Tag zwei nach dem Erdbeben in Haiti
Noch immer wackelt es
Es ist der Tag zwei nach dem schweren Erdbeben hier in Haiti. Und immer noch wackelt es. Letzte Nacht erst hatten wir wieder ein spürbares Nachbeben. Jetzt bei Tag kommt allmählich im Kopf, im Herz und im Bauch an, was die Augen gesehen haben. Es ist erschreckend, schockierend. So viel Zerstörung, so viel Verzweiflung; weit mehr als wir ohnehin schon befürchtet hatten. Wie sollen die Menschen das nur verkraften, fragt man sich. Woher die Reserven nehmen, die das alltägliche Leben doch sowieso schon fast aufgebraucht haben. Verletzte liegen in den Straßen, unter zerstörten Gebäuden liegen unzählige Tote, vielleicht auch noch Überlebende. Obwohl das bei diesen Betondecken kaum vorstellbar ist. Auch erscheint irreal, mit welchem Pragmatismus die Menschen hier agieren. Körper werden sortiert und gestapelt, beinahe wie nach Kategorien: schwer verletzt, halbtot, tot. Das ist schrecklich. Aber wie sonst sollen sie denn das Chaos bewältigen? Szenen, Bilder, die man lieber nicht sehen will. Viele suchen ihre Angehörigen, oder wenn sie sie gefunden haben – als Tote – wollen sie sie beerdigen. Doch dafür ist gar keine Zeit. Da wird es bald wohl noch größere Probleme geben. Aber jetzt zählt nur die Erstversorgung.
Wir hatten Glück, unser Büro ist unversehrt. Unser gesamtes Team ist gesund. Aber nicht alle unserer haitianischen Kollegen wissen, ob ihre Familienangehörigen überlebt haben. Wir hoffen.
Wir haben uns einen ersten Eindruck verschafft von den Zerstörungen. Dramatisch. Es sieht so aus, als ob viele Bewohner die Hauptstadt bereits zu Fuß in die Provinz verlassen. Wo sollen sie auch sonst hin? Es gibt keine Ausweichmöglichkeiten zum Übernachten, keine Nachbarn, bei denen man unterkommen kann. Ich wohne etwas außerhalb, auf einem Hügel über der Stadt. Mein Haus steht, und ich kann ein paar Nachbarn unterbringen. Wir arrangieren uns, helfen uns.
Die Leute, deren Häuser unversehrt geblieben sind, können mit ihren Vorräten vielleicht zwei oder drei Tage überbrücken. Aber dann wird es eng. Heute versuchen wir vom Büro aus unsere Hilfsmaßnahmen anzukurbeln. Mal sehen, ob die Stromversorgung heute länger anhält. Dann können wir hoffentlich bald berichten, dass es vorangeht. Für unseren Generator brauchen wir noch Treibstoff. Auch das dürfte eine Herausforderung werden. Aber es wird schon gehen. Wir stimmen uns mit unseren Partnerorganisationen hier in Haiti und auch mit den befreundeten Organisationen aus Europa ab. Wir planen sorgfältig Schritt für Schritt, wie unsere Hilfe wo am besten anlaufen soll. Das ist unsere Arbeit. Alles andere macht auch gar keinen Sinn. Es herrscht schon genug Chaos, und eine übergeordnete Koordination durch die Vereinten Nationen wird es wohl so schnell nicht geben. Ich habe gehört, dass einer der wichtigen Koordinatoren für Humanitäre Hilfe der Vereinten Nationen seine gesamte Familie beim Beben verloren hat. Sie waren gerade einkaufen, im Supermarkt. Der ist komplett eingestürzt.
Wir müssen also sehen, dass die Menschen schnell Nahrungsmittel und eine Notunterkunft bekommen. Darum kümmern wir uns jetzt. Aber vorher will ich noch schnell mit Journalisten sprechen, damit diese davon berichten können, was hier los. Wir sind auf jede Unterstützung angewiesen. Das ist keine kurzfristige Katastrophe. Diese wird viel Kraft und vor allem viel Geld erfordern. Bitte helfen Sie uns, dass es zumindest daran nicht mangelt. Vielen Dank, dass Sie bei uns sind!
Ihr Michael Kühn