In der Nacht des 24.2.2022 wurde Lesias Familie von einer gewaltigen Explosion geweckt. Der russische Angriffskrieg hatte begonnen.
3 Jahre Angriffskrieg in der Ukraine: "Das ist jetzt mein Leben"
Vor drei Jahren (am 24.02.2022) griff Russland die Ukraine an. Wie gehen die Menschen damit um? Welthungerhilfe-Mitarbeiterin Oleksandra Titorova berichtet im Interview den Alltag in einem vom Krieg zerrütteten Land.

Seit drei Jahren herrscht in der Ukraine umfassender Krieg. Wie würdest du die Lage heute beschreiben – im Alltag und generell?
Nach drei Jahren umfassender Krieg in der Ukraine haben sich die Menschen an die abnormalen Umstände gewöhnt. Psycholog*innen bestätigen: Das ist eine ganz normale Reaktion. Irgendwann begreift man: Das ist jetzt mein Leben – ich muss es leben, weil ich kein anderes habe.
Ich lebe in Kiew. Und obwohl die Stadt als eine der am besten geschützten in der Ukraine gilt, greifen jede Nacht Drohnen unsere Hauptstadt an. Heute Morgen um fünf Uhr weckte mich der Luftalarm auf meinem Telefon, kurz darauf hörte ich die Explosion. Ich öffnete nur ein Auge, um nachzusehen, wo die Drohne eingeschlagen war – oder ob die Flugabwehr sie abgefangen hat.

Tetiana Zaskoka, meine Kollegin aus Sumy – einer Stadt, die inzwischen wieder an der Front liegt – hat mir einmal gesagt:
„Ich habe mich völlig an dieses Leben gewöhnt, in dem es nur noch ‚Heute‘ gibt. Ich kann mich kaum noch daran erinnern, wie es war, nachts durch die Stadt zu gehen oder ohne Ausgangssperre zu leben. Das Krachen der Explosionen macht mir immer noch Angst; es ist schwer, sich davon zu erholen. Deshalb versuche ich, mich auf die kleinen Dinge des Lebens zu konzentrieren: Abendessen kochen, die Wohnung putzen, den Kindern bei den Hausaufgaben helfen. Und irgendwann merkt man, dass man sein normales Leben lebt. Ein Leben, in dem ich mir nicht erlaube, allzu viel nachzudenken. Ich habe nur Zeit fürs Handeln. So ist es einfacher.“
Vom Krieg vertrieben – Hoffnung auf Rückkehr schwindet
Die Menschen, die ihr Zuhause verlassen mussten, haben aufgehört von Rückkehr zu reden. Das ist besonders traurig. Ich erinnere mich an eine Mutter mit drei Kindern aus der Region Sumy. Als wir vor zwei Jahren mit Lesia sprachen, betonte sie immer wieder, sie sei nur vorübergehend von zu Hause weg. Bald, so hoffe sie, könne sie zurückgehen.
JERU ("Joint Emergency Response in Ukraine" - eine Partnerschaft zweier Hilfsorganisationen: Concern Worldwide und Welthungerhilfe) unterstützte die Familie dann mit Bargeldhilfen, die sie für die Reparatur ihres Dachs, Feuerholz und Medikamente nutzten. Und jetzt existiert ihr Dorf vermutlich nicht mehr, weil es nur einen Kilometer von der ukrainisch-russischen Grenze entfernt liegt. Zum zweiten Mal in drei Jahren sind dort schwere Kämpfe ausgebrochen.
Eine Kindheit inmitten des Krieges
Besonders leiden Kinder und junge Menschen. Ihnen wurde ihre unbeschwerte Kindheit oder ihre aufregende Jugend gestohlen.
In einem der vergangenen Winter besuchten Mitarbeitende von JERU und einer humanitären Partnerorganisation, „Wir sind Brüder, wir sind Ukrainer“, ein kleines Dorf. Es lag weit entfernt von großen Städten mit öffentlichem Nahverkehr, Geschäften und Freizeitangeboten für Kinder – dafür jedoch bedrückend nah an der Front. Man kann kaum beschreiben, wie sehr sich die Kinder über den Besuch der Psycholog*innen freuten, die zweimal in der Woche ins Dorf kamen, um im Rahmen unseres Programms etwas mit den Kindern zu unternehmen. Sie liefen ihnen entgegen, haben sie umarmt – es war offensichtlich, wie dringend diese Kinder die psychosoziale Unterstützung brauchten und wie sehr sie die gemeinsamen Aktivitäten liebten.
Umso größer war der Schock, auch für die Mitarbeitenden von JERU, als in einem Nachbardorf zwei Bomben eine Schule zerstörten – eine der Schulen, in denen solche Kurse stattfanden. Zum Glück hielt sich gerade niemand im Gebäude auf.

"Ich will mein altes Leben zurück!"
Was bedeutet der Jahrestag des Kriegsbeginns für dich und die Menschen um dich herum?
Ein weiteres Jahr ist vergangen – ein Jahr, in dem wir mit dem Schmerz des Verlusts gelebt haben. Mit den täglichen Nachrichten, aus welcher Richtung die nächste Rakete kommt. Mit der traurigen Statistik, wie viele Leben heute wieder ausgelöscht wurden.

Irgendwann begreift man: Das ist jetzt mein Leben – ich muss es leben, weil ich kein anderes habe.
Oleksandra Titorova Communications Officer UkraineDie Zusammensetzung der Bevölkerung hat sich spürbar verändert, besonders in Kleinstädten und in Dörfern. Weil die Männer im arbeitsfähigen Alter alle beim Militär sind, bleiben vor allem Frauen mit ihren Kindern und alte Menschen zurück.
Deswegen ist das Thema von Frauen in „Männerberufen“ jetzt so wichtig. Eine Frau sagte mal zu uns: „Wissen Sie, wir sind den Hilfsorganisationen natürlich für ihre Unterstützung sehr dankbar, aber diese Hilfe würden wir nicht brauchen, wenn der Krieg nicht wäre. Ich will einfach mein altes Leben zurück!“
Leider ist das nicht möglich, und wir müssen uns anpassen. Die Menschen in der Ukraine sind es nicht gewöhnt, von humanitärer Hilfe zu leben. Deshalb suchen sie nach Möglichkeiten, ihr Geschäft wieder zu eröffnen; oder sich beruflich neu zu orientieren.

Krieg in der Ukraine: Auch humanitäre Helfer*innen in Gefahr
Was würdest du sagen – welche Wirkung hat die Arbeit der Welthungerhilfe in der Ukraine gehabt? Was sind die größten Herausforderungen, wenn man die Menschen unterstützen will?
Die Sicherheitslage bleibt ein großes Problem. In den drei Kriegsjahren seit Beginn des russischen Angriffskriegs wurden bis zu 25 humanitäre Helfer*innen bei ihrer Arbeit getötet und 58 verletzt. Das Auto unserer Partnerorganisation „Angels of Salvation“ wurde von einer ferngesteuerten Drohne getroffen, als es gerade mit Zivilist*innen voll besetzt war; darunter Menschen, die gerade aus dem Kampfgebiet evakuiert werden sollten. Zum Glück war das Fahrzeug gepanzert, und niemand wurde verletzt. Es war deutlich als humanitäres Fahrzeug gekennzeichnet – mit dem Logo der Hilfsorganisation und der großformatigen Aufschrift „Evakuierung“.
Im Sommer 2024 zerstörten Bomben am hellichten Tag eine Schule, in der normalerweise unsere Partnerorganisationen psychosoziale Förderkurse für Kinder abhielten. Wir können solche Dienstleistungen zur mentalen Gesundheit so nicht mehr dauerhaft anbieten – nur noch im Notfall. In Charkiw, einer Stadt, die fast täglich mit ballistischen Raketen oder Bomben angegriffen wird, mussten diese Kurse deshalb in U-Bahnstationen verlegt werden. Sicherheit hat Vorrang.

Hoffnung – wichtiger als Geld und Brennholz
Im Oblast Charkiw in der Ukraine kümmern wir uns gemeinsam mit unseren Partnern um Öfen und verteilen Brennholz, damit die Menschen durch den Winter kommen – unter ihnen auch Vira und ihre Familie.
Es ist kaum vorstellbar, wie wichtig es für die verbliebenen Bewohner*innen kleiner Dörfer ist – meist Rentner*innen oder Menschen mit Behinderung – Winterhilfe zu erhalten: Brennholz oder Bargeld für das Nötigste. Feste Brennstoffe für die Wintersaison – die in der Ukraine fünf Monate dauert – können mehrere Monatsrenten kosten. Doch viele Felder in der Südukraine sind vermint. Wir müssen jedes Mal sorgfältig das Risiko abwägen, wenn wir versuchen, Gemeinschaften in Not zu erreichen.
Wo wir über die Hilfeempfänger*innen sprechen: Die große Mehrheit sagt, dass sie – ob durch einen Mikro-Zuschuss oder eine Finanzhilfe für ihr kleines oder mittelgroßes Unternehmen – vor allem eins bekommen: Hoffnung. Die Hoffnung, dass am Ende alles gut wird. Den Glauben, dass alles möglich ist. Ich glaube, das ist das Allerwichtigste.
Wenn du nach vorne schaust: Was sind deine Hoffnungen und deine Befürchtungen für die Ukraine?
Kriege dauern nicht ewig. Eines Tages wird dieser Krieg enden. Viele Geschichten unserer Projektteilnehmenden inspirieren mich. Da sind Menschen, die buchstäblich alles verloren haben – ihr Zuhause, ihre Familie, ihre Gesundheit, ihre Arbeit. Und doch stehen sie wieder auf, wie Phönix steigen sie sozusagen aus der Asche. Sie suchen nach neuen Möglichkeiten, entwickeln sich weiter, bauen ihr Geschäft wieder auf und helfen anderen.

Auch meine Kolleg*innen inspirieren mich. Wie viele der ukrainischen Mitarbeitenden von JERU sind Menschen, die ihre besetzten Heimatorte verlassen mussten! In der Nacht träumen sie von ihrem Zuhause, und am Morgen wachen sie auf und helfen Menschen, die genau dasselbe durchmachen, was sie erlebt haben.
Das ist von unschätzbarem Wert: Ein tiefes Verständnis dafür, wie man Projekte so organisiert, dass sie die wahren Bedürfnisse der vom Krieg betroffenen Menschen erfüllen. Wir brauchen heute nicht weniger internationale Unterstützung als vor zwei Jahren. Schließlich liegen die schwierigsten Zeiten – die Zeiten des Wiederaufbaus – noch vor uns. Und ich bin meinen internationalen Kolleg*innen dankbar, dass sie diesen Weg gemeinsam mit uns gehen.