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Humanitäre Hilfe vorausschauend, lokal und bedürfnis­orientiert gestalten

Es gibt derzeit so viele hilfsbedürftige Menschen auf der Welt wie noch nie. Verantwortlich für den wachsenden humanitären Bedarf sind in erster Linie die Auswirkungen einer zunehmenden Anzahl von Kriegen und gewaltsamen Konflikten sowie der Klimawandel.

Ein Mann händigt einem anderen Mann eine Tüte mit Fladenbrot. Oben rechts ist das Kompass 2021 Logo.
Brotverteilung im nördlichen Teil von Idlib, Syrien. © IHSAN/Welthungerhilfe

Dieser Artikel ist Teil des Berichts Kompass 2021, der von der Welthungerhilfe und terre des hommes herausgegeben wird.

Humanitäre Hilfe steht aktuell vor enormen Herausforderungen. Das Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs, OCHA) geht für das Jahr 2021 von 235 Millionen hilfsbedürftigen Menschen aus96 – ein vierzigprozentiger Anstieg im Vergleich zu den Voraussagen für das Vorjahr und ein Höchststand.

Gleichzeitig werden humanitäre Krisen komplexer und dauern länger; aktuell durchschnittlich etwas über neun Jahre. Verantwortlich für den wachsenden humanitären Bedarf sind in erster Linie die Auswirkungen einer zunehmenden Anzahl von Kriegen und gewaltsamen Konflikten sowie der Klimawandel. Die globale COVID-19-Pandemie und die damit in vielen Ländern verbundene Zunahme von Armut und politischer Instabilität hat diese bereits existierenden Tendenzen verschärft und den humanitären Bedarf weiter erhöht.97 Gleichzeitig werden die Rahmenbedingungen für die humanitäre Hilfe komplizierter. Die verfügbaren Mittel für die Bewältigung der humanitären Krisen steigen nicht im gleichen Maße wie der Bedarf, und es zeichnet sich eine wachsende Finanzierungslücke ab. Die formellen Ansprüche an die humanitäre Hilfe werden größer, während der Handlungsspielraum für lokale Partner zunehmend enger wird. Parallel dazu findet eine Aushöhlung des humanitären Völkerrechts und humanitärer Normen und Prinzipien statt. Der Zugang zu Betroffenen humanitärer Krisen wird immer öfter verweigert, Hilfslieferungen werden blockiert, humanitäre Akteure gezielt angegriffen.

Um in diesem schwierigen Kontext effizient arbeiten zu können, brauchen Nichtregierungsorganisationen (NRO) entsprechende Rahmenbedingungen. NRO sind eine der drei tragenden Säulen der humanitären Hilfe, ergänzend zu den Vereinten Nationen und Organisationen der Rotkreuz- und Rothalbmond- Bewegung. Allerdings erfährt der Anteil der Zuwendungen an NRO seit mehreren Jahren tendenziell einen Rückgang und betrug in Deutschland im Jahr 2020 nur noch 14 Prozent. Ihr Potenzial ist jedoch entgegen gelegentlich vorgebrachter Argumente bei Weitem noch nicht ausgeschöpft, und mehr Kapazitäten für großvolumige humanitäre Projekte sind durchaus vorhanden, sowohl in der Einzelförderung als auch in der Förderung von Konsortien, Allianzen, Bündnissen oder Netzwerken. Menschen in Not brauchen effiziente, unbürokratische und würdevolle Hilfe. NRO leisten einen zentralen Beitrag dazu.

Eine wichtige Grundlage für die weitere Steigerung der Effizienz und Effektivität der humanitären Hilfe angesichts steigender Bedarfe und limitierter Ressourcen stellt der vor fünf Jahren verabschiedete und nun auslaufende Grand Bargain dar. Dieser muss fortgeführt und in einer weiteren Phase mit messbaren Zielen und Indikatoren ausgestattet werden

Grand Bargain fortführen

Im Jahr 2016 haben sich Regierungen, Geber und Nichtregierungsorganisationen der Entwicklungs- und humanitären Hilfe auf dem Humanitären Weltgipfel in Istanbul auf eine Reihe von Selbstverpflichtungen geeinigt, um humanitäre Hilfe effizienter und effektiver zu gestalten. Daraus resultierte der Grand Bargain, ein Fünfjahresplan mit Arbeitsbereichen zu den Themen Transparenz, Bedarfserhebungen, Rechenschaftslegung, Partizipation, Lokalisierung und bessere Verknüpfung von humanitärer und Entwicklungsarbeit. Im Mai 2021 laufen diese fünf Jahre ab. Nach Ansicht vieler Hilfs- und Entwicklungsorganisationen müssen die verabredeten Maßnahmen in einer weiteren Phase vorangetrieben und konkretisiert werden. Dazu bedarf es unter anderem einer Quantifizierung der eingegangenen Verpflichtungen und messbarer Indikatoren.

Lokalisierungsagenda vorantreiben

Eine zentrale, im Grand Bargain festgehaltene Selbstverpflichtung betrifft die „Lokalisierung“ der humanitären Hilfe. Dabei geht es darum, Akteure und Organisationen in von Katastrophen betroffenen Ländern zu stärken, sie vermehrt in die Planung und Durchführung von humanitären Maßnahmen einzubeziehen und Koordinierungsstrukturen für sie zugänglich zu machen. Vertreter* innen von lokalen NRO und Gemeindeorganisationen sowie von lokalen und nationalen Regierungsbehörden können unmittelbar auf Krisensituationen reagieren, sind auch nach der akuten Krisenphase weiter vor Ort und können somit Wiederaufbaumaßnahmen langfristig begleiten. In den meisten Fällen verfügen sie über ausgeprägte Kenntnisse der lokalen Gegebenheiten, Politik und Kultur und haben einen direkten Zugang zu den Betroffenen. Dies ermöglicht es ihnen, an die lokalen Lebensrealitäten angepasste Hilfe zu leisten.

Gerade in der COVID-19-Pandemie hat sich die zentrale Rolle lokaler humanitärer Organisationen für die Durchführung von Nothilfe gezeigt. Sie bewiesen enorme Handlungsfähigkeit inmitten der Krise und konnten in Zeiten der Reise- und Transporteinschränkungen in vielen Fällen zeitnah und effektiv Hilfe leisten. Diese Entwicklung muss in der Zukunft noch stärker gefördert werden, indem lokale Akteure von Anfang an in die Programmentwicklung eingebunden werden und bei Bedarfserhebungen sowie in humanitären Koordinationsgremien mitwirken, wie in dem Aufruf „From Voices to Choices: Expanding crisisaffected people’s influence over aid decisions“ des Interagency Research and Development Network gefordert.98 Es geht darum, tragfähige, internationale Netzwerke mit Partnerschaften auf Augenhöhe aufzubauen, in denen international agierende NRO eine stärkere Rolle als Brückenbauer zwischen lokalen Akteuren und Geldgebern einnehmen.

Deutsche humanitäre Nichtregierungsorganisationen und die Bundesregierung haben 2018 in dem Eckpunktepapier „So lokal wie möglich, so international wie nötig – die Lokalisierung des humanitären Systems“99 ein gemeinsames Verständnis der Kernelemente der Lokalisierungsagenda entwickelt. Sie beruhen auf den drei Themenbereichen Kapazitätsaufbau, verbesserter Zugang zu Finanzierung und Stärkung der Rolle der lokalen Akteure. Bei allen dreien konnten bereits wichtige Fortschritte erzielt werden. Es besteht jedoch weiterhin Handlungsbedarf:

  1. Kapazitätsaufbau: Die vorhandenen Fähigkeiten lokaler Akteure müssen weiter ausgebaut, Bedarfsanalysen gemeinsam durchgeführt werden. Mittel zum Kapazitätsaufbau werden durch die Bundesregierung zwar zunehmend zur Verfügung gestellt, aber oft sind die Projektlaufzeiten zu kurz, um langfristig Wissen und Strukturen aufzubauen.
  2. Besserer Zugang zu Finanzierung: Die Bundesregierung erfüllt mittlerweile die Zusage, mindestens 25 Prozent der Mittel „so direkt wie möglich“ an lokale und nationale Akteure weiterzuleiten (26 Prozent im Jahr 2019, davon 3,7 Prozent direkt an sogenannte country- based pooled funds (CBPFs) und 22,8 Prozent an Vermittlerorganisationen). Allerdings sollte ein deutlich größerer Anteil der Mittel direkt an lokale NRO vergeben werden.
  3. Administrative Hürden abbauen: Lokale Akteure müssen mehr und langfristigere Finanzierung erhalten. Nur so können sie langfristig eine größere Rolle übernehmen. Das betrifft auch die Harmonisierung und Vereinfachung von Anforderungen für die Berichterstattung und Rechenschaftslegung.

Der im Grand Bargain angelegte Paradigmenwechsel in der humanitären Finanzierung hin zu einem vorausschauenden und antizipierenden humanitären System beruht auf den Möglichkeiten, die wissenschaftlicher und technologischer Fortschritt wie etwa präzise Wetter- und Klimavorhersagen, datenbasierte Risikoanalysen und Frühwarnsysteme eröffnet, um humanitäre Krisen vorherzusehen. Dadurch wird es möglich, vorausschauend zu handeln und die Auswirkungen von Katastrophen entscheidend abzumildern. Durch sogenannte Forecast-based Action (FbA) wird es möglich, klimabedingte Extremwetterereignisse vorherzusagen. Dementsprechend frühzeitig kann die Koordination vor Ort beginnen und die lokale Bevölkerung informiert bzw. alarmiert werden, um rechtzeitig Vorbereitungen zu treffen. Menschenleben werden gerettet, Sachschäden reduziert und soziale sowie wirtschaftliche Kosten von Krisen verringert, was die Effizienz der humanitären Hilfe steigert.

Wenn Sie die Menschen nicht ernähren, nähren Sie Konflikte. Konflikte treiben Hunger und Hungersnot, und Hunger und Hungersnot treiben Konflikte.

António Guterres UN-Generalsekretär

Die Bereitstellung und Unterstützung von flexiblen Finanzierungsmechanismen durch Geber ist hierfür eine zentrale Voraussetzung. Beispiele wie die automatisierte Ausschüttung von Nothilfe-Fonds auf Basis von evidenzbasierten Auslösemechanismen, zum Beispiel im Rahmen des START-Network, sind dabei wegweisend. Die Welthungerhilfe entwickelt aktuell mit Unterstützung des Auswärtigen Amtes vorhersagebasierte Modelle für Madagaskar, Simbabwe und Kenia, die aufgrund zunehmender Trockenheit in Madagaskar bereits in diesem Jahr zum Einsatz kommen. Jedoch müssen die für FbA-Maßnahmen bereitgestellten Mittel insgesamt sowie deren Anteil für NRO erheblich erhöht werden. Dies gilt nicht nur für die deutsche humanitäre Hilfe, sondern insbesondere für internationale Geber wie das Europäische Amt für humanitäre Hilfe und Katastrophenschutz (ECHO).

Humanitäre Prinzipien stärken

Die Menschenrechte, das humanitäre Völkerrecht und die humanitären Prinzipien halten die Konzepte des Schutzes, der Sicherheit, der Würde und der Rechte von Menschen, die von Katastrophen oder bewaffneten Konflikten betroffen sind, fest. Weltweit werden diese Vereinbarungen jedoch immer wieder missachtet: Vermeintlich geschützte Orte wie Schulen und Krankenhäuser werden bombardiert, wichtige humanitäre Zugänge blockiert, Angriffe auf humanitäre Akteure und Menschenrechtsaktivist*innen nehmen zu. Wie die Webseite Aidworker Security Database berichtet, wurden im Jahr 2019 277 schwere Vorfälle mit 483 betroffenen humanitären Helfer dokumentiert.100 Diese Entwicklung trifft alle humanitären Akteure, von den Organisationen der Vereinten Nationen, über die Rotkreuz- und Rothalbmond- Bewegung bis zu internationalen, nationalen und lokalen Nichtregierungsorganisationen. Nationale Mitarbeitende humanitärer NRO sind den Gefahren in besonderem Maße ausgesetzt: Von den 483 Betroffenen 2019 waren 456 Personen nationale und 27 internationale Helfer.

Es ist dringend notwendig, dass die Einhaltung des humanitären Völkerrechts auf allen politischen Ebenen eingefordert und umgesetzt und dass bei Missachtung der politische Druck auf die Regierungen erhöht wird. Angriffe auf humanitäre Helfer und Infrastruktur müssen verurteilt und Gegenstand unparteiischer und unabhängiger Ermittlungen und strafrechtlicher Verfolgung werden. Bestehende Initiativen zum Schutz von humanitären Helfern, wie zum Beispiel der 2019 von Frankreich und Deutschland initiierte Humanitarian Call for Action,101 müssen umgesetzt werden. Internationale Nichtregierungsorganisationen, darunter die Welthungerhilfe, forderten daher im September 2020 in einem gemeinsamen Aufruf zum besseren Schutz humanitären Handelns und zur Beendigung der Straflosigkeit bei Angriffen auf humanitäre Helfer auf. Darin wird der UN-Sicherheitsrat dazu aufgefordert, einen Mechanismus einzurichten, welcher bei Verstößen gegen das humanitäre Völkerrecht systematisch Aktionen einleiten würde, Angreifer*innen zu ahnden und zu bestrafen.102

Spezifische Schutzbedürfnisse von Kindern beachten, psychosoziale Unterstützung stärken

Auch die Bevölkerung ist zunehmend komplexen Risiken ausgesetzt. Gewalt und Ausbeutung von Kindern sind neben genderbasierter Gewalt, psychologischem Stress und der Verschlechterung der mentalen Gesundheit Hauptrisikofaktoren in allen Krisenkontexten.103 Psychosoziale und psychologische Unterstützung (MHPSS – Mental Health and Psychosocial Support) muss daher in Zusammenarbeit von Nichtregierungsorganisationen, Behörden und Gebern stärker in humanitäre Hilfsleistungen aufgenommen und integriert werden. Erforderlich ist ein kollektiver und systemischer Ansatz, der koordinierte, zunehmend von lokalen Akteuren gesteuerte Maßnahmen vereint und für eine dauerhafte Verankerung von MHPSS in humanitären Maßnahmen sorgt.

Kinder sind während einer Krise besonders schutzbedürftig und in Gefahr, Opfer von extremer Gewalt, Missbrauch, körperlicher und sexueller Ausbeutung, Entführung oder militärischer Rekrutierung zu werden. Im Jahr 2020 waren fast 50 Millionen Kinder in humanitären Situationen schutzbedürftig. Für das Jahr 2021 wird ein Anstieg von 40 Prozent prognostiziert. Dennoch wird dem Kinderschutz bei der Mobilisierung humanitärer Hilfe nicht systematisch Priorität eingeräumt, und er bleibt sowohl unterfinanziert als auch unzeitgemäß. Fachorganisationen wie terre des hommes setzen sich dafür ein, spezialisierte Schutzmaßnahmen und institutionelle Rahmenbedingungen sicherzustellen. Außerdem sollen dafür Qualitätskriterien entwickelt, relevante Berufsgruppen sensibilisiert und langfristig qualifiziert werden. Auch müssen dafür notwendige öffentliche Ausgaben im Gesundheitsund Bildungssektor der jeweiligen Länder budgetiert werden.

Flexiblere Finanzierungsmechanismen bereitstellen

Um dem steigenden humanitären Bedarf gerecht zu werden, müssen sich Geber auf eine stärkere Flexibilisierung der Förderbedingungen einigen. Als einer der größten humanitären Geber weltweit fällt Deutschland hier eine besondere Verantwortung zu. Hilfreich wäre zum Beispiel eine Ausweitung der Möglichkeiten für regionale und sektorübergreifende Programme sowie flexible mehrjährige Programm, wodurch die Planbarkeit der humanitären Hilfe für Partnerorganisationen erhöht wird. Vereinfachte Antragsverfahren und die Reduzierung des Eigenbeitrags können dazu beitragen, die Flexibilität bei der Implementierung über lokale Partnerorganisationen zu erhöhen, insbesondere in fragilen Kontexten. Vielversprechende Entwicklungen in der vorausschauenden humanitären Hilfe müssen stärker unterstützt und dafür flexible Finanzierungsmechanismen ausgebaut werden.

Der Grand Bargain hat einen großen Beitrag dazu geleistet, humanitäre Hilfe transparenter, effektiver und effizienter zu gestalten und einen Grundkonsens zu entwickeln, wie Menschen in Notlagen angesichts der aktuellen Herausforderungen am besten geholfen werden kann. In einer weiteren Phase ist es wichtig, die Lokalisierungsagenda und die vorausschauende humanitäre Hilfe zu stärken und die eingegangenen Selbstverpflichtungen mit messbaren Indikatoren auszustatten, die Fortschritte überprüfbar machen.

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Fußnoten

96. United Nations (2020): Global Humanitarian Overview 2021

97. Siehe z.B.: World Food Programm (2020): Global Update on COVID-19: November 2020

98. Action Against Huger USA; Deutsche Welthungerhilfe e.V (2018): From Voices to Choices: Expanding crisis-affected people’s influence over aid decisions: An outlook to 2040

99. VENRO (2018): So lokal wie möglich, so international wie nötig – die Lokalisierung des humanitären Systems Eckpunkte zur Umsetzung durch deutsche humanitäre Akteure.

100. AWSD: Major attacks on aid workers: Summary statistics​​​​​​​ (abgerufen am 23.04.2021).

101. Auswärtiges Amt (2019): Call for Action to strengthen respect for international humanitarian law and principled humanitarian action

102. Agency for Technical Cooperation and Development (2020): Call for Action for the safeguarding of humanitarian space and ending impunity for attacks against humanitarians

103. Global Protection Cluster (2021): Global Protection Update: February 2021

Autor*innen dieses Artikels

Chris Hartmann

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Bettina Ide

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Friederike Strube

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