Globale Nachhaltigkeitsziele: Wird die Bundesregierung ihrer Verantwortung gerecht?
Keines der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung wird bis 2030 erreicht werden, wenn wir im bisherigen Tempo weitermachen. Fortschritt besonders im Bereich der globalen Nachhaltigkeit muss mutig und ambitioniert sein und zudem schnell eingeleitet und umgesetzt werden.
Dieser Artikel ist Teil des Berichts Kompass 2022, der von der Welthungerhilfe und terre des hommes herausgegeben wird.
Nach 16 Jahren CDU-geführter Bundesregierung kam es im Herbst letzten Jahres zum Machtwechsel in Deutschland. Der neunte Bundeskanzler der Republik, Olaf Scholz, führt jetzt eine Koalition aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP an. Als „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ will die nun regierende Koalition „Mehr Fortschritt wagen“, so der Titel ihres Koalitionsvertrages.
Kompass 2022 – Inhalt
- Vorwort und Übersicht
- Empfehlungen an die Bundesregierung
- Die deutsche Entwicklungsfinanzierung – auf einem guten Weg?
- Globale Nachhaltigkeitsziele: Wird die neue Bundesregierung ihrer Verantwortung gerecht?
- Kinderrechte: Gute Ansätze, keine Strategie
- Die globale Hungerkrise aufhalten – was können die G7-Staaten tun?
Genau diesen Fortschritt wird es besonders im Bereich der globalen Nachhaltigkeit brauchen. Und er muss mutig und ambitioniert sein und zudem schnell eingeleitet und umgesetzt werden – trotz oder vielleicht sogar gerade wegen des Ukraine-Krieges. Schließlich verbleiben nur noch acht Jahre, um die globalen Nachhaltigkeitsziele (SDGs), zu denen sich die Weltgemeinschaft 2015 verpflichtet hat, zu erreichen. Viele der SDGs sind allerdings mittlerweile in weite Ferne gerückt. Um es mit den Worten von Svenja Schulze, der neuen Bundesministerin für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, zu sagen: „Keines – keines! – der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung wird bis 2030 erreicht werden, wenn wir im bisherigen Tempo weitermachen“. 17
Die Ergebnisse der jüngsten Berichte des Weltklimarates (IPCC) verdeutlichen zudem, dass sich das Zeitfenster, in dem die fatalsten Folgen des Klimawandels noch minimiert werden können, schnell schließen wird. Eile ist also in jeder Hinsicht geboten. Besonders relevant angesichts der stark steigenden Nahrungsmittelpreise vor allem im globalen Süden ist das zweite Nachhaltigkeitsziel: die globale Beseitigung von Hunger („Zero Hunger“). Das Erreichen der dort benannten Unterziele – wie die Sicherstellung des ganzjährigen Zugangs zu nährstoffreichen und ausreichenden Nahrungsmitteln sowie das Hervorheben einzelner, besonders vulnerabler Gruppen wie Kinder und Heranwachsende, aber auch Indigene, Fischer*innen und Weidetierhalter*innen – ist essenziell für jedweden weiteren Entwicklungsfortschritt.
Die Entscheidung der Bundesregierung, das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) trotz der kontroversen Diskussionen in den Koalitionsverhandlungen als eigenständiges Ministerium zu erhalten, ist ein wichtiger Schritt, um Nachhaltigkeit auch global voranzutreiben. Denn auch die Perspektive des globalen Südens gehört an den deutschen Kabinettstisch. Umso wichtiger ist es jetzt, dass das BMZ seiner Rolle auch im Namen einer Drei-Parteien-Koalition gerecht wird und den globalen Herausforderungen angemessen begegnet. Dies bedeutet vor allem, dass das Thema Ernährungssicherheit weiterhin prioritär behandelt werden muss. Schließlich haben sich – wie in Kapitel I dieser Publikation dargestellt – Hunger, Mangelernährung, Armut und Ungleichheit durch die globale Pandemie noch einmal deutlich verschlimmert, und die Auswirkungen der Ukraine-Krieges verteuern nicht nur flüssige und gasförmige fossile Energieträger, sondern treiben auch die Preise vieler Grundnahrungsmittel wie Mais, Weizen und Ölsaaten in bisher ungekannte Höhen. 18
Doch auch ein optimal ausgestattetes BMZ allein könnte die Welt nicht nachhaltig verbessern. Zentral ist, dass alle relevanten Ministerien an einem Strang ziehen und wirkliche Politikkohärenz durchgesetzt wird. Das entsprechende Bekenntnis im Koalitionsvertrag muss konstant und beharrlich mit Leben gefüllt werden, und sicherheits-, verteidigungs- und entwicklungspolitische Aspekte müssen als wesentliche Elemente in alle politischen Entscheidungen einfließen. Politisches Handeln eines Ressorts darf, wie in der Vergangenheit leider allzu oft geschehen, nicht die Arbeit eines anderen unterlaufen. Wenn zum Beispiel deutsche Handelspolitik deutsche Entwicklungspolitik konterkariert, ist langfristig niemandem geholfen. Wenn hingegen beispielsweise im Kontext des Handels zwischen Europa und Afrika negative Folgen von Handelsliberalisierungen großzügig durch Ausgleichsfonds abgefedert werden, ist es potenziell möglich, die Zielsetzungen der Entwicklungs- und Handelspolitik miteinander zu vereinen. 19
Spiegelbildlich zum Ansatz, Prozesse und Entscheidungen ministeriumsübergreifend kohärent zu gestalten, ist es gleichermaßen essenziell, vernetzte Ansätze auch thematisch in den Vordergrund zu stellen. So ist es sinnvoll und zielführend, beispielsweise den Zusammenhang von Hunger und Fehlernährung, quantitativer und qualitativer Agrarproduktion, Klimawandel und kriegerischen Auseinandersetzungen und damit auch das Zusammenspiel von langfristiger Entwicklungszusammenarbeit und kurzfristiger humanitärer Hilfe in einen breiteren Kontext einzubetten. Die Tatsache, dass die neue Bundesregierung ankündigt, im Bereich der Hunger- und Ernährungssicherung in „Ernährungssystemen“ zu denken, ist – bei aller Kritik an bisherigen Aushandlungsformaten 20 – ein positives Beispiel dafür, wie sich entsprechende systemisch ausgerichtete Ansätze durchsetzen können.
Wie sind nun aber die Ankündigungen und Initiativen der neuen Bundesregierung in Bezug auf Nachhaltigkeit und internationale Zusammenarbeit zu bewerten?
Umwelt- und Sozialstandards rechtlich verbindlich machen, Menschenrecht auf Nahrung verwirklichen
Die Durchsetzung und Achtung der Menschenrechte sollten im Zentrum jeder offiziellen bundesdeutschen Initiative stehen – nicht umsonst heißt es in Artikel 1 des Grundgesetzes: „Das deutsche Volk bekennt sich […] zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten […]“. Sozialstandards sind in diesem Rahmen als ein Instrument zu verstehen, das die Verwirklichung und Einhaltung eben dieser Menschenrechte gerade auch in Ländern des globalen Südens unterstützen kann. In Zeiten eines voranschreitenden Klimawandels und eines massiven globalen Biodiversitätsverlustes sind die sozialen und menschenrechtlichen Aspekte aber auch eng mit der Einhaltung von Umweltstandards verknüpft, denn in einer degradierten Umwelt können Menschenrechte – etwa das Recht auf sauberes Wasser oder das Recht auf angemessene Sanitärversorgung – nur sehr schwer garantiert werden.
Im Kontext der deutschen Entwicklungs-, aber auch der Handelspolitik bedeutet dies vor allem, globale Lieferketten so auszugestalten, dass Unternehmen verpflichtet sind, sowohl Menschenrechte als auch Umwelt- und Sozialstandards einzuhalten. Mit dem deutschen Lieferkettengesetz, das im Juni 2021 von der alten Bundesregierung verabschiedet
wurde, ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung gelungen. Die EU-Kommission hat zudem im Februar dieses Jahres Pläne für ein Gesetz vorgestellt, das über die deutschen Regelungen hinausgeht. Dies betrifft unter anderem die Anzahl von Mitarbeitenden, ab der Unternehmen nachweisen müssen, dass Menschenrechtsverletzungen in ihren Lieferketten verhindert werden. Bundesentwicklungsministerin Schulze sprach in diesem Zusammenhang von einem „starken Aufschlag der EU-Kommission, der große entwicklungspolitische Fortschritte möglich macht“. 21
Keines – keines! – der 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung wird bis 2030 erreicht werden, wenn wir im bisherigen Tempo weitermachen.
Svenja Schulze BundesministerinWird der EU-Vorschlag Gesetz, „werden davon besonders Frauen profitieren, die derzeit am meisten unter Hungerlöhnen und Gewalt am Arbeitsplatz zu leiden haben“, so die Ministerin. 22 Dieser Aufschlag ist in der Tat generell positiv zu bewerten. Dabei ist anzumerken, dass die entsprechenden Ansätze (z. B. entwaldungsfreie Lieferketten und ein Importverbot von Produkten, bei deren Herstellung Zwangsarbeit zum Einsatz kam) auch ein besonderes Interessengebiet der vorherigen BMZ-Leitungsebene waren 23 und zudem bereits im Koalitionsvertrag aufgegriffen wurden. Allerdings findet sich dort an keiner Stelle ein expliziter Verweis auf das essenzielle Recht auf angemessene, ausreichende und gesunde Nahrung, das seit 1966 im Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte niedergelegt ist. Dieses Recht wird von der Koalition auch nicht, wie es bei über 800 Millionen Hungernden zu erwarten gewesen wäre, im Zentrum der Lieferkettendebatte platziert.
Genau hier muss die Bundesregierung dringend nachschärfen. Es ist generell zu begrüßen, dass im Koalitionsvertrag eine werteorientierte Entwicklungspolitik hervorgehoben wird, denn deutsche Interessen allein dürfen eben nicht die maßgeblichen Triebfedern der wirtschaftlichen Zusammenarbeit sein. Doch muss die Bundesregierung deutlicher herausstellen, wie genau diese Werteorientierung in politisches Handeln umgesetzt werden soll. Konkret bedeutet dies zum Beispiel, dass, wie von der Welthungerhilfe gefordert, im Kontext von Ernährungssicherung klar und eindeutig auf die „Erklärung der Vereinten Nationen über die Rechte von Kleinbauern und -bäuerinnen und anderen Menschen, die in ländlichen Regionen arbeiten“ (UNDROP) Bezug genommen wird. In dieser Erklärung sind wesentliche (und oftmals gefährdete) Rechte von Menschen in ländlichen Regionen festgeschrieben, unter anderem das Recht auf Saatgut, Wasser und Land. Die UNDROP ist somit ein wesentlicher Pfeiler zur Bekämpfung der globalen Hunger- und Ernährungskrise – jetzt wie auch in Zukunft – und muss zentrale Achse des entsprechenden entwicklungspolitischen Handelns werden und bleiben. Ein vielversprechendes Instrument, mit dem die praktische Umsetzung zumindest indirekt gefördert werden kann, ist der Food Security Standard (FSS), den die Welthungerhilfe gemeinsam mit dem World Wide Fund for Nature (WWF Deutschland) und dem Zentrum für Entwicklungsforschung (ZEF) der Universität Bonn entwickelt hat. Er unterstützt Unternehmen dabei, ihrer sozialen Verantwortung gerecht zu werden.
In der kommenden Legislaturperiode muss die Bundesregierung – und eben explizit nicht nur das BMZ – das Menschenrecht auf Nahrung und auch die UNDROP als wichtige Elemente ihrer zukünftigen Politik für Hungerbekämpfung und Ernährungssicherung begreifen. Im Rahmen einer kohärenten Außenpolitik sollte sie zudem dafür Sorge tragen, dass andere Geberstaaten, etwa aus dem Kreis der G7, ebenfalls eine konkrete Ausgestaltung menschenrechtsbasierter Entwicklungspolitik sicherstellen (mehr dazu in Kapitel IV). Nur so lassen sich Hunger und Mangelernährung global überwinden.
Ernährungssysteme gerecht und nachhaltig gestalten
Die Bundesregierung hat sich in ihrem Koalitionsvertrag, wie oben erwähnt, der ressortübergreifenden Politikkohärenz verschrieben. Eine solche Kohärenz ist in ihrem internationalen Handeln dringend notwendig, um beispielsweise die Transformation der Ernährungssysteme voranzutreiben. In der Fortführung des BMZ-Kernthemas „EINEWELT ohne Hunger“ unter dem neuen Titel „Leben ohne Hunger – Nachhaltige Agrar- und Ernährungssysteme“ wird bereits angedeutet, dass von den Verantwortlichen in diese Richtung gedacht wird. Ein Ernährungssystem beschreibt das Zusammenspiel vielfältiger Teilsysteme, welche die Produktion, den Handel, die Verarbeitung und den Konsum von Nahrungsmitteln umfassen. Dabei werden alle beteiligten Verantwortlichen sowie die ökologischen und sozioökonomischen Auswirkungen einbezogen. Die Dringlichkeit, unsere Ernährungssysteme zu transformieren, scheint zu Beginn der Koalition allerdings noch nicht allen Akteur*innen klar gewesen zu sein: Der Begriff des nachhaltigen Landwirtschafts- und Ernährungssystems taucht im Koalitionsvertrag zwar auf, aber nur unter dem Aspekt „Zukunftsstrategie Forschung“. Spätestens seit dem UN-Ernährungsgipfel im Herbst vergangenen Jahres sollte aber klar sein, dass es durchaus genug Erkenntnisse 24 dazu gibt, wie eine ausreichende und gesunde Ernährung für alle Menschen auch langfristig garantiert werden kann. Selbstverständlich kann und sollte hierzu (weiter) geforscht werden. Doch die Zeit zu handeln ist jetzt.
Die Bundesregierung muss diese Legislaturperiode nutzen, um ressortübergreifend aktiv zu werden – mit dem Ziel, weltweit nachhaltige und gerechte Ernährungssysteme voranzubringen. Im Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) gibt es bereits vielversprechende Anzeichen für einen Wechsel in Richtung systemischen Denkens zur Lösung der globalen Ernährungsfragen. Das Ausrichten eines G7-Agrarministertreffens wie auch die flankierenden Stellungnahmen von Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir („Wir wollen ein Ernährungssystem, das zu allen Zielen für nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen beiträgt […]“) 25 sind gute Anzeichen dafür, dass die neue Bundesregierung die nächsten vier Jahre nutzen wird, um Kurs auf die globale Einführung nachhaltiger Ernährungssysteme zu nehmen – auch und vor allem für die Bekämpfung des globalen Hungers. Aber natürlich wird sie sich daran messen lassen müssen, ob sie tatsächlich willens und in der Lage ist, die verinnerlichten strategischen Aspekte auch politisch umzusetzen.
Anpassungsmaßnahmen zur Klimakrise stärker einfordern
Es ist wissenschaftlich unbestritten, dass der menschengemachte Klimawandel einen verheerenden Einfluss auf die Art und Weise hat und weiterhin haben wird, wie Menschen leben – und ob sie überleben können. So wurde zum Beispiel von Experten prognostiziert, dass jedes einzelne Grad Celsius globale Temperaturzunahme substanzielle Ertragsminderungen bei den wesentlichen Erntefrüchten zur Folge hat. Für eines der afrikanischen Hauptnahrungsmittel – Mais – könnten diese sogar über sieben Prozent betragen 26, und für den Kontinent wird bereits jetzt eine Temperaturzunahme von mindestens 2 Grad Celsius bis zum Ende des Jahrhunderts prognostiziert 27 – und dies bei einer zu erwartenden Vervielfachung der Bevölkerung. 28
Die Möglichkeiten der Natur, für das Überleben der Menschheit zu sorgen, ändern sich mit steigenden Temperaturen grundlegend. Niederschläge werden immer weniger kalkulierbar und Trockenperioden nehmen zu, was die Ernten in Summe sinken lässt. Maßgeblich betroffen sein werden von dieser Entwicklung vor allem die Menschen im globalen Süden, obwohl sie nur einen relativ geringen Anteil der treibhausgasrelevanten Emissionen zu verantworten haben. Vor diesem Hintergrund sollte es selbstverständlich sein, dass vor allem die Industrieländer als Hauptverursacher des Klimawandels die Menschen im globalen Süden bei der Anpassung an den Klimawandel und einer entsprechenden Weiterentwicklung ihrer oftmals rudimentären agrarischen Produktionssysteme unterstützen. Zwar sind auch zunehmend städtische Regionen von den Folgen des Klimawandels betroffen, doch müssen die Anpassungsmaßnahmen in den ländlichen Gebieten ansetzen, denn dort muss der Großteil der Nahrungsmittel für die wachsende Bevölkerung produziert werden.
Dementsprechend hat die Welthungerhilfe die Bundesregierung bereits im Kompass 2021 aufgefordert, die internationale Klimafinanzierung generell aufzustocken und dabei den Anteil der Mittel für Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel auf 50 Prozent zu erhöhen. Weiterhin sollten gerade in der Entwicklungspolitik multifunktionale Ansätze gefördert werden, um nachhaltige, standortangepasste Lösungen zu implementieren, bei denen unter anderem die Erbringung von Ökosystemdienstleistungen 29 im Zentrum steht.
Hungerbekämpfung sollte als tragende Säule des Konzepts der deutschen Entwicklungszusammenarbeit verstanden werden, denn wo keine ausreichende Ernährung vorhanden ist, ist auch keinerlei nachhaltige wirtschaftliche Entwicklung möglich.
Dr. Harry Hoffmann Projektleiter Landwirtschafts- und Ernährungspolitik, WelthungerhilfeDie amtierende „Fortschrittskoalition“ macht deutlich, dass die Bundesrepublik ihre internationalen Verpflichtungen im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und Klimafinanzierung erfüllen will. So sollen die Mittel für die internationale Klimafinanzierung laut Koalitionsvertrag weiter steigen, wobei bisher allerdings vermieden wurde, diese Aussage mit konkreten finanziellen Angaben zu untermauern. Weiterhin wurde klargestellt, dass nachhaltige, agrarökologische Ansätze gerade in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft sowie allgemein für die Ernährungssicherung stärker gefördert werden sollen. Beide Entwicklungen sind grundsätzlich positiv zu bewerten. Besonders hervorzuheben ist, dass Strategien zur Anpassung an den Klimawandel und Entwicklungszusammenarbeit explizit zusammengedacht werden. Allerdings müssen diese Unterstützungsleistungen wirklich den
Menschen zugutekommen, die sie am dringendsten benötigen: Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, aber auch Landlose, Nomad*innen und Indigene im globalen Süden. Es ist absolut zentral, diese Menschen dabei zu unterstützen, Nahrungsmittel in ausreichendem Maße zu produzieren, um potenziellen Engpässen, wie sie etwa derzeit durch den Ukraine-Krieg auftreten, wirksam zu begegnen. Ziel muss es hierbei aber immer sein, durch passgenaue Förderung sozial und ökologisch, aber auch ökonomisch tragfähige Betriebe aufzubauen, die es den Menschen ermöglichen, ihre Ernährung langfristig zu sichern.
Humanitäre Hilfe vorausschauend, lokal und bedürfnisorientiert gestalten
Mit Blick auf die humanitäre Hilfe gehen sowohl die großen politischen Leitlinien als auch die angekündigten kleinen konkreten Schritte der Bundesregierung grundsätzlich in die richtige Richtung. Besonders begrüßenswert ist, dass der sogenannte Grand Bargain weitergeführt wird und sich auch im Koalitionsvertrag wiederfindet. Dieser Grand Bargain, der während es Humanitären Weltgipfels in Istanbul im Mai 2016 ins Leben gerufen und 2021 als Grand Bargain 2.0 überarbeitet wurde, ist eine einzigartige Vereinbarung zwischen vielen der größten Geber einerseits und humanitären Organisationen andererseits. Übergeordnetes Ziel des Grand Bargain ist es, die Effizienz und Effektivität humanitärer Vorhaben zu steigern. Besonders bedeutend ist, dass sich die amtierende Bundesregierung den entsprechenden neun Zielen (plus Querschnittsziel), also beispielsweise der Reduzierung von Managementkosten, der Erhöhung von Programmen mit direktem Bargeldtransfer oder einer Verbesserung gemeinsamer und unabhängiger Bedarfsanalysen, verpflichtet fühlt und vor allem zusagt, sich an der Umsetzung und Weiterentwicklung der Ziele aktiv und engagiert zu beteiligen. Weiterhin ist sehr zu begrüßen, dass der Ausbau der sogenannten Lokalisierung, also der nachhaltigen Stärkung lokaler Akteure im Kontext der humanitären Hilfe, von der jetzigen Bundesregierung explizit unterstützt wird – auch wenn dies mit einer Ressourcenumverteilung zuungunsten großer internationaler Nichtregierungsorganisationen einhergehen wird. Ob und inwieweit sich dies aber auch in konkreten Finanzierungsmöglichkeiten wiederfinden wird, muss sich erst zeigen.
Ein weiteres Beispiel für richtige Schritte in der humanitären Hilfe ist die Ankündigung im Koalitionsvertrag, das Amt der Beauftragten für Menschenrechtspolitik und humanitäre Hilfe aufzuwerten und mit zusätzlichem Personal auszustatten. Dies ist ein positives Zeichen dafür, dass dem Themenfeld mehr politische Aufmerksamkeit zukommt. Des Weiteren begrüßen wir, dass die Bundesregierung angekündigt hat, vorausschauende humanitäre Hilfe als zentralen Ansatz weiterzuverfolgen und deren Finanzierung substanziell zu erhöhen. Dieser Ansatz nutzt die Tatsache, dass ein Großteil der auftretenden Katastrophen vorhersagbar ist, Hilfe also geleistet werden kann, bevor Katastrophen eintreten. So war es der Welthungerhilfe beispielsweise 2021 auf Grundlage präziser Vorhersagen möglich, vulnerable Familien in Madagaskar durch Gutscheine oder Informationen zum drohenden Preisverfall im Viehsektor frühzeitig gezielt zu unterstützen – bevor die Hungerkrise ihren Höhepunkt erreichte und die Lebensgrundlagen unwiederbringlich verloren waren. Allerdings muss auch in diesem Bereich Wissen in konkretes Handeln umgesetzt werden, was langfristige Investitionen und Finanzierungszusagen voraussetzt.
Den eingeschlagenen Weg weiterverfolgen
Die politischen Ansätze der jetzigen Bundesregierung hinsichtlich einer Entwicklungspolitik, die sich langfristig und nachhaltig um die Bekämpfung von Hunger, Mangelernährung und Armut dreht, sind auf den ersten Blick vielversprechend. Viele der politischen Handlungsempfehlungen, die die Welthungerhilfe der Bundesregierung mit dem Kompass 2021 an die Hand gegeben hat, wurden zumindest in Ansätzen in den Koalitionsverhandlungen beherzigt. Vor dem Hintergrund der großen Verwerfungen, die seit dem 24. Februar 2022 Europa verteidigungspolitisch, agrar- und handelspolitisch jedoch die gesamte Welt betreffen, sind umfangreiche Maßnahmen zur Bekämpfung von Hungerkatastrophen – und solche, die weit über das bisherige Maß hinausgehen – das Gebot der Stunde. Trotz Krisenmanagement muss an den gesetzten Zielen festgehalten werden: Der Koalitionsvertrag muss weiter unbedingte Richtschnur des entwicklungspolitischen Handelns sein und bleiben.
Die Bundesregierung muss in der aktuellen Legislaturperiode (und ggf. darüber hinaus) substanzielle Anstrengungen unternehmen, um die zu erwartenden katastrophalen Auswirkungen der Versorgungs- und Nahrungsmittelpreiskrise zu begrenzen. Hungerbekämpfung muss in der Entwicklungszusammenarbeit weiterhin absolute Priorität genießen. Sie sollte als tragende Säule des Konzepts der deutschen Entwicklungszusammenarbeit verstanden werden, denn wo keine ausreichende Ernährung vorhanden ist, ist auch keinerlei nachhaltige wirtschaftlich Entwicklung möglich. Dies gilt auch und vor allem für die sich abzeichnende Fokussierung der Regierung auf vernetzte Ansätze. Die sich momentan abzeichnenden Verwerfungen im globalen Agrarhandel zeigen zudem, wie wichtig es ist, auch die Entwicklung von ländlichen (Agrar-)Strukturen im globalen Süden maßgeblich zu unterstützen, denn dies ist ein vielversprechender Ansatz, um Schocks auf der globalen Ebene auf nationaler oder auch lokaler Ebene abzufedern. Dementsprechend müssen die Unterstützung für bäuerliche Betriebe im globalen Süden und die Hungerbekämpfung wesentliche Elemente der deutschen Entwicklungszusammenarbeit bleiben.
Weiterlesen:
Fußnoten
17 BMZ (2022). Rede von Bundesentwicklungsministerin Svenja Schulze vor dem Deutschen Bundestag in Berlin. In: https://www.bmz.de/de/aktuelles/reden/ministerin-svenja-schulze/220114-rede-bundestag-104408 (letzter Zugriff: 20.04.2022).
18 FAO (2022). The FAO Food Price Index makes a giant leap to another all-time high in March. In: https://www.fao.org/worldfoodsituation/foodpricesindex/en (letzter Zugriff: 20.04.2022).
19 VENRO (2022). Anforderungen an eine gerechte und nachhaltige europäische Handelspolitik mit Afrika. In: https://venro.org/fileadmin/user_upload/Dateien/Daten/Publikationen/Standpunkte/VENRO-Standpunkt_Bilanz_BM_M%C3%BCller.pdf (letzter Zugriff: 20.4.2022).
20 Hoffmann, Harry/ Hanano, Asja/ Klaus, Lisa Maria (2021). Wo bleibt die Trendwende im globalen Ernährungssystem? In:Ernährung im Fokus 4. 290-291. In: https://www.bzfe.de/ernaehrung-im-fokus/fokusnachhaltigkeit/wo-bleibt-die-trendwende-im-globalen-ernaehrungssystem (letzter Zugriff: 12.05.2022).
21 Siegmund, Thomas/ Specht, Frank (2022). Justizminister Buschmann: EU-Lieferkettengesetz muss praktikabel sein. In: Handelsblatt 23.02.2022. In: https://www.handelsblatt.com/politik/deutschland/menschenrechte-justizminister-buschmann-eu-lieferkettengesetz-muss-praktikabel-sein/28098038.html (letzter Zugriff: 20.4.2022).
22 Evangelischer Pressedienst – epd (2022). Brüssel will mit Sorgfaltspflichten Menschenrechte und Umwelt fördern. In: https://www.welt-sichten.org/nachrichten/39954/bruessel-will-mit-sorgfaltspflichten-menschenrechte-und-umwelt-foerdern (letzter Zugriff: 20.04.2022).
23 Deutsche Presseagentur – dpa(2020). Entwicklungsminister Müller will Regenwälder besser schützen. In: https://www.sueddeutsche.de/wissen/umwelt-entwicklungsminister-mueller-will-regenwaelder-besser-schuetzen-dpa.urn-newsml-dpacom-20090101-200914-99-555483 (letzter Zugriff: 20.04.2022).
24 von Braun, Joachim/ Afsana, Kaosar/Fresco, Louise O./ Hassan, Mohamed (Hrsg.) (2021). Science and Innovations for Food Systems Transformation and Summit Actions. In: https://sc-fss2021.org/wp-content/uploads/2021/09/ScGroup_Reader_UNFSS2021.pdf (letzter Zugriff: 20.04.2022).
25 BMEL (2022). Ukraine: G7-Agrarminister diskutierten Auswirkungen auf Ernährungssicherheit. In: https://www.bmel.de/DE/themen/internationales/internationale-beziehungen/g7-praesidentschaft-2022.html#:~:text=Bundeslandwirtschaftsminister
%20%C3%96zdemir%3A%20%E2%80%9EWir%20wollen%20ein,den%20
Erhalt%20des%20Artenreichtums%20sichert (letzter Zugriff: 20.04.2022).
26 Zhao, Chuang et al. (2017). Temperature increase reduces global yields of major crops in four independent estimates. In: PNAS 114 (35), 9326-9331. In: https://www.pnas.org/doi/full/10.1073/pnas.1701762114 (letzter Zugriff: 12.05.2022).
27 Niang, Isabelle et al. (2014). Africa. In: Climate Change 2014: Impacts, Adaptation, and Vulnerability. Part B: Regional Aspects. Contribution of Working Group II to the Fifth Assessment Report of the Intergovernmental Panel on Climate Change. Cambridge University Press, Cambridge, United Kingdom and New York, NY, USA, S. 1199–1265. In: https://www.ipcc.ch/site/assets/uploads/2018/02/WGIIAR5-Chap22_FINAL.pdf (letzter Zugriff: 12.05.2022).
28 Gerland, P. et al. (2014). World population stabilization unlikely this century. Science 346(6206), 234–237. In: https://www.science.org/doi/10.1126/science.1257469 (letzter Zugriff: 12.05.2022).
29 Hoffmann, Harry et al. (2019). Agriculture and Ecosystem Services. In: Encyclopedia of Food Security and Sustainability 3, 9-13. In: https://doi.org/10.1016/B978-0-08-100596-5.22202-6 (letzter Zugriff: 13.05.2022).