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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 06/2022

„Ich verstehe den Krieg gegen die Ukraine auch als eine Warnung“

Landwirtschaftsminister Cem Özdemir über den Kampf gegen die globale Ernährungskrise, die Rolle von Futtergetreide und einen Zielkatalog des G7-Gipfels – unter anderem für nachhaltigere Landwirtschaftssysteme

Bundesminister Cem Özdemir beim Pressestatement mit seinem ukrainischen Amtskollegen Solskyj bei der G7-Agrarministerkonferenz in Stuttgart im Mai 2022. © BMEL / Photothek

Herr Bundesminister, wegen des Ukrainekriegs müssen Millionen Menschen in Afrika, dem Nahen Osten und vielen Ländern Asiens Grundnahrungsmittel sehr viel teurer bezahlen. Armut und Hunger werden steigen. Welche Rolle kann Ihr Ministerium in der Preiskrise spielen?

Cem Özdemir: Für mich sind das drei Komponenten: politisch, organisatorisch und konkret. Zu erstem: Ich habe eine gemeinsame Task Force mit Auswärtigem Amt, Entwicklungsministerium und meinem Haus initiiert, damit wir humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit mit der Expertise der Land- und Ernährungswirtschaft zusammenführen. Mein Ministerium koordiniert diese Zusammenarbeit. Wir bündeln Wissen und entwickeln Pläne für die weltweite Ernährungssicherung. Mein Ministerium kümmert sich hier insbesondere um die Einbindung und Zusammenarbeit mit der FAO, den Beitrag wissenschaftlicher Erkenntnisse zu Erträgen und Handelsströmen sowie Erfahrungen in der Agrarpolitik. Gerade wird dort ein Zielkatalog für das Treffen der G7-Staats- und Regierungschefs in Elmau erarbeitet.

Zum zweiten: Wir müssen die weltweiten Entwicklungen auf den Agrarmärkten besser im Blick haben. Deshalb habe ich auch erfolgreich darauf gedrungen, dass die G7-Staaten sich dazu verpflichten, die Preise von Produktions- und Lebensmitteln stärker zu überwachen: Wir werden das G20-Agrarmarktinformationssystem AMIS stärken, um etwa auch die Düngemittelmärkte zu beobachten – denn gestiegene Preise für Betriebsmittel tragen wesentlich dazu bei, dass sich Lebensmittel verteuern. Dafür stellen die G7-Staaten AMIS auf freiwilliger Basis weitere Finanzierungsmittel zur Verfügung. Deutschland wird seinen Beitrag verdoppeln.

Wichtig ist aber auch, dass wir konkret vor Ort helfen. Die Bundesregierung stellt 430 Millionen Euro für die globale Ernährungssicherung bereit, um die Not in den besonders gefährdeten Ländern abzufedern. Rund 150 Millionen Euro sind davon für unsere Sonderinitiative „Eine Welt ohne Hunger“ eingeplant, 238 Millionen sollen in den Aufbau nachhaltiger Landwirtschaftssysteme fließen. Und mindestens 42 Millionen ergänzen den deutschen Beitrag zum Welternährungsprogramm.

Internationale Organisationen warnen vor einer Ernährungskrise, IWF und Weltbank vor einer humanitären Katastrophe vor allem in Afrika. Wo erwarten Sie die größten Krisenherde und wie viele Menschen werden auch mittelfristig betroffen sein?

Was die Entwicklung der Zahl der Hungernden betrifft, schwanken die Einschätzungen stark. Feststeht für mich, jeder hungernde Mensch ist einer zu viel. Klar ist auch: Der Hunger ist jetzt schon dort am größten, wo die Klimakrise und das Artensterben mit voller Wucht zuschlagen. Ob in Äthiopien, Kenia oder Somalia: die herrschende Dürre erreicht historische Ausmaße.

Und die Folgen des verbrecherischen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine verschärfen diese Entwicklung. Wir müssen davon ausgehen, dass Putin sehr bewusst auch einen Kornkrieg führt, um Druck auf die internationale Staatengemeinschaft zu machen und gleichzeitig seinen Einfluss auf Länder des globalen Südens auszubauen. Ich spreche für alle Kolleginnen und Kollegen im Bundeskabinett, wenn ich sage, dass wir die globale Ernährungskrise sehr ernst nehmen und gemeinsam an Lösungen arbeiten. In Ostafrika etwa droht die schlimmste Hungersnot seit 40 Jahren. Auch im Nahen Osten und in Nordafrika verschärft sich die Situation und trägt zur Destabilisierung bei.

Ein Brotverkäufer im Jemen. Viele Länder in Nordafrika und im Mittleren Osten hängen für Brotweizen von der ukrainischen Ernte ab. © Foad Al Harazi / World Bank

Deutschland hat in der G7-Präsidentschaft das Problem erkannt. Welche konkreten Impulse sind – vorbehaltlich der Gipfelbeschlüsse Ende Juni – von den G7 zu erwarten, um die steigenden Hungerzahlen einzudämmen?

Als G7-Agrarministerinnen und -minister haben wir uns dafür stark gemacht, die Märkte offen zu halten. Das ist zentrale Voraussetzung für den Zugang zu Getreide und dass die Preise nicht künstlich steigen. Und wir wollen eine internationale Führungsrolle einnehmen, um Wege zu nachhaltigen Ernährungssystemen aufzuzeigen. Das Recht auf Nahrung setzen wir nur um, wenn wir Landwirte weltweit in die Lage versetzen, die Produktivität nachhaltig zu steigern und widerstandsfähige Ökosysteme stärken.

Davon abgesehen: Deutschland leistet einen wichtigen Beitrag zur weltweiten Ernährungssicherheit. Schon vor dem Kriegsausbruch waren wir einer der größten Unterstützer des World Food Programs (WFP). Angesichts der dramatischen, globalen Kriegsfolgen haben wir die humanitäre Hilfe von 64 Millionen auf insgesamt 370 Millionen Euro aufgestockt.

Deutschland engagiert sich seit Jahrzehnten in der Entwicklungshilfe. Wichtig ist dabei aber nicht nur das Geld, sondern auch die Unterstützung vor Ort. Konkret hat mein Ministerium diverse bilaterale Kooperationsprogramme aufgelegt. Wir engagieren uns beispielsweise in Äthiopien, um Saatgut zu verbessern und einen Betrag zur Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität zu leisten. In Sambia haben wir den Aufbau eines Agrartrainings- und Wissenszentrums unterstützt. Wissensvermittlung ist einer der entscheidenden Schlüssel, um Versorgungssicherheit zu erreichen. Mancherorts gehen bei Transport und Lagerung ein Drittel der Ernte und mehr verloren.

Sollte die Weltgemeinschaft besonders importabhängige und finanziell notleidende Staaten durch Notkredite unterstützen – um Extrakosten etwa für Getreide zu decken, oder soziale Absicherung zu geben?

Die Europäische Union unterstützt gemeinsam mit ihren Partnern gerade überall dort, wo die Not groß und die soziale Absicherung in Gefahr ist. Ich bin froh, dass die Hilfsbereitschaft der Staaten, aber auch der Bevölkerung so groß ist.

Durch den Ausfall von russischen und ukrainischen Getreideexporten aus der Schwarzmeerregion fehlen dem Weltmarkt zig Millionen Tonnen. Werden Australien, Indien, Nordamerika und auch Europa das Angebot ausgleichen können?

Ich verstehe den Krieg gegen die Ukraine auch als eine Warnung, dass wir nicht so weiter wirtschaften dürfen wie bisher. Europa sollte da mit gutem Beispiel vorangehen. Die EU produziert jährlich 160 Millionen Tonnen Getreide für die Fütterung von Tieren in der Landwirtschaft. Würden nur zehn Prozent weniger Tiere gehalten und gefüttert, wäre das ausreichend, um einen erheblichen Teil der zu erwartenden Exportausfälle ausgleichen zu können. Auch die Agrokraftstoffe sind ein Auslaufmodell. Es lässt sich nicht wirklich erklären, dass wir kostbares Getreide im Tank verheizen und den fossilen Motor künstlich am Leben erhalten. Bei Diskussion Teller, Trog oder Tank gilt für mich immer: Teller first!

Indien hat erklärt, es werde die Getreideausfuhren einschränken. Das widerspricht dem Ziel der G7-Agrarminister, dass übermäßige Vorratshaltung bei Lebensmitteln zu vermeiden sei. Was ist dagegen zu tun?

Die G7-Agrarminister haben die sehr plötzliche Ankündigung des indischen Exportstopps Mitte Mai kritisiert. Indien hat daraufhin Gesprächsbereitschaft signalisiert, was mich sehr gefreut hat. Wir befinden uns in einem engen, konstruktiven Austausch. Wichtig ist, dass wir angesichts der vielen großen Herausforderungen nach gemeinsamen Lösungen suchen.

Indien war im vergangenen Erntejahr zweitgrößter Weizenproduzent nach China und vor Russland, hat aber Exportbeschränkungen verhängt. © Scott Wallace / World Bank

Welche Wege gibt es, um die in der Ukraine blockierten 25 Millionen Tonnen Getreide zu nutzen? Ihr Ministerium arbeitet an einer „Getreidebrücke“ für Lieferungen über den Landweg. Was wird daraus?

Ich bin sehr froh, dass die EU-Kommission nun einen Aktionsplan aufsetzt, um das Getreide der Ukraine außer Landes zu bringen. Brüssel wird nun verstärkt auf Güterzüge und Lastwagen setzen. Dafür habe ich mich sehr intensiv eingesetzt und auch wir G7-Staaten haben das diskutiert. Unser Engagement ist hier also schon ein Erfolg. Wir müssen das Personal an der Grenze verstärken und Prozesse optimieren, um LKWs und Züge rund um die Uhr abfertigen zu können. Bislang warten diese teilweise viele Tage.

Eine der Herausforderungen sind auch die unterschiedlichen Spurweiten der Schienen in der Ukraine und in der EU. Die ukrainischen Güter müssen also umgeladen werden – dafür braucht es mehr Infrastruktur. Weil schon bald die nächste Ernte ansteht, sollten wir parallel zusätzliche, provisorische Lagermöglichkeiten in der Ukraine aufbauen, damit sich die Logistik-Situation entspannt. Der Weg über die Straße ist recht teuer und hat nur begrenzt Kapazitäten. Aber hier helfen auch kleine Maßnahmen wie Ausnahmeregelungen für ukrainische Lastwagen, die europäische Abgasnormen nicht erfüllen und nicht einreisen dürfen.

Zudem müssen wir die Binnenschifffahrt verstärkt in den Blick nehmen – konkret den Weg über die Donau! Hier ist mein Ministerium mit den entscheidenden Stellen im Gespräch.  

Im Moment finden ja auch Gespräche über eine mögliche Öffnung von sicheren Seeweg-Korridoren, auch unter Vermittlung der Vereinten Nationen, statt. Das wichtigste bleibt aber, dass die Ukraine ihre Häfen zurückerobern kann und Russland die Seeweg-Blockade aufgibt! Das hilft gegen den Hunger in den ärmsten Ländern dieser Welt und schafft in den ukrainischen Getreidespeichern den dringend benötigten Platz für die neue Ernte.

Entwicklungsministerin Svenja Schulze sieht weniger ein Mengen- als ein Verteilungsproblem auf dem Weltmarkt – also letztlich ein Preisproblem. Kennen Sie Schätzungen, welche Mehrkosten Länder in Afrika und Asien für ihre Lebensmittelimporte aufbringen müssen? Für Energieeinfuhren nach Afrika etwa erwartet der IWF 19 Mrd. Dollar Mehrkosten…

Meine Kollegin hat gesagt, dass sie zunächst ein Verteilungsproblem sieht. Ich stimme ihr zu, dass es kurzfristig darum geht, dass die vorhandenen Nahrungsmittelreserven bei den Hungernden ankommen. Die Abhängigkeit der Länder Nordafrikas und der Subsahara von den Importen aus Russland und der Ukraine ist aber so gravierend, dass wir mittelfristig auch ein Mengenproblem haben werden, wenn die Ukraine weniger säen und ernten kann und Russland seinen Weizen nur an seine Unterstützer verkauft. Svenja Schulze und ich sind da einer Meinung. Die Mehrkosten müssen identifiziert und gemeinschaftlich getragen werden.

Bereits im Mai haben Sie mit ihren G7-Amtskolleg*innen eine Transformation der Ernährungssysteme angemahnt. Wie werden Sie sicherstellen, dass statt Strohfeuer zu zünden langfristig strukturelle Grundpfeiler dieser Krise angefasst werden – z.B. ungleiche Handelsbeziehungen? Und wie lässt sich dies kohärent über Ressort- und Staatsgrenzen hinweg erreichen?

Bei der Transformation von Ernährungssystemen kann es grundsätzlich nicht um Strohfeuer gehen; dies ist eine langfristige Aufgabe. Zunächst muss es darum gehen unter den G7-Mitgliedern ein gemeinsames Verständnis von Nachhaltigkeit zu befördern. Beim Treffen der Agrarminister im Mai haben wir uns dazu zum Thema „nachhaltige Lieferketten“ ausgetauscht.

Unsere Partner haben sehr begrüßt, dass wir als Präsidentschaft eine Studie bei der OECD in Auftrag geben, die bestehende Regelungen zu Sorgfaltspflichten der G7-Länder analysiert. Ziel ist es, eine bessere Kohärenz der G7-Regelungen zur Förderung nachhaltiger Agrarlieferketten zu erreichen, um damit langfristig globale nachhaltige Agrarlieferketten zu stärken.

Die G7-Agrarminister appellieren bei ihrem Treffen in Stuttgart, hohe Agrarpreise nicht durch Exportbeschränkungen zusätzlich zu erhöhen. © BMEL/Photothek

Sie sagten vor kurzem, es sei an der Zeit, dass der globale Süden aufwache und seine agrarische Eigenversorgung steigere. Hat der globale Norden dieses Koma nicht mitverursacht? Und was muss passieren, damit die Regierungen im Süden aufwachen?

Wie gesagt muss es darum gehen, dass die Landwirtschaft und die Versorgungsketten in den Ländern des globalen Südens nachhaltiger und leistungsfähiger werden. Oftmals gehen bei Transport und Lagerung unnötig große Mengen an Lebensmitteln verloren. Das ist oft eine Frage des Knowhows und der Infrastruktur vor Ort. Da unterstützt mein Ministerium heute schon und die Bundesregierung insgesamt hat es sich zum Ziel gemacht, die Bemühungen noch weiter zu verstärken.

Der Krieg gegen die Ukraine und seine Auswirkungen auf die Weltgemeinschaft führen uns aber auch vor Augen, dass unser Agrar- und Ernährungssystem auf den Prüfstand muss. Fast jeder spürt das nun auch bei uns am eigenen Leib – in unterschiedlicher Härte. Ich setze darauf, dass diese konkreten Erfahrungen den Willen zur Veränderung stärken. Die Lösungen für die Hungerkrise des globalen Südens und die weltweite Klimakrise liegen auch in der Veränderungsbereitschaft des globalen Nordens. 

Sie befürworten, dass weniger Agrarflächen für den Trog, also für Futtermittel, und für den Tank, also für Biosprit, genutzt werden. Welche Anreize lassen sich dafür global im Sinne von mehr Ernährungssicherheit setzen?

Wir wollen zukünftig deutlich weniger Nahrungs- und Futtermittelpflanzen in die energetische Verwendung im Verkehr lenken. Dies erhöht die Rohstoffverfügbarkeit und verringert den Druck auf Preise insbesondere für Nahrungsmittel und Agrarflächen. Über die genaue Ausgestaltung diskutieren wir derzeit. Sicherlich ist der deutsche Beitrag hier angesichts der riesigen Anbauflächen in anderen Ländern ziemlich klein. Wichtig ist aber, dass wir anfangen. Wie soll ich sonst etwa mit meinem US-amerikanischen Kollegen dazu ins Gespräch kommen, wenn wir nicht selbst mit gutem Beispiel vorangehen.


Das Interview wurde schriftlich gewährt. Die Fragen stellte Marina Zapf.

Marina Zapf, Journalistin, berichtet seit 20 Jahren aus Berlin über Themen der Außen, Außenwirtschafts- und Entwicklungspolitik.
Marina Zapf Team Welternährung.de
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