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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 10/2024
  • Prof. Dr. Robert Finger, Prof. Dr. Niklas Möhring
Schwerpunkt

Unabdingbar: Europa braucht eine ambitionierte Pflanzenschutzmittelpolitik

Nachhaltiger Pflanzenschutz in der Landwirtschaft wird sich in der breiten Masse nur durchsetzen, wenn innovative Lösungswege wirtschaftliche Einbußen verhindern – damit die Landwirte mitgehen.

Pflanzenschutz: Ein Traktor besprüht ein Getreidefeld. © USDA/Justin Pius/CC PDM 1.0

Pflanzenschutz ist für die Nahrungsmittelproduktion, die Ernährungssicherheit und die wirtschaftliche Tragfähigkeit der europäischen Landwirtschaft von entscheidender Bedeutung. Der derzeit sehr intensive Einsatz von Pflanzenschutzmitteln trägt jedoch erheblich zum Verlust der biologischen Vielfalt und zur Belastung der Ökosysteme bei und hat negative Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit. Dies betrifft nicht nur chemisch-synthetische Pflanzenschutzmittel, sondern auch einige Pflanzenschutzmittel, die im biologischen Landbau eingesetzt werden, wie z.B. Kupfer. Vor diesem Hintergrund wurden ehrgeizige politische Ziele formuliert, um die Risiken des Pflanzenschutzmitteleinsatzes zu reduzieren: z.B. global im Rahmen des Kunming-Montreal Global Biodiversity Framework, der Farm to Fork Strategie der EU, aber auch auf nationaler Ebene wie in Deutschland und der Schweiz.

Während die strategischen Ziele klar sind, stößt ihre Umsetzung in konkrete politische und landwirtschaftliche Maßnahmen auf große Hürden. So wurde die Verordnung zur nachhaltigen Verwendung von Pflanzenschutzmitteln in der EU im vergangenen Herbst vom Europaparlament gestoppt und im Februar 2024 von der Europäischen Kommission zurückgezogen. Und obwohl fast alle europäischen Länder ambitionierte nationale Aktionspläne für Pflanzenschutzmittel erstellt haben, werden die formulierten Ziele oft nicht erreicht.

Insbesondere Zielkonflikte zwischen der Reduktion der Risiken aus dem Pflanzenschutzmitteleinsatz und anderen agrarpolitischen Zielen stehen der Umsetzbarkeit im Weg: So zeigt es sich, dass eine Transformation zu einem nachhaltigeren Pflanzenschutz gesellschaftlich und politisch nur durchsetzbar ist, wenn zum einen landwirtschaftliche Betriebe keine starken wirtschaftlichen Einbußen erleiden und zum anderen die Nahrungsmittelproduktion stabil bleiben kann.

Entscheidend ist auch, dass die Risiken des Pflanzenschutzmitteleinsatzes dann nicht einfach in andere Teile der Welt exportiert werden. Wenn eine Verringerung des Fußabdrucks in Europa nur durch höhere Importe ausgeglichen werden kann, erhöht dies die Intensität der Produktion und der Landnutzung in anderen Teilen der Welt und kann global gesehen zu einer Verlagerung (und nicht zu einer Verringerung) der Auswirkungen auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit führen.

Wege zu einem nachhaltigeren Pflanzenschutz

Es müssen daher Wege gefunden werden, die Risiken für Mensch und Umwelt reduzieren, ohne die Produktivität und Wirtschaftlichkeit zu beeinträchtigen. Ansätze des integrierten Pflanzenschutzes (1) bilden hierfür eine zentrale Grundlage. Insbesondere drei Bereiche sollten umgesetzt werden. Erstens muss die Effizienz des Pflanzenschutzmitteleinsatzes gesteigert werden, zum Beispiel durch neue Technologien wie Präzisionslandwirtschaft. Zweitens die Substitution, d.h. Pflanzenschutzmittel mit hohen Risiken für Mensch und Umwelt müssen durch weniger riskante Strategien ersetzt werden, z.B. durch den Einsatz biologischer Bekämpfungsmittel und -strategien oder agronomischer und mechanischer Ansätze zur Unkrautbekämpfung statt Herbiziden.

Diese Schritte zu Effizienz und Substitution ermöglichen es, die Risiken des Pflanzenschutzmitteleinsatzes zu reduzieren, ohne die Produktion wesentlich einzuschränken. Sie beseitigen jedoch nicht die im folgenden diskutierten eigentlichen Ursachen der Probleme. Daher ist es notwendig, die Agrarsysteme der Zukunft so umzugestalten, dass der Schädlings- und Krankheitsdruck – und damit der Bedarf an Interventionen jeglicher Art – reduziert wird. Wir sprechen hier von einem "Redesign", bei dem etwa Agrarlandschaften, Produktionssysteme und Fruchtfolgen vielfältiger sowie biologische Ansätze und Prävention gestärkt werden, bei dem aber auch resistente Sorten vermehrt zum Einsatz kommen.

Bei allen Ansätzen, die mit weniger oder ganz ohne Pflanzenschutzmittel auskommen, müssen zugleich Differenzen zu Leistungen der konventionellen Produktion verringert werden. Dazu muss die Forschung in Zusammenarbeit mit Praktikern und der Industrie die Wirksamkeit der Ansätze zum Ersatz von Pflanzenschutzmitteln erhöhen und deren Kosten senken.

Gesellschaftlicher Nutzen und Kosten des nachhaltigeren Pflanzenschutzes

Die Verringerung der Risiken von Pflanzenschutzmitteln hat einen direkten gesellschaftlichen Nutzen, da die externen Kosten auf die Umwelt und die menschliche Gesundheit reduziert werden. Nachhaltiger Pflanzenschutz wirkt sich zudem langfristig positiv auf die landwirtschaftliche Produktivität aus – weil u.a. natürliche Pflanzenschutzmechanismen (etwa durch mehr Nützlinge in intakten Ökosystemen) und Bestäubungsleistungen gestärkt werden. Indirekt kann ein geringerer Einsatz von Pflanzenschutzmitteln sich auch negativ auf die Umwelt auswirken, wenn dadurch z.B. Bodenschutzmaßnahmen erschwert werden.

Zumindest kurzfristig kann der Übergang zu einem nachhaltigeren Pflanzenschutz zu geringeren und volatileren Erträgen führen, insbesondere wenn den LandwirtInnen keine wirksamen Alternativen zur Verfügung stehen. Die Auswirkungen sind sehr kulturpflanzen- und regionalspezifisch. So ist die Umstellung auf einen nachhaltigeren Pflanzenschutz oder der komplette Verzicht auf riskante Mittel bei Grünland und Getreide oft einfacher als bei Kulturen wie Raps und Kartoffeln, aber auch bei Obst, Gemüse und Wein. Alternative Ansätze sind zudem oft mit höheren Produktionskosten und einem höheren Arbeitszeitbedarf verbunden.

Ansätze für die Kompensation der Landwirtinnen und Landwirte

Betriebe können von der weitreichenden Umstellung auf einen nachhaltigeren Pflanzenschutz durchaus profitieren, wenn der reduzierte Einsatz oder Verzicht auf Pflanzenschutzmittel entweder staatlich gefördert oder vom Handel und Verbrauchern über Preisprämien getragen wird. So können Biobetriebe bereits heute von Subventionen und Preisprämien profitieren. Die Umstellung auf biologischen Landbau ist jedoch oft mit großen Hürden für die Betriebe verbunden, und die derzeitigen Zielsetzungen von 25 Prozent biologischem Landbau in der EU sind daher kurzfristig schwer zu erreichen. Zudem geht die Umstellung auf biologische Landwirtschaft oft mit großen Ertragseinbußen einher.

Um einer breiten Masse an LandwirtInnen mehr wirtschaftlich attraktive Alternativen für die Pflanzenschutzmittelreduktion zu geben, sollten daher auch Lösungen gestärkt und gefördert werden, die zwischen konventionellem und biologischem Landbau liegen – obgleich auch das mit großen Herausforderungen verbunden ist. Ansätze wie "etwas weniger als üblich" eignen sich oft weder für ein Label noch für einen finanziellen Ausgleich über Agrarumweltprogramme. Kompensationen für einen kompletten Verzicht sind einfacher umsetz- und kontrollierbar und leichter zu erkennen für Verbraucher.

Erfahrungen aus der Schweiz zeigen dennoch, dass auch ein teilweiser Verzicht auf Pflanzenschutzmittel mit Direktzahlungen unterstützt werden kann und sich Labels für integrierten Pflanzenschutz (z.B. IP Suisse) am Markt etablieren können. Inwiefern diese Modelle für Europa in Gänze genutzt werden könnten, ist offen.  

Darüber hinaus gewinnen in der europäischen Landwirtschaft neue Ansätze von pestizidfreier, aber nicht-biologischer Produktion an Bedeutung. Dies ist ein "dritter Weg" zwischen konventionellem und biologischem Landbau, bei dem die Landwirtinnen und Landwirtebei bestimmten Kulturen auf Pflanzenschutzmittel verzichten. Dies ist einfacher umsetzbar als komplett auf Bio umzustellen. Die pestizidfreie Produktion führt zwar zu geringeren Erträgen im Vergleich zur konventionellen, sie bleiben aber höher als im Bio-Anbau, weil z.B. Kunstdünger eingesetzt werden darf. Auch ist die Flexibilität größer, in welchen Kulturen und Jahren auf Pflanzenschutzmittel verzichtet werden kann.

In den vergangenen Jahren wurden solch pestizidfreie Produktionssysteme in Europa zunehmend durch öffentliche und private Initiativen eingeführt. So entschädigen staatliche Agrarumweltprogramme in der Schweiz und in Deutschland seit 2023 Erzeugerfür den Verzicht auf Pflanzenschutzmittel. In Frankreich (mit dem Label "cultivées sans pesticides"), der Schweiz (pestizidfreies Brotgetreide von IP Suisse) und in Deutschland (z.B. pestizidfreies Brotgetreide von KraichgauKorn) gewähren Handel und KonsumentInnen den Landwirten zusätzlich Preisaufschläge für eine solche pestizidfreie Produktion.

Die Verbreitung neuer Labels wie "pestizidfreie Produktion" ist jedoch auch nicht ohne weiteres zu bewerkstelligen. So ist die Kennzeichnung mit logistischen Herausforderungen verbunden, da alle Verarbeitungsschritte getrennt aufgeführt werden müssen. Unklar ist zudem, inwieweit Preisaufschläge und Flächenzahlungen langfristig aufrechtzuerhalten wären, wenn diese Initiativen großflächig umgesetzt würden.

Neue Politikinstrumente – wie etwa Abgaben

Neue Technologien und Ansätze, so vielversprechend sie auch sein mögen, bleiben wirkungslos, wenn sie von den LandwirtInnen nicht angenommen werden. Pflanzenschutzmittel sind heute oft billig und der kosteneffizienteste Weg, so dass sich Alternativen häufig nicht lohnen. Wobei die externen Kosten des Einsatzes, also mögliche Schäden für Mensch und Umwelt, nicht eingepreist sind. Hier können Lenkungsabgaben den entscheidenden politischen Anreiz geben, damit Produzenten schädliche Pflanzenschutzmittel durch weniger riskante Produkte ersetzen oder ganz darauf verzichten.

So hat Dänemark sehr gute Erfahrungen mit einer differenzierten Abgabe auf Pflanzenschutzmittel gemacht. Für jedes Produkt wird eine eigene Abgabenhöhe festgelegt: je höher das Risiko, desto höher die Abgabe. Die Einnahmen aus der Lenkungsabgabe fließen zu einem großen Teil, zum Beispiel über reduzierte Landsteuern, wieder in die Landwirtschaft zurück. Durch die Lenkungsabgabe konnte in Dänemark das Risiko beim Einsatz von Pflanzenschutzmitteln deutlich gesenkt werden. Die Einführung solcher Abgaben kann auch an die Stelle einer zunehmenden Regulierung von Zulassung und Anwendung treten.

In jedem Fall können sie ein sinnvoller Teil eines umfassenden Instrumentenmixes sein, um politische Ziele effizient zu erreichen. Letztlich wird es eine Kombination von Regulierung, Information, Beratung, Ausbildung, Lenkungsabgaben und Anreizen im Rahmen von Agrarumweltprogrammen sein, die zu einer Umstellung auf alternative Praktiken und neue Technologien motivieren kann. Darüber hinaus kann Politik Rahmenbedingungen schaffen, damit neue, z.B. digitale Technologien, Züchtungsansätze und Sorten aber auch Anbauverfahren entwickelt werden können und LandwirtInnen zur Verfügung stehen.

In der Provinz Bagmati in Nepal hat die FAO das Projekt der "Tele Plant Doctor"-App gestartet, das auch zur Schädlingsbekämpfung dienen soll. © FAO/Robic Upadhyaya

Den Blick weiten – und Ziele einer Wende definieren

Der Blick für Lösungen muss aber über den landwirtschaftlichen Betrieb hinausgehen. Nachhaltiger Pflanzenschutz ist nur möglich, wenn er auch von der Lebensmittelindustrie und den Verbrauchern mitgetragen wird. Das heißt: Was Landwirteproduzieren, wird auch akzeptiert und nachgefragt. Die Pflanzenschutzmittelpolitik muss zudem in einem agrar- und ernährungspolitischen Gesamtrahmen gesehen werden, der die wichtigsten Spannungsfelder und Lösungsansätze berücksichtigt. Werden zum Beispiel weniger Lebensmittel verschwendet, müssten auch weniger Nahrungsmittel produziert werden – und so auch weniger Pflanzenschutzmittel zum Einsatz kommen.

Um politisch eine Wende zum nachhaltigen Pflanzenschutz zu erzielen, muss auch zunächst definiert werden, welche Ziele tatsächlich anzustreben sind.  Derzeit wird häufig nur auf die Umsetzung bestimmter Maßnahmen geachtet, die tatsächliche Wirkung aber häufig vernachlässigt. Dabei müssen effektive Auswirkungen auf Umwelt, Biodiversität und Gesundheit stärker in den Fokus rücken. Die Politik sollte sich einer gesellschaftlichen Debatte stellen, Ziele formulieren und Instrumente schaffen, die eine tatsächliche Risikoreduktion erreichen. Das geht nicht ohne ergebnis- und wirkungsorientierte Indikatoren für die Verringerung des Risikos. Wenn sich daraus (zielgerichtete) Maßnahmen ergeben, könnten diese von den Landwirten als sinnvoll angesehen und besser akzeptiert werden.

Impulse über Europa hinaus

Der Übergang zu Produktionssystemen mit geringerem Pflanzenschutzmittelrisiko in Europa hat schließlich Auswirkungen auf die Agrar- und Ernährungssysteme weltweit. So kann die Einführung strengerer Pflanzenschutzmittelrichtlinien in Europa zu Verschiebungen der Handelsströme führen. Die in Europa entstehenden Ansätze für eine pflanzenschutzmittelarme Produktion könnten zudem zum Maßstab für Importe und künftige Handelsabkommen werden (z. B. als neue Nachhaltigkeitsstandards), was erhebliche Folgen für Handelspartner haben könnte.

Eine ambitionierte Pflanzenschutzmittelpolitik in Europa kann auch Innovationen auslösen, die auf andere Länder ausstrahlen. Neu entwickelte Produktionssysteme und Technologien können Potenziale für die europäische Wirtschaft schaffen. Solche Entwicklungen, Produkte und Technologien ebnen womöglich auch anderen Ländern den Weg zu einer Transformation zu nachhaltigerem Pflanzenschutz. In diesem Sinne kann Europa ein Vorbild für den Übergang zu einer Zukunft mit geringen Pflanzenschutzmittelrisiken werden und einen weltweiten Impuls für den dringend notwendigen Übergang zu nachhaltigeren landwirtschaftlichen Praktiken geben.

Alle in der Welternährung geäußerten Ansichten sind die der Autor*in/nen und spiegeln nicht zwangsläufig die Ansichten oder die Positionen der Welternährungsredaktion oder der Welthungerhilfe wider. 

Prof. Dr. Robert Finger ETH Zürich, Agrarökonomie und -politik
Prof. Dr. Niklas Möhring Universität Bonn

Fußnoten:

1) Der integrierte Pflanzenschutz basiert auf acht Grundsätzen und daraus resultierenden Empfehlungen, die ‘best practices’ für den jeweiligen Produktionskontext vorschlagen. Sie zielen darauf ab, den Einsatz von Pflanzenschutzmittel als letztes Mittel zu betrachten und auf ein Maß zu beschränken, das „wirtschaftlich und ökologisch gerechtfertigt ist“.

Kernreferenzen:

Finger, R., Möhring, N. (2024). The emergence of pesticide-free crop production systems in Europe. Nature Plants 10:  360–366. https://doi.org/10.1038/s41477-024-01650-x

Finger, R. (2024). Europe's ambitious pesticide policy and its impact on agriculture and food systems. Agricultural Economics 55(2): 265-269  https://doi.org/10.1111/agec.12817

Finger, R., Sok, J., Ahovi, E., Akter, S., Bremmer, J., Dachbrodt-Saaydeh, S., de Lauwere, C. Kreft, C., Kudsk, P., Lambarraa-Lehnhardt, F., McCallum, C., Oude Lansink, A., Wauters, E., Möhring, N. (2024). Towards sustainable crop protection in agriculture: A framework for research and policy. Agricultural Systems, 219, 104037 https://doi.org/10.1016/j.agsy.2024.104037

Möhring, N., Ingold, K., Kudsk, P., Martin-Laurent, F., Niggli, U., Siegrist, M., Studer, B., Walter, A., Finger, R. (2020).Pathways for advancing pesticide policies. Nature Food 1, 535–540. https://doi.org/10.1038/s43016-020-00141-4

Möhring, N., Kanter, D., Aziz, T., Castro, I.B., Maggi, F., Schulte-Uebbing, L., Seufert, V., Tang, F.H., Zhang, X. and Leadley, P., 2023. Successful implementation of global targets to reduce nutrient and pesticide pollution requires suitable indicators. Nature Ecology & Evolution, 7(10), pp.1556-1559. https://doi.org/10.1038/s41559-023-02120-x

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