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11.10.2018 | Gastbeitrag

Vier Fehlannahmen über Flucht und Hunger

Hunger und Vertreibung werden durch Naturkatastrophen wie Dürren verursacht? So einfach ist das nicht. Fehlannahmen über Flucht, Vertreibung und Hunger behindern die Bekämpfung der tatsächlichen Fluchtursachen, schreibt Dr. Laura Hammond.

Flüchtlinge der Rohingya aus Myanmar überqueren die Grenze nach Bangladesch
Flüchtlinge der Rohingya aus Myanmar überqueren die Grenze nach Bangladesch im November 2017. © Daniel Pilar
Dr. Laura Hammond SOAS University of London

Auf der ganzen Welt sind Menschen gezwungen, ihr Zuhause zu verlassen. Schätzungsweise 68,5 Millionen Menschen sind auf der Flucht vor Konflikten, Gewalt, Naturkatastrophen oder von Menschen verursachten Katastrophen. Hunger ist eine anhaltende Gefahr, die das Leben zahlreicher vertriebener Menschen bedroht und Einfluss auf die Entscheidung hat, wann und wohin sie fliehen. Hunger kann sowohl Ursache als auch Folge von Flucht und Vertreibung sein.

Vier Fehlannahmen und vier Lösungen

Vier geläufige Fehlannahmen über Flucht, Vertreibung und Hunger halten sich hartnäckig und beeinflussen nach wie vor die Politik, obwohl sie nachweislich unzutreffend sind. Sie behindern die Bekämpfung von Fluchtursachen und die Erarbeitung wirksamer Lösungen:

1. Hunger und Vertreibung sollten als politische Probleme begriffen und behandelt werden

Hunger wird oft als Folge umweltbedingter oder natürlicher Ursachen verstanden. Naturkatastrophen wie Dürren, Überschwemmungen und extreme Wetterereignisse führen jedoch nur dann zu Hunger und Vertreibung, wenn Regierungen nicht vorbereitet oder nicht willens sind zu reagieren, weil ihnen entweder die Kapazitäten fehlen oder sie Hilfeleistungen vorsätzlich unterlassen beziehungsweise ihre Macht missbräuchlich einsetzen. Bei der Reaktion auf Vertreibungen müssen auch die zugrunde liegenden politischen Faktoren berücksichtigt werden. Maßnahmen zur Konfliktverhütung und Friedensstiftung müssen unterstützt werden, ebenso wie Regelungen zur Stärkung der Rechenschaftspflicht und Transparenz der Regierungsführung. Regierungen sollten sich nicht einfach ihrer Pflicht entziehen können, die Grundbedürfnisse ihrer BürgerInnen nach Schutz und Ernährungssicherheit zu befriedigen.

2. Humanitäre Hilfe allein ist keine angemessene Reaktion auf Flucht und Vertreibung

Die internationale Gemeinschaft reagiert auf Flucht und Vertreibung fast immer mit humanitärer Hilfe, und sonst nichts. Nothilfe rettet Leben und gewährleistet grundlegende Bedürfnisse wie Obdach, ärztliche Hilfe, Wasser- und Sanitärversorgung sowie Ernährungssicherheit – doch sie ist nicht darauf ausgerichtet, Menschen langfristig zu unterstützen. Vertreibung ist meistens ein lang anhaltender Zustand, dem die Menschen über viele Jahre, sogar über Generationen, ausgesetzt sind. Vertriebene und ihre Aufnahmegesellschaften benötigen langfristige Unterstützung wie beispielsweise Zugang zu Bildung, Beschäftigung und Gesundheitsversorgung. Dies würde Flüchtlingen und Binnenvertriebenen dabei helfen, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. 

3. Von Ernährungsunsicherheit bedrohte Vertriebene sollten in ihren Herkunftsregionen unterstützt werden

Die große Anzahl an Flüchtlingen und Migranten, die insbesondere seit 2015 in die Europäische Union einreisten, hat viele politische Entscheidungsträger umgetrieben. Diese große Aufmerksamkeit hat jedoch ein irreführendes Bild der weltweiten Flüchtlingskrise erzeugt. Selbst auf dem Höhepunkt im Jahr 2015 machten Flüchtlinge nach Europa nur etwa sechs Prozent der weltweiten Flüchtlinge aus (UNHCR 2016).

Menschen, die mit Ernährungsunsicherheit konfrontiert sind, fliehen an den nächstmöglichen Ort, an dem sie sicher sind. Oft können sie es sich nicht leisten, weiter fortzugehen. Möglich ist auch, dass sie in der Nähe ihrer Heimat bleiben, um soziale Netzwerke zu pflegen und ihre landwirtschaftlichen, pastoralen oder Handelsaktivitäten aufrechtzuerhalten. Die großen Flüchtlingscamps der Welt befinden sich zudem in ärmeren Regionen, die nur eine begrenzte Anzahl Vertriebener aufnehmen können. Zugunsten kürzerer Fluchtrouten und angesichts der unverhältnismäßigen Belastung für Aufnahmegesellschaften sollten von Ernährungsunsicherheit bedrohte Flüchtlinge und Binnenvertriebene nach Möglichkeit in ihren Herkunftsregionen versorgt werden. 

4. Unterstützungsleistungen sollten immer auf der Resilienz der Vertriebenen selbst basieren, die nie vollkommen verloren geht 

Obwohl sie gezwungen sind zu fliehen, verlieren Vertriebene nie ganz ihre Handlungs- und Widerstandsfähigkeit. Die Flucht selbst ist ein Zeichen von Handlungsfähigkeit: einen Ort zu verlassen, um Sicherheit und Geborgenheit zu finden. 

Bei der Hungerbekämpfung wurden Fortschritte gemacht, doch Konflikte und Krisen bedrohen die Erfolge der letzten Jahre.

Egal wie arm sie sind tun Flüchtlinge und Binnenvertriebene alles dafür, ihren Zugang zu Nahrungsmitteln zu sichern – oft auf kreative Art und Weise. Manche ergänzen ihre Nahrungsrationen mit Lebensmitteln, die sie auf dem Markt erworben haben, etwa durch Handel oder Lohnarbeit.

Einige Menschen teilen ihre erhaltenen Hilfeleistungen mit Verwandten, die in ihren ursprünglichen Häusern geblieben sind, um ihr Eigentum zu schützen; sie betrachten dies als eine langfristige Investition in die Zukunft, auch wenn die ihnen zukommende Hilfe kaum ausreicht, um sich selbst zu ernähren. Eine ganzheitliche Antwort auf Flucht und Vertreibung muss sich darauf konzentrieren, die Existenzgrundlagen in den Herkunftsregionen zu stabilisieren und die Widerstandsfähigkeit derart zu stärken, dass lokale Märkte unterstützt und die Strukturen zum Aufbau und Erhalt von Existenzgrundlagen gefestigt werden. So können die Menschen sich besser selbst helfen und unabhängiger leben.

Wir brauchen politische Lösungen und längerfristige Entwicklungsanstrengungen 

Strategiepapiere, internationale Vereinbarungen, Advocacy-Beiträge und akademische Arbeiten geben oft Lippenbekenntnisse zu diesen vier Punkten ab, deren Realisierung folgt darauf aber selten. Um den Herausforderungen wirksam zu begegnen, müssen wir über humanitäre Hilfe hinausgehen, förderungswürdige politische Lösungen erkennen und zugleich längerfristige Entwicklungsanstrengungen unternehmen. 

Dieser Artikel ist eine angepasste und gekürzte Version von Dr. Laura Hammonds Essay Flucht, Vertreibung und Hunger, welcher im Welthunger-Index 2018 veröffentlicht wurde.

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