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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 10/2024
  • Dr. Peter Clausing, Susan Haffmans
Schwerpunkt

Hochgefährliche Pestizide durch agrarökologischen Anbau ersetzen

Besonders im globalen Süden verursacht der Einsatz von oft hochgiftigen Pflanzenschutzmitteln erhebliche Kosten für Umwelt und Gesundheit. Alternativen sollten dringend zum Einsatz kommen.

Ein Mann aus San Andres im im zentralen Hochland von Ecuador spritzt schlecht geschützt Pestizide auf seine Kartoffeln. © Thomas Lohnes/Welthungerhilfe

Das Sterben von Insekten, Vögeln und anderen Wildtieren, pestizidbedingte Gesundheitsschäden, die allgegenwärtige Verteilung von Pestiziden und vieles mehr rückten im Jahr 1962 mit dem Erscheinen von Rachel Carsons Buch Der stumme Frühling ins öffentliche Bewusstsein. Mittlerweile wissen wir erheblich mehr über die von Pestiziden verursachten Schäden. Zahlreiche Wirkstoffe wurden in der Europäischen Union (EU) verboten, etliche davon auch weltweit, nicht selten allerdings erst Jahrzehnte nachdem die hervorgerufenen Schäden bekannt wurden. Parallel dazu wurden, wenngleich ungenügend gefördert, pestizidfreie, agrarökologische Anbauverfahren entwickelt und angewendet.

Erst 40 Jahre nach Erscheinen des Stummen Frühlings trat am 17. Mai 2004 das „Stockholmer Übereinkommen über persistente organische Schadstoffe“ in Kraft, das erstmals Chemikalien global verbot. Aktuell listet dieses internationale Abkommen 32 Stoffe bzw. Stoffgruppen auf, für die – von zwei klar definierten Ausnahmen abgesehen – ein weltweites Produktionsverbot besteht, 19 davon sind Pestizidwirkstoffe (Wirkstoffe sind die biologisch aktiven Moleküle in den Handelsprodukten). In der EU haben inzwischen viele Wirkstoffe aus Umwelt- und Gesundheitsgründen ihre Genehmigung verloren. Die EU-Pestiziddatenbank enthält aktuell 1481 Wirkstoffe, von denen aber nur 425 genehmigt sind.

Während in der EU die insgesamt eingesetzte Menge von Pestiziden seit Jahren konstant ist, hat sie sich global von 1992 (Beginn der Aufzeichnungen) bis 2022 auf insgesamt mehr als 3,5 Millionen Tonnen verdoppelt (siehe Tabelle).

Pestizid-Verbrauch laut FAO-Datenbank* (Megatonnen)

Region

1992

2002

2012

2022

Steigerung

(1992 – 2022)

Europa

468

450

515

473

1,01-fach

Nordamerika

431

448

481

566

1,31-fach

S/SO-Asien**

308

355

568

648

2,10-fach

Afrika

60

81

154

209

3,48-fach

Südamerika

126

372

814

1.238

9,82-fach

Global

1.802

2.205

3.206

3.691

2,03-fach

* www.fao.org/faostat/en/ (abgerufen am 01.10.2024)

**Süd- und Südostasien

In Südamerika ist der Absatz von Pestiziden extrem gestiegen

Die Absatzmärkte für die Pestizidhersteller haben sich dabei deutlich verschoben. Während Anfang der 1990er Jahre rund die Hälfte der Pestizide in Europa und Nordamerika versprüht wurden, waren es 2022 nur noch 28 Prozent. Die Verschiebung geht vor allem auf die extreme Zunahme des Pestizidabsatzes in Südamerika zurück. Diese Marktverschiebung ist mit erheblichen Problemen verbunden, wenn man bedenkt, wie Pestizide in vielen Ländern des globalen Südens gelagert, ausgebracht und entsorgt werden – darunter viele hochgefährliche Pestizide.

Die 5 größten Pestizidkonzerne

Bayer CropScience (Leverkusen, D)

Syngenta AG (Basel, CH)

BASF (Ludwigshafen, D)

Corteva, Inc. (Delaware, USA)

FMC Corporation (Pennsylvania, USA)

Quelle, letzte Aktualisierung: September 23, 2024

So kann es schwerwiegende Folgen haben, wenn Pestizide, die in Europa und zum Teil auch in Nordamerika aus Gesundheits- oder Umweltgründen verboten wurden, in anderen Teilen der Welt vermehrt eingesetzt werden. Dort nämlich kennen viele Menschen die Gefährlichkeit der Wirkstoffe nicht, es gibt kaum Schutzmaßnahmen oder nur ein Mindestmaß an Umweltstandards.

Gravierende Gesundheitsfolgen für den globalen Süden

Dies ist oft mit gravierenden Folgen für die Bevölkerung des globalen Südens verbunden: Jährlich kommt es zu schätzungsweise etwa 385 Millionen unbeabsichtigten akuten Pestizidvergiftungen[1], etwa 95 Prozent davon ereignen sich in Ländern mit niedrigem oder mittlerem Einkommen. Hinzu kommen ein bis zwei Millionen Suizidversuche mit Pestiziden, die jedes Jahr zu etwa 168.000 Todesfällen führen.

Die hohe Zahl akuter Vergiftungen ist zugleich ein indirekter Ausdruck dafür, dass Teile der Landbevölkerung einer dauerhaft hohen Belastung von Pestiziden ausgesetzt sind. Denn bevor es zu akuten Vergiftungserscheinungen kommt, dürfte die Exposition der dort lebenden und arbeitenden Menschen durch die Pestizidbelastung von Wasser, Luft und Lebensmitteln bereits sehr hoch sein, ohne dass dies überwacht wird.

Die als „zulässig“ definierten maximalen Rückstandsmengen (MRLs) in Lebensmitteln, zum Beispiel im Codex Alimentarius, einer Sammlung internationaler Lebensmittelstandards der Vereinten Nationen, sollen das Risiko für chronische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen in Grenzen halten. Wenn diese überschritten werden und Menschen zudem noch im Beruf Pestiziden ausgesetzt sind, steigt das Krankheitsrisiko deutlich an. Inzwischen häufen sich die Belege, dass die MRLs in den Ländern des globalen Südens häufig überschritten werden.

Pestizide, einige davon wie Dichlorovos oder Monochrotophos hoch-toxisch, werden in Sambia in kleinen Mengen für umgerechnet unter 1 Euro verkauft. © Louis Schwarze

Es ist zudem seit Jahren bekannt, dass Menschen, die über eine längere Zeit niedrigen Dosen des Herbizids Paraquat und des Fungizids Maneb ausgesetzt sind, an Parkinson erkranken können. Beide Wirkstoffe sind in der EU seit langem verboten, werden im globalen Süden jedoch nach wie vor umfangreich eingesetzt. Bei vielen Menschen in Asien, Afrika und Südamerika wird diese unheilbare Krankheit aufgrund ungenügender medizinischer Betreuung erst gar nicht erfasst. Ähnliches gilt für andere Pestizide, die Krebs, Nierenschäden oder Entwicklungsstörungen verursachen.

Pestizide belasten Natur und Umwelt

Außer Menschen belasten Pestizide auch Natur und Umwelt, und das in einem kaum oder nicht mehr zu kompensierenden Maße. Dies gilt für Böden, Gewässer und die Luft weltweit. Selbst im arktischen Packeis sind Pestizide nachgewiesen worden. Trotzdem werden die Auswirkungen auf Nahrungsnetze, das sind zahlreiche miteinander verbundene Nahrungsketten, in der Zulassungsprüfung von Pestizidprodukten nicht berücksichtigt.

Wissenschaftlich bewiesen ist, daß der verbreitete Einsatz chemisch-synthetischer Pestizide ein wesentlicher Treiber für den Verlust an Biodiversität ist, was erhebliche Folgen für die Nahrungssysteme hat. Der Verlust an biologischer Vielfalt gefährdet Ökosysteme, die Bodenfruchtbarkeit und die Wasserqualität und damit langfristig auch unsere Ernährungssicherheit. Wie kaum eine andere Berufsgruppe sind Landwirt*innen auf Ökosystemfunktionen wie Bestäubung, Bodenbildung und Filterleistungen angewiesen.

Systemisch wirkende Neonikotinoide, die heute weltweit am häufigsten verwendeten Insektengifte, werden beispielsweise von den Wurzeln von Kulturpflanzen und Wildpflanzen aufgenommen und belasten alle Pflanzenteile, sowie Nektar und Pollen. Für Bienen sind diese Stoffe akut giftig, sie verlieren ihren Orientierungssinn, und ihre Kommunikation, Navigation sowie Fruchtbarkeit sind beeinträchtigt. Geschwächt wird auch ihr Immunsystem, wodurch sie anfälliger für Krankheiten werden.

Auch Gewässer sind betroffen: In mit Pestiziden belasteten Bächen nimmt der Anteil an empfindlichen Arten wie Libellen und Köcherfliegen deutlich ab. In manchen Regionen der Welt ist die Umweltbelastung einschließlich der Gewässerbelastung mit Pestiziden so groß, daß die Menschen sich nicht mehr ernähren können oder die kontaminierten Nahrungsmittel sie krankmachen. Im Jahr 2019 gab der UN-Menschenrechtsausschuss dem paraguayischen Staat die Schuld an schweren Pestizidvergiftungen durch den massiven Einsatz an Agrochemikalien in Sojaplantagen. Durch die Pestizide wurden Wasserressourcen und Grundwasserleiter stark kontaminiert und die Nutzung von Wasserläufen – beispielsweise zum Fischen – verhindert. Es kam zu Schäden an Obstbäumen und zum Verlust von Obst als Nahrung sowie zum Tod verschiedener Nutztiere und zu schweren Ernteeinbußen.

Ranking der eingesetzten Pestizidmenge in der Landwirtschaft, 2022, in Tonnen

Brasilien

800.652

USA

467.677

Indonesien

294.670

Argentinien

262.507

VR China*

224.717

Viet Nam

161.908

Kanada

97.692

Russische Föderation

97.018

Kolumbien

78.231

Frankreich

67.875

* in der FAO Datenbank als „China mainland“ angegeben

Quelle: FAO (https://www.fao.org/faostat/en/#data)

Den Einsatz chemisch-synthetischer Pestizide zu reduzieren oder ohne sie zu wirtschaften, bedeutet nicht, auf Pflanzenschutz ganz zu verzichten, sondern ihn präventiver, resilienter und zukunftsorientierter zu gestalten. Auf nicht-chemische, ökologische bzw. agrarökologische Verfahren umzustellen bedeutet, die Natur und Umwelt gesund und leistungsfähig zu halten und für die Betriebe weniger abhängig zu sein von externen Produktionsmitteln und von global agierenden Pestizidkonzernen.

Pestizid-freie Landwirtschaft ist möglich

Seit Jahrzehnten wiederholt die Pestizidindustrie, dass der Einsatz von Pestiziden notwendig sei, um die Weltbevölkerung zu ernähren. Diese Behauptung ist aus mehreren Gründen falsch. Dazu gehört erstens die Tatsache, dass Herbizide, die laut FAO-Statistik über die Hälfte der eingesetzten Pestizidmenge ausmachen[2], zu einem großen Teil als betriebswirtschaftliches Mittel zur Kostensenkung, d.h. zur Verringerung des Arbeitsaufwandes, eingesetzt werden und nicht zur Ertragssicherung. Diese „Kostensenkung“ ist ernsthaft in Frage zu stellen, wenn man die oben skizzierten, durch Pestizide entstehenden Gesundheitskosten gegenrechnet.

Zweitens weisen die UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung immer wieder darauf hin, dass das Problem des Hungers in der Welt nicht die ungenügende Produktion von Nahrungsmitteln ist, sondern der – bedingt durch Armut und Kriege – ungenügende Zugang zur Nahrung.

Drittens ist die Behauptung, daß der Verzicht auf Pestizide mit erheblichen Ertragseinbußen verbunden sei, eine Falschinformation. Beispielsweise sind bei über 40 Jahre dauernden Langzeitversuchen des Rodale-Instituts in Pennsylvania Ertragsunterschiede zwischen konventionellem und kontrolliert ökologischem Anbau komplett verschwunden.

Im Jahr 2050 wird mit knapp zehn Milliarden Menschen auf der Erde gerechnet. Es spricht einiges dafür, dass die Weltbevölkerung ohne Pestizide ausreichend und angemessen ernährt werden kann. Dazu zählen das unausgeschöpfte Ertragspotenzial agrarökologischer Anbaumethoden sowie deren größere Resilienz gegenüber Wetterextremen. Der integrierte Pflanzenschutz – das Konzept, chemisch-synthetische Pestizide tatsächlich erst dann einzusetzen, wenn alle vorbeugenden, anbautechnischen und ökologischen Maßnahmen ausgeschöpft wurden – kann den Übergang zu pestizidfreien Anbauverfahren ebnen. Hierzu wäre es allerdings notwendig, daß er stringenter umgesetzt wird. Zugleich könnte der übergangsweise Minderertrag bei der Umstellung auf pestizidfreie Anbauverfahren durch eine größere Flächenverfügbarkeit ausgeglichen werden, indem weniger Fleisch produziert wird und weniger Lebensmittel im Tank statt auf dem Teller landen.

Die heutzutage als Viehfutter verwendete Getreidemenge würde ausreichen, um den Kalorienbedarf der derzeitigen Weltbevölkerung komplett zu decken. Es ginge also um den Abbau des übersteigerten, ernährungsphysiologisch nicht notwendigen Konsums an tierischem Protein in bestimmten Weltregionen und nicht um einen völligen Verzicht. Außerdem benötigen wir Maßnahmen gegen die Lebensmittelverschwendung, denn heute wird bis zu einem Drittel der produzierten Lebensmittel vernichtet.

Fazit

Bäuer*innen und Landarbeiter*innen weltweit – die Garanten unserer Ernährung – stehen vor enormen Herausforderungen: Sie sind in besonderer Weise von Armut, Hunger und von Pestizidvergiftungen bedroht. Sie sehen sich einer mächtigen Industrie gegenüber, die Pestizid- und Saatgutmärkte dominiert und zunehmend vorgibt, was und wie weltweit angebaut wird. Dem widersetzen sich Bemühungen, die die Landwirtschaft klima- und biodiversitätsfreundlich und zugleich produktiver gestalten wollen. Doch solange die erheblichen Gesundheits- und Umweltkosten des Pestizideinsatzes externalisiert werden, also nicht von den Produzenten getragen werden, besteht eine Wettbewerbsverzerrung zulasten agrarökologischer Anbauverfahren. Dies wird begünstigt durch Handelsregelungen, die schädliche Doppelstandards im Pestizidhandel erlauben, und durch enorme Lobbyinvestitionen, die auf das Zulassungsgeschehen Einfluss nehmen.

Wir benötigen dringend eine wirkungsvolle Korrektur der rechtlichen und programmatischen Rahmenbedingungen – global, regional und national. Gute Ansätze, wie der schrittweise Ersatz von hochgefährlichen Pestiziden durch agrarökologische Maßnahmen, gibt es. Sie müssen nur mutig umgesetzt werden.

Alle in der Welternährung geäußerten Ansichten sind die der Autor*in/nen und spiegeln nicht zwangsläufig die Ansichten oder die Positionen der Welternährungsredaktion oder der Welthungerhilfe wider. 

Dr. Peter Clausing Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) Deutschland, Hamburg
Susan Haffmans Pestizid-Aktions-Netzwerk (PAN) Deutschland, Hamburg

[1] UNEP (2022). Synthesis Report on the Environmental and Health Impacts of Pesticides and Fertilizers and Ways to Minimize Them. Geneva. https://wedocs.unep.org/xmlui/bitstream/handle/20.500.11822/38409/pesticides.pdf

[2] Im Mittel der Jahre 2020-2022: Pestizide insges.: 3,568 Mega-t, Herbizide 1,876 Mega-t (= 52,6%)

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