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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 10/2021
  • Prof. Ioannis Lianos

Marktmacht und Ohnmacht – Wettbewerbsrecht hält mit Oligopolen nicht Schritt

Der Werkzeugkasten gegen "strukturelle Ungleichheiten" im Welternährungssystem muss dringend erneuert werden.

Ein Lager mit Saatgut, das von regionalen Kleinbauern gesammelt und aufbewahrt wird. © Agra Comms

Landwirte sind in ihren Geschäftsbeziehungen in der Regel eingezwängt zwischen einem hohen Konzentrationsgrad sowohl auf den vorgelagerten Input-Märkten – also bezüglich Düngemitteln und Anbausorten – als auch auf den nachgelagerten Märkten – der Herstellung, Vertrieb und dem Einzelhandel. Sie sind in beiden Richtungen überlegenen Verhandlungspartnern ausgesetzt.(1)

Konzentrierte oder monopolisierte Nahrungsmittelmärkte können strukturelle Bedingungen schaffen, die zu Ungleichheit und Ungerechtigkeit führen, abgesehen von den üblichen Auswirkungen wie höheren Preisen und geringerer Produktion. "Strukturelle Ungleichheit" bezeichnet die Anfälligkeit für Beherrschung gewisser Marktakteure in der Folge von Prozessen in der Sozialstruktur, die sich ihrer Kontrolle entziehen.(2)

Um solchen Sorgen über strukturelle Ungleichheit zu begegnen, braucht es eine pro-aktive Agenda, Wettbewerbsrecht gegen beherrschende Nahrungsmittelkonzerne durchzusetzen.(3)  Einige halten es sogar für notwendig, dass Wettbewerbsrecht speziell auf die  Wettbewerbsfreiheit von Landwirten abzielen sollte, insbesondere in Entwicklungsländern – da dies mindestens genauso wichtig sein könnte wie der Verbraucherschutz.(4) Strukturelle Ungleichheiten könnte aber auch in Systemen von reiferem Wettbewerbsrecht in den Industrieländern zu einem wichtigen Anliegen werden, vor allem, wenn es darum geht, gegen überlegene Verhandlungsmacht und wirtschaftliche Abhängigkeiten im Lebensmittelsektor vorzugehen.

Verbraucherschutz im Zentrum

Nach weit verbreitetem Verständnis kann Wettbewerbsrecht gegen eine überlegene (oder ungleiche) Verhandlungsmacht vorgehen, wenn diese zu negativen Auswirkungen auf das Wohl der Verbraucher in Bezug auf Preise, Auswahlfreiheit oder Innovation führt. Diese "wettbewerbsrechtlichen Belange" werden sorgfältig von "wettbewerbsfremden" Rechtsbelangen unterschieden (z.B. dem Schutz von kleinen und mittleren Unternehmen oder Landwirten, als schwächere Parteien im wirtschaftlichen Austausch).

Im weiteren Sinne und auf einer höheren Ebene kann die strukturelle Ungleichheit jedoch eine wichtigere Rolle spielen. Aus einer Sicht sollten die traditionellen Konzepte des Wettbewerbsrechts und der Wirtschaftswissenschaften daher angepasst werden, um Situationen von strukturellen Ungleichheiten Rechnung zu tragen. Da beispielsweise eine strukturelle Marktmacht nicht als notwendig angesehen wird, um die Macht eines Unternehmens gegenüber einem oder mehreren Handelspartnern zu etablieren, könnten Marktanteile von bloßen 20 Prozent ausreichend sein, um von einer überlegenen Stelllung zu sprechen.(5)

Eine andere Denkschule plädiert dafür, besondere Bestimmungen zur Bekämpfung struktureller Ungleichheiten in Sektoren von sozialer Bedeutung zu entwickeln, wie etwa im Lebensmittelsektor. Solche Bestimmungen stammen meist aus dem wissenschaftlichen "Mainstream" und sind in der Regel ein Nebenprodukt von organisiertem politischen Interesse kleiner und mittlerer Unternehmen oder Landwirte. Das führte zu hauptsächlich umverteilenden Vorschriften, die den Wettbewerb ­– und (vermutlich) die wirtschaftliche Effizienz – beschränken. In jüngster Zeit ist zumindest für EU-Mitgliedstaaten ein Trend zur Verabschiedung und Umsetzung solcher Bestimmungen zu beobachten.(6)

Nationale oder regionale Werkzeuge

Derzeit gibt es jedoch zumindest auf globaler Ebene keine zielführenden Rechtsinstrumente, um direkt gegen strukturelle Ungleichheiten vorzugehen. Einige Werkzeuge existieren allerdings auf nationaler oder regionaler Ebene.

Zu erstenkann Wettbewerbsrecht als Waffe gegen mögliche negative Auswirkungen der Konsolidierung (in einer Branche) dienen: entweder indem ein Prozess der wirtschaftlichen Konzentration durch Fusionskontrolle vorher kontrolliert wird, oder indem wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen im Nachhinein sanktioniert werden – wie der Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung oder die Bildung eines Kartells. Diesen Instrumenten sind jedoch erhebliche Grenzen gesetzt: erstens durch das Fehlen einer globalen wettbewerbsrechtlichen Ordnung und zweitens durch die enge Sichtweise, die Wettbewerbshüter einnehmen, wenn sie mutmaßliche Wettbewerbsverzerrungen aufgrund von Fusionen oder anderer Verhaltensweisen bewerten.

Die jüngsten Fusionen in der Branche für Agrochemie wurden bei einer großen Zahl von Wettbewerbsbehörden in der ganzen Welt angemeldet. Sie wurden alle genehmigt, in einigen Fällen mit Auflagen und zu unterschieldichen Zeiten. Jede dieser Behörden konzentrierte sich auf die Analyse des Zusammenschlusses unter dem Gesichtspunkt des Verbraucherwohls in ihrer jeweiligen Rechtsprechung. Jedoch berücksichtigen diese vereinzelten Prüfungen nicht die globalen Auswirkungen der Konsolidierung in einem Sektor, insbesondere auf die ungeschützten Landwirte im globalen Süden.

Ein Gruppe von Bauern in Kenia. Bevor sie auf den Feldern Pflanzenschutzmittel sprühen, sprechen sie ein Gebet. © Luis Tato / FAO

Globale Kooperation 

Daher ist es von großer Bedeutung, für solche Transaktionen von globaler Dimension irgendeine Art von internationalem System der Zusammenarbeit zwischen Wettbewerbshütern zu entwickeln. Normalerbeise besteht Kooperation darin, Beweismittel zu erörtern und Informationen zu analysieren. Wettbewerbsbehörden können von fusionierenden Unternehmen eine Verzichtserklärung verlangen, um den Informationsaustausch mit anderen Wettbewerbsbehörden zu ermöglichen. Ebenso wäre vorstellbar, die Fusionen zeitgleich zu untersuchen und dafür von Unternehmen die parallele Anmeldung zur Prüfung in verschiedenen Ländern einzufordern, anstatt die Fusionen nacheinander zu prüfen. So kann strategisches Verhalten vermieden werden.

Zweitens kann das Wettbewerbsrecht die Gründung landwirtschaftlicher Genossenschaften erleichtern und so durch eine Stärkung der Verhandlungsmacht der Landwirte ungleichen Machtverhältnissen entgegenwirken. So kann ein Gegengewicht zu anderen Teilen der Wertschöpfungskette von Lebensmitteln entstehen, und zwar sowohl in den nachgelagerten wie auch in den vorgelagerten Bereichen.(7)

Solche spezifischen Ausnahmen/Regelungen sind in ihrer Schlagkraft aber begrenzt, da der Schwerpunkt des Wettbewerbsrechts auf dem Verbraucherwohl liegt. Es ist auch eine Sache, sich unter Landwirten für eine bessere Verhandlungsposition gegenüber einem Dutzend Saatgut- und Agrochemieunternehmen abzusprechen – und eine andere, sich gegen drei integrierte Plattformen in allen Segmenten der Nahrungskette zu behaupten.

Braucht es einen stärker integrierten Rahmen?

Drittens gibt es jene, die im Kampf gegen strukturelle Ungleichheiten einen stärkeren integrierten Rahmen fordern und ein erweiterten Wettbewerbsrechts ablehnen. Sie verweisen darauf, wie hochkomplex die durch ungleiche Verhandlungsmacht aufgeworfenen Probleme sind. Aus ihrer Sicht müsste so ein Rahmen auch die Gesetze über unlautere Handelspraktiken, das Vertragsrecht und das Zivilrecht (Deliktsrecht, europäisches Kaufrecht) einbeziehen, die alle den Missbrauch beherrschender Stellungen einzudämmen suchen. Ebenso müssten auch "Soft Law" und freiwillige Brancheninitiativen eingeschlossen werden, die in mehreren EU-Mitgliedsstaaten gelten.

Häufig wird argumentiert, dass das Wettbewerbsrecht in der Frage überlegener Marktmacht weniger wirksam sei als diese anderen Rechtsbereiche. Diese Schlussfolgerung stützt sich jedoch nicht auf einen gründlichen institutionellen Vergleich, wie wirksam die verschiedenen Rechtsdisziplinen im Umgang mit besagten strukturellen Ungleichgewichten tatsächlich sein können. Die ungleichen Verhältnisse halten Landwirte oft davon ab, sich an Gerichte und/oder Wettbewerbsbehörden zu wenden. Die Analyse berücksichtigt auch nicht, wie das anerkannte Recht auf Nahrung als globale Grundregel die Durchsetzung des Wettbewerbsrechts beeinflussen könnte.(8)

Viertens sind in einigen Rechtsordnungen spezielle Instrumente entwickelt worden, um gegen unlautere Handelspraktiken in der Wertschöpfungskette für Lebensmittel vorzugehen. In der EU mündete dies beispielsweise in die europäische Lieferketteninitiative, welche Grundsätze der lauteren Vertragsgestaltung stärkt und versucht, eine Reihe von Grundsätzen "verantwortungsvoller Praktiken" in der Lebensmittelbeschaffung festzulegen.(9) Dies hat schließlich zur Annahme der EU-Richtlinie 2019/633 geführt.(10)

Die Richtlinie hält fest, dass "in der Lieferkette für landwirtschaftliche Erzeugnisse und Lebensmittel häufig ein erhebliches Ungleichgewicht der Verhandlungsmacht zwischen Anbietern und Abnehmern von landwirtschaftlichen Erzeugnissen und Lebensmitteln besteht". Sie schützt die Hersteller landwirtschaftlicher Erzeugnisse und Lebensmittel unabhängig davon, ob es sich um natürliche oder juristische Personen handelt. Diese Regelung wird mit dem unterschiedlichen Grad der Konzentration auf den verschiedenen Stufen der Wertschöpfungskette begründet.

All diese Instrumente funktionieren aber nur auf nationaler oder regionaler (EU) Ebene, da ein globaler Rahmen zur Bekämpfung der strukturellen Ungleichheiten in der Lebensmittelwertschöpfungskette noch immer fehlt. Internationale Organisationen wie die OECD und die UNCTAD sowie das International Competition Network (ICN) müssen deshalb dringend eine proaktivere Agenda zu dieser Problematik entwickeln.

Literaturverzeichnis:

[1] OECD, “Spotlight on Global Value Chains: Does it Mean Shutting Out Small Producers?” in Promoting Pro-Poor Growth: Agriculture (OECD, 2006), 58.

[2] I. Young, Responsibility for Justice (OUP, 2011); Philip Pettit, “Freedom in the Market”, 5 Pol. Phil. & Econ. 131–49 (2006); R. Claassen & L. Herzog, “Why Economic Agency Matters: An Account of Structural Domination in the Economic Realm”, (2019) Eur. J. Pol. Theory, 147488511983218.

[3] MK Hendrickson, PH Howard, DH Constance, “Power, food and agriculture: Implications for farmers, consumers and communities”, in Defense of Farmers: The Future of Agriculture in the Shadow of Corporate Power (J.W. Gibson & S.E. Alexander eds, University of Nebraska Press, 2019), 13.

[4] J. Drexl, “Consumer Welfare and Consumer Harm: Adjusting Competition Law and Policies to the Need of Developing Jurisdictions” in Economic Characteristics of Developing Jurisdictions: Their Implications for Competition Law (edited by M. Gal, M. Bakhoum, J. Drexl, E. Fox and D. Gerber, Edward Elgar, 2015), 265-295.

[5] See J. Kirkwood, “Buyer Power and Exclusionary Conduct: Should Brooke Group Set the Standards for Buyer Induced Price Discrimination and Predatory Bidding?”, (2005) 72 Antitrust Law Journal, 637-644.

[6] Presently, 17 Member States dispose of competition law provisions that address situations of non-structural economic power, such as provisions on abuse of economic dependence and relative market power.

[7] Article 42 TFEU gives unique powers to the EU legislator to decide to what extent the EU competition rules apply to the agricultural sector, taking into account the five objectives of the Common Agricultural Policy (CAP), that is, increasing productivity of agricultural production, ensuring a fair standard of living for agricultural communities, stabilising markets, assuring supplies and ensuring reasonable prices for the consumer. On this basis, several exclusions to the application of EU competition law have been adopted regarding this sector.

[8] See, I. Lianos & A. Darr, Hunger Games: Connecting The Right To Food and Competition Law, in I. Lianos, A. Ivanov & D. Davis (eds.), Global Food Value Chains and Competition Law (CUP, 2021), Chapter 18.

[9] See, https://www.supplychaininitiative.eu/

[10] Directive (EU) 2019/633 of the European Parliament and of the Council of 17 April 2019 on Unfair Trading Practices in B2B relationships in the agricultural and Food Supply Chain, [2019] OJ L 111/59.

Prof. Ioannis Lianos University College London (UCL), European Institute, Faculty of Law

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