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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 02/2025
  • Nadine Bader, Dr. Anika Reinbott
Schwerpunkt

Innovativ: Wie in Indien neue Pfade gegen Mangelernährung bei Kindern getestet werden

Es gelingt nicht, chronische kindliche Unterernährung spürbar zurückzudrängen. In manchen Haushalten zeigen dabei bestimmte Verhaltensweisen, wo unvermutet Verbesserungen zu erzielen sind.

Eine Familie beim Essen in Madhya Pradesh. In Fragen der Unterernährung zählt auch, wie eine Mahlzeit zu sich genommen wird. © GIZ SENU Project

Was ist, wenn das Kind Ihres Nachbarn besser ernährt, aktiver und gesünder ist als Ihr eigenes? Woran können Sie erkennen, was die Nachbarn anders machen als Sie? Oft sind es nicht die Experten-Lösungen oder die besseren sozioökonomischen Verhältnisse, in denen die andere Familie lebt, sondern kleine Unterschiede oder Verhaltensänderungen, die die Situation ihres Kindes erfolgreich verändern könnten.

Trotz der Verbesserungen in den letzten Jahrzehnten sind die Daten zur weltweiten Kinderernährung immer noch besorgniserregend. Der State of Food Security and Nutrition in the World (SOFI) (FAO et al 2024) berichtet, dass im Jahr 2024 22,3 Prozent der Kinder unter fünf Jahren – das sind 148 Millionen –  unter chronischer und 6,8 Prozent oder 45 Millionen unter akuter Unterernährung leiden. Mehr als jedes zehnte Kind (14,7 Prozent) wird mit zu niedrigem Geburtsgewicht geboren. Dies weist auf die dringende Notwendigkeit hin, unsere derzeitigen Ernährungssysteme umzugestalten, in denen ein Drittel der Weltbevölkerung (2,8 Milliarden Menschen) sich keine gesunde Ernährungsweise leisten kann – mit entsprechenden Konsequenzen für die Ernährung der Kinder. Nur 21 Prozent der Weltbevölkerung ernähren sich gemäß den einschlägigen Empfehlungen gesund, d.h. divers, mit vor allem  Gemüse, Obst oder tierischen Lebensmitteln.

Mangelernährung im frühen Lebensalter, insbesondere in den ersten 1.000 Tagen (von der Empfängnis bis zum zweiten Lebensjahr), beeinträchtigt die körperliche und geistige Entwicklung des Kindes. Mangelerscheinungen in dieser Phase sind oft irreversibel und wirken sich auf die Ernährungssituation im späteren Leben aus. Als Erwachsene werden diese Kinder mit größerer Wahrscheinlichkeit an ernährungsbedingten nicht übertragbaren Krankheiten wie Diabetes oder koronaren Herzkrankheiten leiden (de Onis 2016, Swinburn et al 2019, Wells 2020). Dies wird Auswirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft haben. Die Kosten von Fehlernährung insgesamt für die Weltwirtschaft werden auf jährlich 41 Billionen Dollar geschätzt (Shekar M. et al 2024). Zugleich zeigen diese Daten, dass Investitionen in Ernährungsmaßnahmen hoch rentabel sind: Jeder investierte Dollar bringt der Wirtschaft 23 Dollar ein.

Es gibt zwar Erfahrungswerte dafür, was in der 1.000-Tage-Spanne gut funktioniert – seien es ausschließliches Stillen in den ersten sechs Lebensmonaten, eine abwechslungsreichere Ernährung für Frauen und Kinder, Füttern nach Bedarf, angereicherte Beikost, Mikronährstoffzusätze usw. Aber wir wissen, dass die wirksame und kontextgerechte Umsetzung und Skalierung solcher Maßnahmen, um sie in die lokalen Ernährungs- und Gesundheitssysteme einzubetten und mit ihnen zu verknüpfen, zeit- und ressourcenaufwändig sein können. Die Qualifizierung von Sozial- und Gesundheitsmitarbeitenden vor Ort, die in den meisten Ländern auf freiwilliger Basis arbeiten und mit einer ganzen Reihe verschiedener Aufgaben belastet sind, hat bisher nicht ausgereicht, um die Unterernährung von Kindern in ausreichendem Maße zu bekämpfen.

Neuer Ansatz aus der Verhaltenslehre

Die Erfahrung zeigt, dass wir den Ursachen der Unterernährung von Kindern zusätzliche Aufmerksamkeit schenken und dabei auch Faktoren berücksichtigen müssen, die nur indirekt mit der Ernährungsweise zusammenhängen könnten. Das folgende Beispiel aus Indien veranschaulicht einen Ansatz zur Überwindung der Unterernährung von Kindern, der mit Lösungen beginnt, die in den jeweiligen Gemeinden bereits vorhanden sind. Es bietet auch einen starken verhaltensorientierten Ansatz zum Empowerment der Gemeinden.

Inspiriert von der innerhalb kurzer Zeit erfolgreichen Umsetzung des Positive Deviance-Ansatzes (PD, siehe Kasten) zur Überwindung der Unterernährung von Kindern in Vietnam in den 1990er Jahren, wandte das Projekt Securing Nutrition, Enhancing Resilience (SENU)der Deutschen Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) als Teil eines größeren Globalvorhabens zur Ernährungssicherung und Resilienzstärkung den PD-Ansatz in ausgewählten Dörfern des zentralindischen Bundesstaates Madhya Pradesh an. Ähnlich dem Beispiel in Vietnam stellte das Projekt die Leitfrage: „Gibt es in den Familien, die in geringen sozioökonomischen Verhältnissen leben, gut genährte Kinder?“ Durchgeführt wird das Vorhaben in Kooperation mit der Welthungerhilfe Indien und finanziert vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ).

Der PD-Ansatz folgt fünf Schritten:

1. Definition des komplexen verhaltensbezogenen Problems,

2. Identifizierung von Familien mit einem gut ernährten Kind und

3. Entdeckung ihrer ungewöhnlichen Praktiken, die zu guten Ernährungsergebnissen führen,

4. Entwicklung eines Aktionsplans zur Verbreitung der Praktiken und

5. Monitoring des Prozesses und der Verhaltensänderung durch Aufnahme der ungewöhnlichen Praktiken.

Im Idealfall werden alle Familien der Gemeinden während des gesamten Prozesses einbezogen, um die Eigenverantwortung und die kollektive Motivation für Veränderungen zu fördern. In Indien arbeitete das SENU-Projekt mit dem bundesstaatlichen Department of Women and Child Development (DWCD) zusammen. Ziel war nicht nur, ungewöhnliche Praktiken für eine gute Kinderernährung zu finden, sondern auch der Kapazitätsaufbau unter den lokalen  Sozial- und Gesundheitsmitarbeitenden, die tagtäglich mit den Familien zu tun haben.

Infobox: ernährungsrelevante Programme in Indien

Der indische National Food Security Act umfasst drei wichtige Programme zur Ernährungssicherheit, die einem lebenszyklusorientierten Ansatz folgen: 1) Integrierte Entwicklungsdienste, die Kinder im Alter von sechs Monaten bis sechs Jahren mit Mahlzeiten in Kinderbetreuungseinrichtungen sowie Schwangere und stillende Mütter mit angereicherten Lebensmittelrationen versorgen, 2) Mittagsmahlzeiten in Schulen und 3) das öffentliche Verteilungssystem, das Menschen, die unter der Armutsgrenze leben, Grundnahrungsmittel zu subventionierten Preisen zur Verfügung stellt. Jüngsten Daten zufolge sind die Programme aber nicht ausreichend in der Lage, Mangelernährung insbesondere bei Kleinkindern ganzheitlich zu bekämpfen. Weitere Bemühungen der indischen Regierung im Rahmen der 2018 gestarteten National Nutrition Mission trugen mittels eines eines "Konvergenzansatzes" zu einem leichten Rückgang der Ernährungsunsicherheit bei. Ein zentraler Bestandteil ist eine groß angelegte Kommunikationskampagne zur Verhaltensänderung, die Aktivitäten wie Veranstaltungen oder einen jährlichen Ernährungsmonat in Zusammenarbeit mit Ministerien und anderen Akteuren umfasst. Diese Bemühungen erfordern bestimmte Fähigkeiten der lokalen Mitarbeitenden.

Der PD-Ansatz bietet Regierungen und der Entwicklungszusammenarbeit die Möglichkeit, über den üblichen Ansatz von Interventionen zur Verhaltensänderung hinauszugehen, bei dem in der Regel Experten außerhalb der Gemeinden über Training und Schulungen evidenzbasierte Ernährungspraktiken vermitteln. Oftmals sind diese empfohlenen Praktiken in Bezug auf die Ernährung von Säuglingen und Kleinkindern sowie zur Ernährung von Schwangeren und stillenden Müttern, z.B. durch eine diverse Nahrungsaufnahme, nicht ohne Weiteres umsetzbar. So können sich in den Projektdörfern die meisten Familien täglich kein Obst und Gemüse leisten, oder sie sind nicht verfügbar. Das macht es schwierig, die empfohlene Vielfalt für Mütter und Kinder zu erreichen, wenn die zwei üblichen Mahlzeiten am Tag oft Reis- oder Weizenpfannkuchen mit Linsensuppe sind.

Vielfalt ist schwer zu erreichen

Nach dem PD-Ansatz kann die Förderung evidenzbasierter Ernährungspraktiken durch praxisbezogene Erkenntnisse – eben ungewöhnliche Praktiken – aus dem jeweiligen Umfeld ergänzt werden. In den ausgewählten Forschungsdörfern besuchte das Projektteam zusammen mit lokalen NRO-Partnern die vor Ort von  Sozial- und Gesundheitsmitarbeitenden ausgewählten Familien. Diese zeichneten sich dadurch aus, dass sie ein gut ernährtes Kind hatten. Bei dem Besuch wollte das Team herausfinden, was die Familien anders machen als ihre Nachbarn, die in ähnlichen sozioökonomischen Verhältnissen leben und unterernährte Kinder haben.

So wird die gängige Umsetzung von Maßnahmen zur Verhaltensänderung auf den Kopf gestellt.  Es ist nicht der Ernährungsexperte, der mitteilt, was für eine bessere Kinderernährung getan werden muss, sondern der Expertenhut wird abgelegt und die Entdeckung bereits vorhandener Lösungen vor Ort gefördert. Es geht um Lösungen und Verhaltensänderung, die von den Familien selbst ausgeht – mit Praktiken, die im jeweiligen Kontext funktionieren und daher eine größere Chance auf Eignung, Übernahme und Nachhaltigkeit bieten.

Eier statt Snacks. Eine nicht so geläufige Gewohnheit in den Haushalten von Barwani im indischen Bundesstaat Madhya Pradesh. © GIZ Senu Project

Das Forschungsteam entdeckte in den Dörfern eine Reihe von Praktiken, die aus der Reihe fielen. Sie drehen sich um verschiedene Themen: Kinderernährung und -betreuung, Familienernährung, Hygiene, Innovationen im Ernährungsgarten, die Beteiligung des Vaters an der Familienernährung und an der familiären Arbeitsteilung sowie die Familienwerte und die damit verbundenen Entscheidungsprozesse. Ungewöhnliche Praktiken waren z.B.: Die Schwiegertochter isst gemeinsam mit dem Rest der Familie und nicht zuletzt das, was übrig bleibt; der Vater unterstützt bei der Hausarbeit, kauft Gemüse und Obst auf dem Markt, wenn die Preise dafür saisonbedingt fallen, oder kauft ein Ei für das Kind anstelle eines stark verarbeiteten Snacks wie Chips zum gleichen Preis; die Familie bewässert ihren Garten mit dem Abwasser aus dem Badezimmer, während andere Familien sagen, dass sie aufgrund von Wasserknappheit keinen Garten haben können.

Dies sind Abweichungen von den üblichen Praktiken, die sich positiv auf die Ernährung von Kindern auswirken können. Selbst subtile Praktiken wie Bonding mit dem Kleinkind durch Zuneigung und Aufmerksamkeit, statt das Kind zu ignorieren, wenn es Bedürfnisse äußert, und eine unterstützende Nachbarschaft, in der das Kind auch mal kleine Snacks bekommt, können einen Unterschied machen.

Die Entdeckung dieser abweichenden Verhaltensweisen weckte das Interesse der Sozial- und Gesundheitsmitarbeitenden vor Ort, die tagtäglich Eltern mit Kleinkindern zu gesunder Ernährung und Hygienepraktiken beraten. Die Beratungen und ihr Schwerpunkt liegen in der Regel auf den Familien mit unterernährten Kindern, also einem problemorientierten Ansatz. Die Tatsache, dass das Forschungsteam sie nach Familien mit einem gut genährten Kind in eher ressourcenarmen Gegenden ihrer Dörfer fragte, überraschte und inspirierte sie, das Problem der Unterernährung aus einer Perspektive zu betrachten, die nach vorhandenen Lösungen sucht. Während der Forschungsbesuche bei den PD-Familien lernten sie selbst Innovationen kennen, von denen sie vorher nichts wussten.

Eine Wanderausstellung soll Gemeindemitgliedern zeigen, wie Essensgewohnheiten oder Gemüsegärten gegen Mangelernährung wirken können. © GIZ SENU Project

Für die Verbreitung der ungewöhnlichen Praktiken engagierte das Forschungsteam heranwachsende Mädchen aus den Forschungsdörfern als treibende Kräfte des Wandels. Nach einem Training wurden sie gebeten, Fotos von den ausgewählten Praktiken in Familien ihrer Gemeinde zu machen. Die Bilder wurden dann in einer partizipativen Wanderausstellung gezeigt, die zusammen mit den örtlichen Sozial- und Gesundheitsmitarbeitenden durchgeführt wurde. Dies weckte Interesse und regte zum Nachdenken an, insbesondere zur Rollen- und Aufgabenverteilung in den Familien und der Ernährungsverbesserung durch innovative Hausgärten.

In einem weiteren Schritt stellte das Forschungsteam den lokalen NRO-Partnern und Beschäftigten Methoden vor, wie sie gemeinsam mit den Gemeindemitgliedern Maßnahmen entwickeln können, um die entdeckten abweichenden Praktiken stärker zu verbreiten. Dieses Tool des PD-Ansatzes bietet eine große Chance, dass lokale Sozial- und Gesundheitsmitarbeitende und Gemeinden auf dem Weg Lösungen für eine bessere Kinderernährung entdecken können und sie mit den evidenzbasierten weltweiten Ernährungsempfehlungen zu ergänzen. Der Ansatz kann so die Umsetzung staatlicher Programme zur Verbesserung der Kinderernährung unterstützen. Im vergangenen Jahr hat das GIZ-Projekt mit der bundesstaatlichen Behörde DWCD, Partner-NGOs und ausgewählten Fachkräften eine maßgeschneiderte Version des PD-Ansatzes entwickelt, die in den Arbeitsalltag der Sozial- und Gesundheitsmitarbeitenden passt. Dieses Pilotprojekt wird derzeit umgesetzt und umfasst die Fortbildung und Betreuung von 400 Sozial- und Gesundheitsarbeitenden.

Bei der Transformation unserer Ernährungssysteme müssen Kinder im Mittelpunkt stehen, weil es gilt, sie frühzeitig auf den Pfad einer gesunden Ernährung zu bringen. Diese hängt ab von der Verfügbarkeit und Erschwinglichkeit gesunder Lebensmittel, dem Zugang zu einem Ernährungsumfeld für die Auswahl gesunder Lebensmittel und zu geeigneten Beratungsdiensten und Betreuungsmöglichkeiten. Die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ist für das Wohlergehen der Kinder von entscheidender Bedeutung, wobei negative Rückkopplungen wie fehlende Betreuungsstätten für Kinder oder Orte zum Stillen bei erhöhter Frauenbeschäftigung vermieden werden sollten. Innovative Ansätze wie Positive Deviance werden den überfälligen Systemwandel nachhaltig stärken. 

Alle in der Welternährung geäußerten Ansichten sind die der Autor*innen und spiegeln nicht zwangsläufig die Ansichten oder die Positionen der Welternährungsredaktion oder der Welthungerhilfe wider. 

Nadine Bader GIZ Indien und Universität Wageningen
Dr. Anika Reinbott Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit, GIZ, Indien
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