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05.02.2015 | Gastbeitrag

Den Winter überleben, auf Frieden hoffen

Meine Strümpfe sind mir peinlich. Sie müffeln nicht, haben keine Löcher, und schmutzig sind sie auch nicht. Schöne, dicke, graue Wollsocken – schließlich ist es Winter und kaum fünf Grad tagsüber.

Syrische Flüchtlinge in einem Lager, zwei Kinder wärmen sich an einem Feuer
Kälte, Nässe, schneidender Wind. Den Winter über in Zelten im Flüchtlingscamp zu übernachten, ist hart. © Dickerhof
Ralph Dickerhof Journalist

Nein, das Problem mit meinen Socken ist, dass ich sie anhabe – während meine Gastgeber mich barfuß empfangen. Mit nackten Füßen über die feuchten, klammen Matten in den Zelten. Oder auf kaltem Steinboden, wie hier in diesem Ladenlokal in der türkischen Stadt Kilis. Walaa M. empfängt mich in ihrem neuen Flüchtlingsdomizil, die Schuhe bleiben draußen, die junge Frau entschuldigt sich, dass sie keinen Tee anbieten kann.

Wie bei so vielen anderen syrischen Flüchtlingen spüre ich bei der 27-Jährigen ihr Unbehagen über die durch widrige Umstände verhinderte Gastfreundschaft. Walaa ist Lehrerin, mit ihrem Mann und Sohn Mohammed ist ihr in letzter Sekunde die Flucht aus Aleppo gelungen. Leise sagt sie mir, was ich so oder ähnlich oft höre auf dieser Reise: „Erst die ständigen Bomben, dann diese IS … es wurde einfach zu viel für uns.“ Während ihrer Entbindung vor einem Jahr seien Bomben ganz in der Nähe eingeschlagen. Sie lächelt verlegen, greift nach der Hand ihres Babys. Und zeigt mir schließlich schlimme Bilder auf ihrem Smartphone: Ruinen ihres ehemaligen Wohnhauses.

Gerade noch so entkommen, wochenlang auf der Flucht

Nun, nach Monaten Unterschlupf in einem entwürdigendem Loch, wohnen sie seit einer Woche zur Untermiete in diesem Neubaugebiet. „Ich bin glücklich, hier regnet es wenigstens nicht rein, und es zieht auch weniger!“ Für die Miete von 300 Türkische Lira (umgerechnet ca. 107 Euro) im Monat darf man das auch erwarten. Walaas Ehemann arbeitet derzeit als Tagelöhner auf dem Bau, wenn er Glück hat, verdient er dabei 40 Türkische Lira am Tag, umgerechnet keine 15 Euro. Und wesentlich weniger als seine türkischen Kollegen, die über die billige Konkurrenz nicht erfreut sind.

Auf meiner Reise von West nach Ost, entlang der türkisch-syrischen bzw. dann türkisch–irakischen Grenze, fällt mir auf, dass in der Türkei meistens Flüchtlinge aus direkt angrenzenden syrischen Gebieten ankommen. Kurze Wege, Hauptsache raus aus der Kriegshölle. Hier, in der mittelgroßen Stadt Kilis, sind es rund 40.000 Frauen, Männer und Kinder aus Aleppo. Obwohl ich dort noch nie war, scheine ich diese syrische Stadt gut zu kennen – aus den Nachrichten, hart umkämpft seit Jahren. Was da überhaupt noch stehen mag?

Zu Besuch bei den geflohenen Bewohnern von Kobane

Für die leider noch „berühmtere“ Grenzstadt Kobane stellt sich diese Frage kaum noch. Nach der erst vor kurzem stattgefundenen Rückeroberung ist klar: Die Stadt gleicht einer Trümmerwüste. Nachdem sie vom „Islamischen Staat“ im vergangenen Herbst überfallen und besetzt wurde, sind die Bewohner in die türkische Grenzstadt Suruc geflohen. Sie ist so nah, dass ich beim Besuch im Flüchtlingslager jede Bombe hören kann, die in Kobane explodiert. Für mich ist das schon nicht schön. Wie furchtbar muss es erst für die geflüchteten Menschen sein, diese schrecklichen Kriegsgeräusche zu hören? Es sind ihre Häuser, die da in Schutt und Asche gehen.

So wie das von Adle G., ich treffe die 53-Jährige in ihrem Zelt, wo sie mit ihren Enkeln lebt. Vor dem Krieg hatte die Familie ein Haus am Rande von Kobane gebaut. „Da ist jetzt nichts mehr, nur noch Staub und Trümmer“, seufzt die gezeichnete Kurdin. Einen Sohn habe sie im Kampf verloren, ein anderer kämpfte für die Rückgewinnung. Es ist kurz nach vier Uhr, es dämmert, die feuchte Kälte kriecht in das Zelt, da helfen auch innen aufgespannten Decken wenig. Adle entschuldigt sich, dass sie kein Licht hat, aber zwei Kerzen würden ja eine türkische Lira kosten.

Der Krieg ist in Sicht- und sogar in Hörweite. Außerhalb von Suruc liegt dieser Hügel, von dem aus man einen prima Ausblick nach Süden hat. Hier stehen also die TV-Kameras, die die Bilder in unsere Wohnzimmer liefern. Ich komme mir ein wenig vor wie ein Voyeur, das Wort „Zaungast“ kommt mir in den Sinn. Neben mir steht eine Gruppe syrischer Männer mit Handys; sie sind aufgeregt, versuchen wohl, Kontakt zu Nachbarn oder Verwandten „drüben“ aufzunehmen.

Der größte Teil der syrischen Flüchtlinge lebt, anders als die Bilder es vermuten lassen, überhaupt nicht in Camps.

Klar, denen begegnet man allerorts im Grenzgebiet. Doch für die unvorstellbar große Zahl an geflohenen Menschen insgesamt kann die Türkei unmöglich Zelt- oder Containerdörfer bauen. Was eben auch bedeutet, dass man die große Masse der syrischen und irakischen Flüchtlinge erst einmal gar nicht sieht! 400.000 sind es alleine in Gaziantep, einer 1,8 Millionen Stadt. Wahnsinn, das sind weit mehr Flüchtlinge als meine Heimatstadt Bonn insgesamt Einwohner hat! Mir kommt die Diskussion in Deutschland in den Kopf, die Millionenstadt Köln hat derzeit etwa 5.000 Flüchtlinge aufgenommen. Unfassbar.

Ich begleite ein kleines Team der Welthungerhilfe bei einer Verteilung von Winterkleidung. Zwei kleine LKWs kämpfen sich durch enge, verwinkelte Gassen. Hier hinter einem Verschlag, dort in einem Keller, da drüben im muffigen Hinterhof – dort finden die Flüchtlingsfamilien einen Unterschlupf und „Schutz“. Dank einer lokalen Partnerorganisation der Welthungerhilfe sind die Adressen der bedürftigsten Familien bekannt.

Zu Besuch bei Flüchtlingsfamilien: Türen öffnen sich, vorsichtige Blicke.

ID-Karten werden herausgegeben, die die Menschen als offiziell registrierte Flüchtlinge ausweisen. Ein rund 20 Kilogramm schwerer Sack wird übergeben, prall gefüllt mit Thermounterwäsche, Mützen, Schals, Decken und Pullovern. Der Inhalt ist auf eine durchschnittliche Familie abgestimmt, dazu gibt es noch jeweils vier Schaumstoffmatratzen. Neugierige Kinder zeigen sich, mit großen Augen werden die helfenden Besucher begutachtet. Eine kleine Abwechslung im tristen Alltag, nur die wenigsten Kinder können hier eine Schule besuchen. Ihre Eltern zeigen sich dankbar für die Winterhilfe aus Deutschland, aber auch reserviert: fotografiert oder zitiert werden wollen nur wenige; wer weiß, wo diese Bestien (Anm. Anhänger der IS) überall stecken, höre ich.

Den Winter überleben – das ist das Gebot der Stunde.

Ich treffe Familien auf der Flucht, die diese Herausforderung nun bereits das zweite, dritte und vierte Mal annehmen müssen. Und der Winter verdient hier wirklich seinen Namen, zweistellige Minustemperaturen inklusive. Doch es kommt eben auf eine Perspektive an, und die heißt bei so ziemlich allen, mit denen ich sprechen konnte: Frieden für die Heimat, Rückkehr, Wiederaufbau. Und weil es derzeit in den Sternen steht, ob und wann das schwer gebeutelte Bürgerkriegsland Syrien zur Ruhe kommen wird, bleibt den Millionen Flüchtlingen vor allem eins: die Hoffnung nicht aufzugeben.

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