Globale Ernährungskrise: Wie strukturelle Ursachen beseitigt werden können
Soforthilfe ist dringend. Aber zwingend müssen Ernährungssysteme sich ändern, damit der weltweite Hunger überwunden werden kann. Was sagen Fachgespräche der Welthungerhilfe?
Was sind praxisnahe Ansätze zur nachhaltigen Überwindung von Hunger und Mangelernährung? Vor dem Hintergrund einer sich rapide zuspitzenden globalen Ernährungskrise diskutierte die Deutsche Welthungerhilfe e.V. mit internationalen Expert*innen in einer dreiteiligen Fachgesprächsreihe1 und wandte sich mit Handlungsaufträgen an nationale und internationale politische Akteure.
Vier Trends bedingen den erneuten Anstieg der Zahl der Menschen, die weltweit unter chronischem Hunger leiden: die Auswirkungen der Corona-Pandemie, häufiger auftretende gewaltsame Konflikte, Ernteausfälle durch klimawandelbedingte Wetterextreme und die Vernachlässigung ländlicher Räume im Globalen Süden. Fünftens verschärfen Rekordpreise bei Grundnahrungsmitteln und Versorgungsengpässe infolge des Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine die Hunger- und Ernährungssituation weiter.
Dieses Wirkungsgefüge macht deutlich, dass – neben dringenden Sofortmaßnahmen – zwingend strukturelle Ursachen langfristig aufgelöst werden müssen. Nur dann können nachhaltige Fortschritte bei der Bekämpfung des Hungers erzielt werden.
1) Wie steht es um das Recht auf Nahrung?
Der kürzlich veröffentlichte UN-Bericht TheState of the Right to Food and Nutrition in the World 2022 (SOFI 2022)(FAO, IFAD, UNICEF, WFP & WHO 2022) zeigt auf, dass die mittlerweile 171 Vertragsstaaten hinter dem Anspruch zurückbleiben, das Grundrecht jedes Menschen zu erfüllen, frei von Hunger zu leben und sich angemessen, ausreichend und gesund zu ernähren. So steht es in der zentralen Kodifizierung des Menschenrechts auf Nahrung, Artikel 11 des Internationalen Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (ICESCR). Vertragsstaaten erfüllen ihre Verpflichtungen zum Recht auf Nahrung (RaN) nicht, und das gilt auch für die Umsetzung der UN-Landleitlinien.
Zum Auftakt der Fachgesprächsreihe skizzierte der Menschenrechtsexperte Dr. Steffen Kommer, Verwaltungsrichter in Bremen und Beirat von FIAN Deutschland e.V.,die völkerrechtlichen Grundlagen des RaN. Aus diesen leiten sich extraterritoriale Staatenpflichten (Maastricht Principles on Extraterritorial Obligations of States in the Area of Economic Social Cultural Rights) der Unterzeichnerstaaten ab, die über nationale Achtungs-, Schutz- und Gewährleistungspflichten hinaus gehen – und zwar gegenüber ernährungsunsicheren Staaten und besonders vulnerablen Gruppen. Die hieraus erwachsenden positiven Pflichten von Unterzeichnerstaaten sind z.B. Leistungen der finanziellen und technischen Entwicklungszusammenarbeit sowie der humanitären Hilfe.
Gleichzeitig besteht aber auch eine negative Pflicht: Es gilt sicherzustellen, dass politische und wirtschaftliche Maßnahmen – einschließlich internationaler Handelsabkommen sowie Agrarsubventionen und -Investitionen – keine negativen Auswirkungen auf das RaN in anderen Staaten haben und insbesondere die Ernährungssicherheit vulnerabler Gruppen nicht gefährden. Kommer empfiehlt, dass gerade die Exportförderung von Nahrungsmitteln zur Herstellung von Biokraftstoffen der ersten Generation dringend dahingehend überprüft werden sollte. Unter dem Gebot der Transnationalen Schutzdimension gelte zudem die Verpflichtung, die Auswirkungen von Investitions- und Politikentscheidungen auf die Verwirklichung des RaN in anderen Staaten konsequent zu evaluieren (Human Rights Impact Assessment).
Die Freiwilligen Leitlinien der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) haben das RaN im Völkerrecht weiter gestärkt. Besonders relevant sind die „Freiwilligen Richtlinien für die verantwortungsvolle Regulierung von Eigentums-, Besitz- und Nutzungsrechten an Land, Fischgründen und Wäldern im Rahmen nationaler Ernährungssicherheit (VGGT, UN-Landleitlinien, 2012)“. Sie identifizieren als erstes völkerrechtliches Instrument den unzureichenden Zugang zu Landressourcen als strukturelle Ursache von Hunger und geben konkrete Handlungsanweisungen, wie Landtransfers unter Beachtung des RaN auszugestalten sind.
Landzugang in Sierre Leone
Den Zusammenhang zwischen Ernährungsunsicherheit und großflächigen Landinvestitionen zeigte Berns Lebbie, National Coordinator, Land for Life Consortium, Sierra Leone, an dem Beispiel des westafrikanischen Staates auf, wo das RaN eines Großteils der Bevölkerung verletzt wird und über ein Viertel der Bevölkerung (FAO, IFAD, UNICEF, WFP & WHO, SOFI 2022) unter chronischem Hunger leiden. Gerade in einem Land wie Sierra Leone, in dem staatliche Akteure Kleinbauern und Kleinbäuerinnen nur unzureichend unterstützen, eine Abhängigkeit von Nahrungsmittelimporten vorherrscht und eine zu geringe Produktivität in der Landwirtschaft die Regel ist, stellt der Zugang zu Land – so betont Lebbie – die Schlüsselressource für die Nahrungsmittelproduktion kleinbäuerlicher Familien dar.
Die Ausweitung groß angelegter landwirtschaftlicher Investitionen betrifft dabei häufig ländliche Regionen, die tradiert von der lokalen Bevölkerung als Almende genutzt wurden. In den wenigsten Fällen wird die lokale Bevölkerung jedoch im Vorfeld der Investitionen angemessen konsultiert. Selbst wenn Investitionen mit einer verantwortungsvollen und integrativen Agenda eingeleitet werden, bleiben sie oft hinter den Erwartungen zurück, tragen zum Verlust von Vermögenswerten bei oder verschlechtern sogar die Lebenslage der lokalen Bevölkerung (Map | Land Matrix). Nachweislich hatte sich z.B. das großangelegte Palmöl-Investment des Agrarunternehmens SOCFIN in Sierra Leone negativ auf die Ernährungssicherung und Landrechte der lokalen Bevölkerung ausgewirkt (FIAN Belgium 2019).
Soll der Zugang der lokalen Bevölkerung zu Landressourcen gesichert und groß angelegte landwirtschaftliche Projekte mit dem RaN in Einklang gebracht werden, muss die lokale Bevölkerung informiert und transparent in Entscheidungsprozesse eingebunden werden, wie es die UN-Landleitlinien vorsehen. Die Land for Live Initiative, die neben Sierra Leone auch in Burkina Faso, Äthiopien und Liberia aktiv ist, tut das, indem sie gezielt staatliche, privatwirtschaftliche, wissenschaftliche sowie zivilgesellschaftliche Beteiligte in einer Multi-Akteurs-Partnerschaft (MAP) zusammenbringt.
Durch rechenschaftspflichtige Dialoge und die kontinuierliche Zusammenarbeit zwischen den Akteuren können nachhaltige und legitime Strategien entwickelt werden, welche die komplexen Herausforderungen von Landbesitz und verantwortungsvollen Agrarinvestitionen bewältigen. So können Landrechtspolitiken etabliert werden, die internationalen Standards und dem RaN entsprechen. Besonders die Expertise und Politikempfehlungen marginalisierter Gruppen – insbesondere von Frauen und Jugendlichen in ländlichen Gebieten – sollten verstärkt in den integrativen Dialog Einzug finden. So kann die Einhaltung der Rechte der am stärksten von Hunger und Mangelernährung betroffenen Gruppen gesichert werden.
2) Gute Ernährung: langfristige Strategien zur Überwindung von Mangel
Die Zahl der Menschen, die an Hunger und Mangelernährung leiden bleibt unannehmbar hoch. Rückschritte drohen das Erreichen des UN-Ziels "Kein Hunger bis 2030" und die darin enthaltenden globalen Ernährungsziele bis 2025 zu gefährden.
Trotz allgemein erhöhter Investitionen in die Verbesserung von Ernährung, werden gezielte Anstrengungen für eine gesunde und ausgewogene Ernährung gerade für vulnerable Gruppen auf kommunaler Ebene weiterhin vernachlässigt. Politische Entscheidungsträger*innen scheitern daran, die Komplexität von Mangelernährung in politische Maßnahmen zu übersetzen. Insbesondere integrierte sowie sektorübergreifende Ansätze stellen für politische Entscheidungsträger*innen weltweit nach wie vor eine Herausforderung dar. In der Fortsetzung der Fachgesprächsreihe wurden deshalb evidenzbasierte und sektorübergreifende Ansätze zur langfristigen Überwindung von Hunger und Mangelernährung diskutiert.
Die Ursachen von Mangelernährung sind vielschichtig und hängen voneinander ab. Gudrun Stallkamp, Regional Nutrition Advisor East & Southern Africa, Uganda, Deutsche Welthungerhilfe e.V., stellte dazu eingangs die Konzepte der Ernährungssicherheit (Food Security) (Verfügbarkeit, Zugang, Nutzung und Stabilität) und guter Ernährung (Nutrition Security) vor.2 Letzteres nimmt ernährungsspezifische Aspekte des Nahrungsmittelkonsums wie (Mikro)-Nährstoffaufnahme sowie ernährungssensible Aspekte wie (Mütter)-Gesundheit, soziale Komponenten, Wasser, Sanitär und Hygiene (WASH)-Bedingungen und (Geschlechter)-Gerechtigkeit in den Blick und zeigt die Komplexität der Ursachen auf. Es wird deutlich, dass eine gesunde und ausgewogene Ernährung nur durch langfristig ausgerichtete und sektorübergreifende Maßnahmen erreicht werden kann.
Wie langfristig erfolgreiche und multi-sektorale Ansätze zur nachhaltigen Überwindung von Hunger und Mangelernährung modellhaft ausgestaltet werden können, stellte Sweta Banerjee, Nutrition Specialist Indien, Deutsche Welthungerhilfe, vor: Mit dem Nutrition Smart CommUNITIY-Ansatz hat die Welthungerhilfe einen integrierten, lokalen und skalierbaren Ansatz entwickelt, der die Schlüsselsektoren Landwirtschaft, nachhaltiges Management von Ressourcen, Wasser, Sanitär und Hygiene (WASH), Einkommenssicherung sowie Ernährungsbildung vernetzt, um nachhaltig die Ursachen zu bekämpfen.
Im Rahmen dieses Ansatzes wurden fünf wirksame Verfahren identifiziert, die in Gemeinden zeitgleich umgesetzt werden: a) partizipative Lern- und Aktionszyklen auf Basis der LANN+ Initiative3 b) Ernährungstrainings c) auf gute Ernährung fokussierte Landwirtschaftssysteme d) Ernährungssensitive Mikroplanung , die Gemeindemitglieder darin bestärkt, proaktiv in dezentralen Planungsverfahren der dörflichen Gemeinschaft teilzunehmen und mitzuentscheiden, wie dörfliche Verwaltungsstrukturen effektive und gerechte Leistungen erbringen sollen, beispielsweise für Landwirtschaft und Einkommen. Außerdem sollen Zugänge zur Sicherung von Ansprüchen auf gesundheits- und ernährungsbezogene Leistungen der öffentlichen Hand gewährleistet werden. e) die Entwicklung starker dörflicher Institutionen, die die lokale Bevölkerung darin unterstützen, ihr RaN einzufordern.
3) Transformation zu gerechten und nachhaltigen Ernährungssysteme fördern
Obwohl weltweit mehr Lebensmittel denn je produziert werden, verfehlt das globale Ernährungssystem das Ziel, gesunde, nachhaltige, kulturell angepasste und erschwingliche Nahrung für alle Menschen dauerhaft bereit zu stellen. Über drei Milliarden Menschen können sich derzeit keine gesunde Ernährung leisten. Und während 10,5 Prozent der Weltbevölkerung unter chronischem Hunger leiden (FAO, IFAD, UNICEF, WFP & WHO, SOFI 2022), ist inzwischen jeder Dritte übergewichtig oder fettleibig (FAO 2021). Das abschließende Fachgespräch widmete sich daher der Frage, welchen Beitrag politische Maßnahmen und Programme im Rahmen der internationalen Entwicklungszusammenarbeit leisten müssen, damit eine Transformation hin zu gerechten und nachhaltigen Ernährungssystemen gelingen kann.
In Peru und Bolivien zeigen sich die paradoxen Auswirkungen der defekten Ernährungssysteme auf die lokale Bevölkerung deutlich, berichtete Susanna Daag, Country Director Peru & Bolivia, Deutsche Welthungerhilfe e.V.: In Peru leiden 8,3 Prozent der Bevölkerung an Hunger und zugleich nehmen Fettleibigkeit und Übergewicht sowohl in Bolivien als auch in Peru stark zu. Letzteres beruht vor allem darauf, dass die Bevölkerung sich nicht mehr von nährwertreichen und vielfältigen Produkten ernährt, oder solchen, die lokal produziert sind. Sie greift vielmehr auf günstige und industriell verarbeitete Lebensmittel aus dem Ausland zurück.
Basierend auf den Forderungen lokaler Produzent*innen aus dem Umkreis der Metropole La Paz, Bolivien, unterstützt die Welthungerhilfe und ihre Partner*innen – in Koordination mit Erzeuger*innenverbänden, lokalen und internationalen NRO und der Stadtverwaltung – einen neuen Marktplatz in der Hauptstadt La Paz zu schaffen. Dorthin können Kleinbauern und Kleinbäuerinnen durch faire Direktvermarktung ihre lokalen und nährstoffreichen Produkte an städtische Verbraucher*innen bringen. Das etabliert einen Wandel in der Beziehung zwischen Erzeuger*innen und Verbraucher*innen, die ohne Zwischenhändler*innen entlang der Wertschöpfungskette auskommt. Integrative Ansätze wie die der Multi-Akteurs-Partnerschaften haben sich hier als besonders effektiv erwiesen, da sie sich als beständig gegenüber politischen Machtwechseln zeigten.
Dass zur Transformation von Ernährungssystemen kohärente politische Maßnahmen notwendig sind, die über Sektoren hinweg ineinandergreifen, betonte Carmen Torres Ledezma, Sustainable Food Systems Expert, UN Environment Programme. Unter welchen Gegebenheiten SustainableFood Systems Multi-Stakeholder Mechanisms (SFS MSMs) dazu beitragen können, zeigte anhand der Ergebnisse einer qualitativ-vergleichenden (sub)-nationalen Fallstudie die Autorin Torres Ledezma auf: Die Analyse der Fallstudien hatte gezeigt, dass der Erfolg eines solchen Mechanismus‘ in erheblichem Maße von einer nachhaltigen Finanzierungsstruktur, der gleichberechtigten Vertretung aller Akteure, einer auf Dauer angelegten und vertrauensvollen Zusammenarbeit sowie von der Unterstützung politischer Akteure abhängig ist. Ebenfalls ist die Institutionalisierung von zentraler Bedeutung, denn alle zehn untersuchten Fälle berichteten über einen gewissen Grad der Formalisierung von ihrem Rechtsstatus.
Die Sicherung der finanziellen Stabilität wird neben einer geringen politischen Unterstützung jedoch als eine der größten Herausforderungen betrachtet. Die Analyse hat außerdem gezeigt, dass die Beteiligung von Akteuren in den meisten Fällen von ihrer Machtposition und ihrer Ressourcenstärke abhängt, was die Beteiligung von marginalisierten Gruppen mit begrenzten finanziellen Ressourcen verhindern kann. Um die Beteiligung und den Aufbau von Kapazitäten benachteiligter Gruppen zu unterstützen, sollten interne Governance-Mechanismen eingerichtet werden, die ihren gleichberechtigten und maßgebenden Beitrag zur Entscheidungsfindung gewährleisten.
Fazit: Sorge um entschlossenes Handeln
Im Jahr ihres 60-jährigen Bestehens sieht die Welthungerhilfe mit großer Sorge, dass die Zahl der hungernden Menschen weiter steigt. Die Fachgesprächsreihe konnte deutlich machen, dass neben dringenden Investitionen in die Nothilfe zur Bewältigung der akuten Hungerkrise ein entschlossenes politisches Handeln erforderlich ist, um den Wandel hin zu einem gerechten und nachhaltigen Ernährungssystem voranzutreiben und Hunger und Mangelernährung langfristig zu überwinden.
Fußnoten:
[1] Die Fachgesprächsreihe wurde von den Fachexpert*innen Nathalie Demel, Lisa Maria Klaus und Andrea Sonntag, Deutsche Welthungerhilfe e.V. umgesetzt und moderiert.
[2] Nutrition security is more than food security | Nature Food
[3] LANN+ (Linking Agriculture, Natural Resource Management towards Nutrition Security) ist ein multisektoraler Ansatz der Welthungerhilfe, der ausdrücklich auf die Integration von ernährungssensiblen Sektoren zur nachhaltigen Überwindung von Hunger und Mangelernährung ausgerichtet ist. LANN+ fokussiert die Ernährungssicherung- und diversifizierung von Familien und insbesondere von Kindern, Müttern und Stillenden, indem mit der Bevölkerung lokal angepasste Strategien entwickelt werden, die Verhalten und Wirtschaften der Familien auf eine gesunde und angemessene Ernährung ausrichten.