Erosionsschutz statt Erholung
Die Flugbegleiterin wünscht mir beim Aussteigen aus dem Ferienflieger in Puerto Plata in der Dominikanischen Republik einen schönen Urlaub. Ich lächle etwas verlegen zurück und denke mir, dass der Großteil der Passagiere nun tatsächlich einen schönen Urlaub am Strand verbringen wird. Ich aber will in den Norden Haitis reisen, um mir den Stand unserer Projekte anzusehen und dafür ist es günstiger in den Norden der „DomRep“ zu fliegen.
Ich werde von unserer Landesdirektorin Annalisa Lombardo abgeholt und wir fahren gemeinsam über die Grenze. Haiti ist nach wie vor das ärmste Land der westlichen Hemisphäre und belegt auf dem Welthunger-Index immer noch einen der letzten Plätze. Die Situation hat sich leider in den letzten Jahren nur sehr wenig verbessert. Die geringe Produktivität der Landwirtschaft, die Degradation der Wälder und Böden, der Klimawandel, eine fehlende Wirtschaftsstrategie und die politische Instabilität sind nur einige der Gründe für die nach wie vor ernste Hungersituation im Land. Die Welthungerhilfe arbeitet seit etwa 40 Jahren im Land und hat immer wieder Lebensmittelhilfe leisten müssen, konnte jedoch auch viel für den Aufbau des Landes tun.
Mehr Ernte für mehr Menschen dank funktionierender Bewässerung
Ich reise mit Annalisa zunächst nach St. Rafael ins Zentrum des Nordens. Dort zeigen mir die Mitglieder des örtlichen Bewässerungs-Komitees stolz den kleinen Staudamm aus den 1950er Jahren und die mit Unterstützung der Welthungerhilfe ausgebauten Haupt- und Seitenkanäle. Mit diesen werden rund 1.800 ha Reis- und Gemüsefläche mit Wasser versorgt, das entspricht etwa der Größe von rund 2.500 Fußballfeldern. Die wachsende Bevölkerung ist dringend auf höhere Ernten angewiesen, deshalb hat die Regierung schon seit Jahren den Ausbau von Bewässerungsanlagen als Priorität im Landwirtschaftssektor ausgegeben.
Die Landwirt*innen würden das Bewässerungssystem gerne noch weiter ausbauen, das Wasser aus dem kleinen Fluss reicht aber nicht zur Bewässerung einer größeren Fläche. Der Klimawandel macht sich leider auch in Haiti bemerkbar. Seit Monaten hat es nicht mehr geregnet. Eine Bewässerungsanlage wie diese kann allerdings dafür sorgen, Phasen mit wenig Regen besser zu überstehen. St. Rafael hat sich in den letzten zehn Jahren zu einem regionalen Wirtschafts- und Handelszentrum entwickelt -auch durch den Ausbau des Bewässerungsperimeters.
Haiti: Steinmauern stoppen Erosion
Die nächste Station führt uns nach Jean Rabel in den äußersten Westen des Landes und ich bekomme eine Vorstellung davon, warum so wenige Güter diese Gegend verlassen bzw. hierher transportiert werden: Die Fahrt über die sehr schlechten Pisten dauert einfach zu lange, Gemüse oder Obst würde die „Rumpelpiste“ nicht überstehen. Lesperance Fedner, unser Programmleiter in Haiti, zeigt uns bei einem Besuch in den Bergen, wie mit kleinen Steinmauern Erosion gestoppt und verloren geglaubte Felder wieder fruchtbar gemacht werden. Ein Bauer erzählt, wie er Jahr um Jahr alle Nachbarn zusammenholt, um die Steinmauern wieder zu reparieren. Die Anstrengungen zahlen sich für ihn mittlerweile aus: Neben Mais baut er Fruchtbäume und Gemüse an.
Auf dem Rückweg werden wir von einem tropischen Regen erwischt. Eine Bäuerin führt einen Freudentanz auf und meint, wir hätten den lange ersehnten Regen mitgebracht.
„Energiebäume“ stärken die Widerstandsfähigkeit
Der letzte Teil der Reise führt uns nach Quanamenthe im Nordosten des Landes. Ich bin etwas skeptisch als mir unser Projektleiter Aide Apollon von einem Aufforstungsprojekt erzählt. In der Vergangenheit sind Aufforstungsprojekte häufig daran gescheitert, dass sich nach dem Anpflanzen niemand um die jungen Setzlinge gekümmert hat. Hier ist es aber anders. Die baumlosen, steilen Hänge brauchen dringend eine Bedeckung mit Wald, um die Erosion einzudämmen und den Wasserabfluss zu bremsen, damit der Regen in den Boden eindringen kann – um nur zwei der vielen Gründe zu nennen.
In der Vergangenheit sind Aufforstungsprojekte häufig daran gescheitert, dass sich niemand um die jungen Setzlinge gekümmert hat. Hier ist es aber anders.
Mathias Mogge Generalsekretär WelthungerhilfeFür die Landwirt*innen geht es nicht nur um einen Wald, sondern ums Überleben. 90% der Bevölkerung in Haiti kocht über offenem Feuer. Die Bäume dienen deshalb der Produktion von Holzkohle. Lavana Mecejour, die im Dorfrat von Mont Organisé zuständige Ratsfrau erzählt mir, dass es ohne das Holz weniger zu essen gibt und die Kinder nicht in die Schule geschickt werden können. Diese Beobachtungen wurden durch Erhebungen der Welthungerhilfe bestätigt. Deshalb werden nun „Energiebäume“ angebaut: Ein ausgeklügeltes Bewirtschaftungssystem bewirkt, dass die Menschen in der Region eine Einnahmequelle haben und gleichzeitig die Umwelt schützen. Es wird nur so viel Holz eingeschlagen, wie nachwächst. Der Wald hilft dabei, die Widerstandsfähigkeit der Menschen in den Bergen Haitis zu verbessern.
Wichtiger Beitrag im Land mit bewegter Geschichte
Haiti ist ein Land mit einer sehr bewegenden Geschichte. Wer sie kennt, kann auch die aktuelle Situation besser verstehen. Mein Besuch hat mich in meiner Überzeugung bestätigt, dass die Welthungerhilfe einen bedeutenden und sinnvollen Beitrag für den Aufbau dieses Landes und seiner Bewohner*innen leisten. Es wäre so wichtig, dass die Urlauber*innen, die so nah an Haiti ihre Ferien in der „DomRep“ verbracht haben, auch davon etwas bekommen.