchtlinge, was insofern hilft, da man Leute hat, mit denen man solche Sachen besprechen kann. Aber ich hatte zum Beispiel auch schon eine Situation im Irak, wo wir im Rahmen eines Journalistenbesuches eine Frau in einer sehr konservativen Stadt im Nordirak besucht haben. Sie war die einzige Frau, die sich zu einem Interview bereit erklärt hat. Sie war sofort einverstanden, dass wir Bilder machen, und erzählte uns, dass sie einen Pakt mit ihrer ältesten Tochter geschlossen hat, dass sie erst heiraten darf, wenn sie ihre Universität abgeschlossen hat. Da wurde ich neugierig und habe diese Frau ein paar Tage später noch mal besucht und interviewt. 

Mit welchem Ergebnis?

Es stellte sich heraus, dass sie eine sehr tragische Geschichte hat: Ihr Mann wurde vom IS angeschossen und starb wenig später an Krebs. Die Frau hatte aus ihrer ersten Ehe zwei Töchter, die von ihrem zweiten Mann mit elf und dreizehn Jahren verheiratet wurden. Sie hat diese Töchter danach nicht mehr gesehen. Der Mann hat ihr verboten, ihre Töchtern wiederzusehen und ließ sich scheiden. Wenn man dann da sitzt und so eine Geschichte hört von einer Frau, die wirklich unglaubliches Leid erlebt, aber trotzdem optimistisch und stark ist, dann wird man auch schon mal kurz von seinen Emotionen überwältigt. Dann ist man in dem Moment nicht mehr nur jemand, der da sitzt und jemanden interviewt, sondern man ist eben Mensch. 

Wie weit ist das Land nach sieben Jahren noch vom Frieden und vom Wiederaufbau entfernt?

In Deutschland wurde Ende letzten Jahres bei meinem letzten Besuch viel von Wiederaufbau gesprochen, das sehen wir hier noch nicht so. Ein Wiederaufbau kann nur auf der Basis einer politischen Lösung stattfinden. Die muss nachhaltig sein und sich auf eine Befriedung des Landes konzentrieren.  Da ist die internationale Gemeinschaft gefragt. Die Menschen in Syrienbrauchen dringend Frieden. 

Wie lange werden Sie noch in der Türkei bleiben?

Das kommt ganz auf die weitere Entwicklung und die Welthungerhilfe an. Natürlich sehen wir, dass in der Türkei und im Libanon noch Bedarf für unsere Arbeit besteht. Der Hauptteil der geflohenen Syrer ist in den Nachbarländern, nicht in Europa. Das wird oft vergessen.

Erst-Veröffentlichung dieses Interviews im Gießener Anzeiger 

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