Kleinbäuer*innen sowie Landarbeiter*innen im globalen Süden sind selten in soziale Sicherungssysteme eingebunden und oft von Hunger betroffen. In Nachhaltigkeitsstandards und Zertifizierungssystemen wurden diese Aspekte bisher kaum berücksichtigt. Der Food Security Standard (FSS) der Welthungerhilfe schließt diese Lücke.
Soziale Sicherungssysteme
Soforthilfen, Tankrabatt, Energiepreisbremse – die Bundesregierung hat Entlastungspakete geschnürt, um die Auswirkungen der rasant steigenden Lebenshaltungskosten abzufedern. In Ländern des globalen Südens müssen die Menschen auf solche Maßnahmen weitestgehend verzichten; in den Genuss sozialer Sicherungssysteme kommt nur ein Bruchteil der dortigen Bevölkerung. Armut und Hunger sind vorprogrammiert.
„Zero Hunger“: Mit dem SDG 2 hat sich die internationale Staatengemeinschaft vorgenommen, den Hunger in der Welt bis zum Jahr 2030 zu beenden. Doch von diesem Ziel sind wir weit entfernt: Im Jahr 2022 belief sich die Zahl der akut Hungernden auf 258 Millionen in 58 Ländern, das sind 100 Millionen mehr als vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie. 733 Millionen Menschen leiden zudem an chronischem Hunger. Dieses Ausmaß des globalen Hungers ist auch darauf zurückzuführen, dass Millionen Menschen schon vor der sich zuspitzenden Situation multipler Krisen (Klimafolgen, Kriege, Corona-Pandemie) am Rande des Mangels lebten. Unter diesen Umständen können Ereignisse wie ein Preisschock oder eine Naturkatastrophe, aber auch ein Krankheits- oder Todesfall in der Familie schnell zu einer Notlage für den gesamten Haushalt führen.
Beispiel Bangladesch: Soziale Leistungen reichen bei Weitem nicht aus
In Bangladesch sind die Preise für Lebensmittel wie Weizen, Linsen und Milchpulver seit dem Beginn des russischen Angriffskrieges in der Ukraine kontinuierlich gestiegen. Dies hat besonders den Menschen mit kleinem oder mittlerem Einkommen, die infolge der Covid-19-Pandemie ihre Arbeit verloren haben, zugesetzt. Zwar hat die Regierung Maßnahmen ergriffen, darunter die Senkung der Zölle auf Lebensmittelimporte oder den Verkauf von subventionierten Nahrungsmitteln an vulnerable Bevölkerungsgruppen. Die Initiativen sind jedoch unzureichend und erreichen zum Teil nicht die wirklich bedürftigen Menschen. Tausende von Menschen konkurrieren an den Verkaufsstellen um zu wenige Produkte. Die Ausgabestellen befinden sich zudem in den Städten. Die Landbevölkerung müsste folglich Transportkosten und Zeit aufwenden, um sich die subventionierten Nahrungsmittelpakete zu besorgen. Da die vorhandenen Sozialschutzleistungen bei weitem nicht ausreichend sind, erhalten aktuell 1.340 Familien in Cox’s Bazar von der Welthungerhilfe Lebensmittelgutscheine.
Soziale Sicherung als Basis nachhaltiger Entwicklung
Soziale Sicherungssysteme schützen Menschen davor, in prekären Situationen in die Armut abzurutschen. Sie ebnen zudem den Weg zu einem angemessenen Lebensstandard – beispielsweise, indem sie schädliche Bewältigungsstrategien überflüssig machen. Denn häufig nehmen arme Familien ihre Kinder aus der Schule, um deren Arbeitskraft zur Existenzsicherung zu nutzen, oder sie sehen sich gezwungen, wichtige Vermögenswerte wie das eigene Vieh zu verkaufen.
Soziale Sicherungssysteme stabilisieren Einkommensströme, stärken die lokale Nachfrage und tragen so zur regionalen wirtschaftlichen Entwicklung bei.
Anne-Catrin Hummel Senior Policy Advisor, WelthungerhilfeSoziale Sicherungssysteme ermöglichen den Menschen, neue Wege einzuschlagen – etwa risiko-, aber ertragreichere Kulturen anzubauen, Maschinen zu kaufen, in die Ausbildung zu investieren oder ein Unternehmen zu gründen. Zudem geben einkommensschwache Haushalte, die Transferleistungen erhalten, im Durchschnitt deutlich mehr für Lebensmittel und damit die Sicherung ihrer Ernährung aus als solche, die keine Leistungen erhalten.
Soziale Sicherungssysteme verringern somit Ungleichheit, stärken den gesellschaftlichen Zusammenhalt und tragen zu Stabilität und Frieden bei. Damit sind sie ein Schlüsselinstrument zum Erreichen der globalen Ziele für nachhaltige Entwicklung (SDGs) und der damit eng verbundenen Menschenrechte auf gesunde Ernährung, Gesundheit und einen angemessenen Lebensstandard. Zudem sind sie ein wichtiger Baustein im sogenannten Triple-Nexus-Ansatz der Entwicklungspolitik, der humanitäre Hilfe, Entwicklungszusammenarbeit und Friedensförderung verbindet.
Die vier Funktionen von sozialen Sicherungsinstrumenten
Durch soziale Sicherungsinstrumente sollen die Menschen im unteren Teil der Einkommenspyramide über die Armutsgrenze gehoben werden.
- Schutzfunktion: Schließen der Armutslücke durch Geld- oder Sachmittel und Subventionen.
- Fördernde Funktion: Risikominimierung als Motor für Entwicklung.
- Präventive Funktion: Schutz vor Verschlechterung der Lebenssituation und Abrutschen in die Armut.
- Transformative Funktion: zum Beispiel durch Stärkung von Arbeitnehmerrechten oder Änderungen des Rechtsrahmens zum Schutz gefährdeter Gruppen.
Die Verantwortung des Privatsektors
Auch der Privatsektor trägt Verantwortung für die Verwirklichung der Menschenrechte auf soziale Sicherung und Nahrung. In formalisierten Arbeitsverhältnissen sollten Arbeitgeber*innen neben angemessenen Löhnen auch Sozialversicherungsbeiträge zahlen und die Arbeitnehmer*innen in besonderen Situationen wie Schwangerschaft, Krankheit oder Alter unterstützen. Durch Steuerzahlungen werden die jeweiligen Staaten außerdem befähigt, finanzielle Mittel für soziale Schutzmaßnahmen aufzubringen. Eine besondere Herausforderung stellt daher der informelle Sektor dar, in dem weltweit rund zwei Milliarden Menschen zumeist in Entwicklungs- und Schwellenländern arbeiten, häufig unter menschenunwürdigen Arbeitsbedingungen. Fehlende formelle soziale Schutzmechanismen werden meist über Familien- oder Nachbarschaftsgefüge ausgeglichen. Dies ist jedoch bei Ereignissen wie Naturkatastrophen, Pandemien oder Kriegen und Konflikten schwierig, da hier in der Regel der Großteil einer Gemeinschaft negativ betroffen ist.
Verankerung in der nationalen Rechtsordnung
Um langfristig zur Ernährungssicherung und Armutsreduzierung beizutragen, müssen soziale Sicherungsprogramme gesetzlich und institutionell verankert werden. Hier sind die (National-)Staaten in der Pflicht. Sie müssen die damit verbundenen menschenrechtlichen Ansprüche in der (nationalen) Rechtsordnung festschreiben, Strategien und Finanzierungspläne ausarbeiten und der Bevölkerung beitragsfinanzierte Systeme und/oder steuerfinanzierte Programme (wie Sozialhilfe, Geldtransfers, öffentliche Arbeitsprogramme) zur Verfügung stellen. Auch müssen sie die Bevölkerung über diese Systeme und Programme informieren und Monitoring- und Beschwerdemechanismen einrichten. Hier setzt die Welthungerhilfe mit einem Vorhaben zur Stärkung guter Regierungsführung für das Recht auf Nahrung im ländlichen Raum an.
Staatliche Sozialleistungen einfordern
In den abgelegenen ländlichen Räumen mit ihrer oft mangelhaften Infrastruktur (Straßen, Märkte, Schulen, Krankenhäuser) sind die Menschen besonders häufig von Armut und Unterernährung betroffen. Selbst in Ländern, in denen es soziale Sicherungsprogramme gibt, wissen sie häufig gar nicht, dass sie einen Anspruch auf Sozialleistungen haben oder wie sie ausbleibende Leistungen einfordern können. Partnerorganisationen der Welthungerhilfe informieren die Landbevölkerung in ihren Projekten in Kenia, Malawi, Burkina Faso und Indien über ihre Rechte. Sie unterstützen Dorfgemeinschaften und besonders vulnerable Gruppen dabei, Zugang zu staatlichen Gesundheitsleistungen und Sozialhilfe zu erhalten. In einem Rechenschaftsverfahren wird die Qualität der öffentlichen Dienstleistungen auf der Basis von Kriterien, die mit den staatlichen Behörden abgestimmt wurden, überprüft. Der Verbesserungsbedarf wird in einem gemeinsam verabschiedeten Aktionsplan festgehalten und regelmäßig überprüft. So wurden beispielsweise Beschwerdestellen eingerichtet, an die sich Familien wenden können, denen die ihnen zustehenden staatlichen Nahrungsmittelrationen vorenthalten werden, oder Witwen, denen ihre Rente nicht ausgezahlt wird.
Sorgt der Staat in einem bestimmten Bereich nicht selbst für sozialen Schutz, sondern verlässt sich auf die Leistungen Dritter (z. B. private Kranken-, Renten- oder Mikroversicherungen), muss er durch geeignete Regulierungsmaßnahmen sicherstellen, dass der Zugang zu den Leistungen für alle Bevölkerungsgruppen gesichert ist.
Insbesondere in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen und entsprechenden Finanzierungsengpässen ist es eine große Herausforderung, die Arbeit aller Akteure und Sektoren zur Umsetzung sozialer Sicherungssysteme und zur Ernährungssicherung zu koordinieren. Diese Aufgabe sollte höchste Priorität sowohl bei den Nationalstaaten als auch bei der internationalen Gemeinschaft haben. Dies gilt auch für die deutsche Bundesregierung. Die universellen Grundrechte gelten für jeden Menschen auf der Welt und können nur dann gesichert werden, wenn die internationale Staatengemeinschaft gemeinsam an ihrer Einhaltung arbeitet.
Forderungen an die unterschiedlichen Akteure:
Nationalstaaten
- Der universelle Anspruch auf soziale Grundsicherung sollte in allen Ländern gesetzlich und institutionell verankert werden. Dies gilt insbesondere auch für Frauen, die häufig in keinem (offiziellen) Arbeitsverhältnis stehen und daher keinerlei Absicherung haben.
- Um Sozialschutzsysteme aufzubauen und umzusetzen und fragmentierte Programme zu reformieren, brauchen Regierungen politischen Willen, einen stärkeren Systemansatz und Finanzierungsstrategien (inkl. kohärenter Steuersysteme, Abbau von Korruption).
- Der bisherige Einsatz der Bundesregierung für menschenrechtliche Sorgfaltspflichten, Umwelt- und Sozialstandards in globalen Lieferketten muss weiter ausgebaut werden. Länder des globalen Südens sollten die Lieferkettengesetze nutzen, um soziale Mindeststandards einzuführen.
Internationale Organisationen und NGOs
- Menschen in Notlagen, die von ihren Regierungen keine Hilfe erwarten können, müssen unmittelbare und den humanitären Prinzipien entsprechende Nothilfe in Form von Nahrungs-, Sach- und Bargeldmitteln erhalten.
- NGOs können die Menschen dabei unterstützen, die ihnen zustehenden Sozialleistungen zu kennen, sie zu beantragen und einzufordern (rechtebasierter Ansatz).
Privatsektor
- Unternehmen müssen soziale Verantwortung für ihre Mitarbeitenden übernehmen; sie müssen Sozialversicherungsbeiträge zahlen und ihre Angestellten an Krankenversicherungs- und Rentensysteme anbinden.
- Unternehmen können einen wichtigen Beitrag zum Ausbau sozialer Sicherungssysteme leisten, indem sie in den Ländern, in denen sie agieren, gewissenhaft Steuern zahlen und von den dortigen Regierungen einfordern, dass ihre Beschäftigten in adäquate soziale Sicherungssysteme eingebunden werden.