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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 02/2021
  • Erwin Northoff
Schwerpunkt

Nur systemische Lösungen helfen gegen Nahrungsverluste

Erst eine genaue Analyse der Wertschöpfungsketten gibt Aufschluss darüber, ob weniger Nahrungsverluste zu mehr Ernährungssicherheit beitragen.

Hülsenfrüchte und Getreidekörner auf einem Markt in Uganda. Zu Nachernteverlusten kommt es vor allem bei den Bauern. © FAO / Sumy Sadurni

Das Problem der Lebensmittelverluste und der Verschwendung von Nahrung rückt bei der Diskussion über den Umbau der Ernährungssysteme zunehmend in den Fokus. Es wird auch beim UN-Gipfeltreffen zur Transformation der Ernährungssysteme im Herbst eine große Rolle spielen.

Lebensmittel, die auf dem Weg vom Bauernhof bis zum Handel verloren gehen oder vernichtet werden, gelten als Lebensmittelverluste (losses). Als Lebensmittelverschwendung(waste) gilt dagegen alles, was am Ende der Lieferkette bei der Verteilung, dem Verkauf und beim Konsum vergeudet wird.

Global gehen rund 30 Prozent der Nahrungsmittel auf dem Weg vom Acker bis zum Teller verloren oder werden verschwendet. Um unsere Ernährungssysteme effizienter, gerechter, umweltverträglicher und widerstandsfähiger zu machen, müssen diese Verluste dringend verringert werden. Auch mit dem Ziel, die wachsende Weltbevölkerung zu ernähren, die bis 2050 um bis zu 60 Prozent mehr Nahrung benötigen wird.

Verschwendung halbieren

Die Vereinten Nationen haben sich das Ziel gesetzt, bis zum Jahr 2050 die Verschwendung von Nahrung um die Hälfte zu verringern, und Nahrungsverluste insgesamt zu reduzieren. Die afrikanischen Länder haben sich in der Malabo-Erklärung sogar dazu verpflichtet, die Nach-Ernteverluste bis 2025 zu halbieren. Wie realistisch diese Ziele sind, ist ungewiss. Läuft alles weiter wie bisher und kommt es nicht zu einer Kehrtwende, dann könnten Verluste und Verschwendung von heute rund 1,3 Milliarden Tonnen Lebensmitteln jährlich auf 2,1 Milliarden Tonnen im Jahr 2030 steigen.

Lebensmittelabfälle sind in den Industriestaaten besonders hoch. © Jonathan Bloom / FAO

Besonders in den Industriestaaten werden Lebensmittel in großem Ausmaß weggeworfen. Immerhin wird die Verschwendung von Lebensmitteln inzwischen in vielen Ländern breit diskutiert und hat zu zahlreichen vielversprechenden Initiativen von Regierungen, Unternehmen und Privatpersonen geführt hat. Lebensmittelverschwendung, das leuchtet mittlerweile vielen ein, ist wegen der damit verbundenen Ressourcenverschwendung von Land, Wasser, Biodiversität usw. nicht mehr zu akzeptieren und lässt sich durchaus vermeiden.

Anders verhält es sich mit den Nahrungsverlusten, die vor allem in Entwicklungsländern ein großes Problem sind. Die empirische Analyse von Nahrungsverlusten in den Wertschöpfungsketten armer Länder und die Reform von Lieferketten ist aufwändig und komplex. Zwar gibt es viele mehr oder weniger erfolgreiche Einzelinitiativen, die darauf abzielen, mit angepassten und neuen Technologien Nahrungsverluste zwischen Bauern und Händlern zu verringern. Doch es fehlt bisher an länderweiten Erfolgsmodellen und am großen Durchbruch. 

Nahrungsverluste: die Datenlage

Die Welternährungsorganisation (FAO) hat errechnet, dass weltweit rund 14 Prozent aller Nahrungsmittel nach der Ernte verloren gehen – beim Transport, rund um Verarbeitung, Verteilung und Verpackung. (Genauere Schätzungen für Lebensmittelverschwendungen will das UN-Umweltprogramm in der nächsten Zeit veröffentlichen.)

Einschränkend gilt jedoch, dass die Zahl von 14 Prozent nur als Richtwert zu verstehen ist, da sie die Verluste vor der Ernte unberücksichtigt lässt. Diese können beachtlich sein, sind statistisch aber schwer zu erfassen. Bei Trockenheit, Schädlingsbefall oder Pflanzenkrankheiten, ebenso wie bei hohen Lohnarbeitskosten und niedrigen Preisen sind Bauern in armen Ländern oft gezwungen, Getreide, Früchte und Gemüse noch vor der Ernte aufzugeben, was zu hohen Verlusten führt, in den Statistiken aber nicht auftaucht. 

Ein Maislager in Uganda, wo das Problem der Nachernteverluste sehr ernst ist. © Sumy Sadurni / FAO

Nach der Ernte schwanken die Verluste über alle Wertschöpfungsketten hinweg zwischen 6 und 25 Prozent der Gesamtproduktion und des Gesamtwertes. Die Verluste sind bei den Bauern mit etwa 60 Prozent am höchsten, bei den Zwischenhändlern und Verarbeitern liegen sie dagegen zwischen 7 und 19 Prozent.

Regional verteilen sich die Nachernteverluste wie folgt: an der Spitze liegen Zentral- und Südasien mit rund 20 Prozent, gefolgt von Nordamerika und Europa mit rund 16 Prozent, Afrika südlich der Sahara mit etwa 13 Prozent, Lateinamerika und der Karibik mit mehr als zehn Prozent. Am geringsten sind sie in Australien und Neuseeland mit rund fünf Prozent. 

Unterscheidet man nach Nahrungsmittelgruppen, dann sind die Verluste bei Wurzeln, Knollen und Ölsaaten mit rund 25 Prozent am höchsten, gefolgt von leicht verderblichen Früchten und Gemüse (21 Prozent), Fleisch und Tierprodukten nach der Schlachtung (etwa 12 Prozent), sowie Getreide und Hülsenfrüchten (etwa 8 Prozent).

Enorme Wertvernichtung

Die Weltbank schätzt den Wert der Nahrungsmittelverluste weltweit auf jährlich rund 400 Mrd. Dollar. Eine enorme Ressourcenverschwendung angesichts der weiterhin hohen Zahl an Hungernden und Unterernährten mit rund 690 Millionen Menschen weltweit. Dass Nahrungsverluste besonders in armen Ländern mit hoher Unterernährung weit verbreitet sind, unterstreicht, wie dringlich es ist, dieses Problem zu lösen.

Tomaten für die Weiterverarbeitung zu Mus in Nigeria. © pyxera Global

Wie dramatisch Verluste und Verschwendung sein können, zeigt das Beispiel Nigerias. Einerseits sind heute 12 Prozent der Nigerianer unterernährt, andererseits verliert und verschwendet das Land im Jahr etwa 40 Prozent seiner Nahrung. Ein Wert, der mit rund fünf Prozent auch zu den Treibhausgasemissionen Nigerias beiträgt, durch Klimaemissionen bei der Erzeugung von Nahrung und wenn Lebensmittel auf den Feldern und auf Müllhalden verrotten.

Die Nahrungsverluste betragen beim Tomatenanbau rund 75 Prozent, bei Mais sind es 25 Prozent, und beim Katzenfisch 34 Prozent. Gelänge es Nigeria, Verluste und Verschwendung bei diesen drei Produkten zu verringern, könnte dies insgesamt die Ernährungssicherheit verbessern, so eine Studie der Weltbank, höhere Einkommen schaffen, Treibhausgase reduzieren, Nahrungsmittelausfuhren erhöhen und Importe verringern.

Ähnlich ist die Lage in Guatemala, das jedes Jahr 38 Prozent seiner gesamten Nahrungsmittelproduktion verliert: beim Mais 34 Prozent, bei Bohnen 26 Prozent und bei Tomaten 54 Prozent. Das entspricht etwa vier Prozent des Bruttosozialprodukts und trägt mit neun Prozent zum Ausstoß von Treibhausgasen bei. Zugleich sind 45 Prozent der Guatemalteken unterernährt. Bei geringeren Lebensmittelverlusten und weniger Verschwendung hätten die Bauern mehr Nahrung zur Selbstversorgung und für den Verkauf zur Verfügung.  

Ursachen liegen im Mangel

Die Gründe für Nachernteverluste sind vielfältig: Mangel an Erntemaschinen, Trocknungsanlagen, Lagermöglichkeiten, Verpackungsmaterial, Straßen, Zügen und Häfen, stabilem Internet, sowie Logistik und Verarbeitungskapazitäten.

Hinzukommen wirtschaftliche Faktoren. In vielen Ländern gibt es keine oder nur unzureichende Wettervorhersagen und Frühwarnsysteme für Trockenheit oder Überschwemmungen und kaum aktuelle Markt- und Preisinformationen. Planung und Erzeugung bergen für die Bauern Risiken. Viele bauen daher mehr Nahrung an, um niedrigere Ernten und mögliche Preisschwankungen ausgleichen zu können. Sie kalkulieren Nahrungsverluste bewusst ein, um sich abzusichern.

Auch Subventionen können indirekt zu Verlusten beitragen. Werden z.B. Wasser und Energie subventioniert, hilft das zwar, Produktionskosten zu mindern. Damit sinken für die Bauern aber auch die Anreize, effizienter zu produzieren und Verluste von Nahrung zu vermeiden. Werden Lebensmittelpreise mit Beihilfen künstlich niedrig gehalten, entgehen den Bauern Einnahmen, aus denen sie in die Verringerung von Nahrungsmittelverlusten investieren könnten. 

Der Mangel an funktionierenden Kreditmärkten ist ein weiteres Hindernis. Wenn die Bauern nur schwer an Kredite kommen, können sie keine neue nachhaltige Technik zur Vermeidung von Nachernteverlusten bezahlen. Hier könnten öffentliche Startkredite Abhilfe schaffen.

Was tun gegen Verluste?

Die Praxis hat gezeigt, dass sich Nahrungsverluste in armen Ländern punktuell mit einfachem und kostengünstigen Einsatz von Technik reduzieren lassen. Sie reichen aber nicht aus, das Problem strukturell in den Griff zu bekommen. Dazu sind umfassende Programme notwendig, die Verluste im Kontext der jeweiligen nationalen Ernährungssysteme untersuchen und die gesamten Wertschöpfungsketten im Blick haben.

Sind Absatzmärkte schwer zu erreichen, sind Bauern in armen Ländern oft gezwungen, verderbliches Gut sofort zu verkaufen oder selbst zu verbrauchen. Gelänge es, Produkte vor Ort weiterzuverarbeiten und haltbar zu machen – beispielsweise rohe Maniokwurzeln in Maniokchips und Mangos in Saft und Mark zu veredeln –, könnten die Bauern Preisschwankungen flexibler abfedern, und es könnten Arbeitsplätze entstehen.

Bei mangelnden Lagermöglichkeiten könnten kleine Metallsilos Abhilfe schaffen, sind aber oft teuer, oder Bauern lehnen sie aus Angst vor Diebstählen ab. In hermetisch schließbaren Plastiksäcken lässt sich Getreide lagern, wenn es vorher getrocknet werden kann. In vielen Ländern fehlt es aber an Trocknungstechnologien und einfachen Feuchtigkeitsmessern. Wird nach der Ernte feucht gelagert, drohen Schimmelpilze, die hochgiftige Aflatoxine bilden. Hier bieten manchmal schon regenfeste Lager und wasserdurchlässige Körbe Abhilfe.   

Eine Bäuerin in Uganda. Kleine Silos sind punktuell eine kostengünstige Abhilfe gegen Ernteverluste. © FAO / Sumy Sadurni

Nahrungsverluste gehen dann am stärksten zurück, wenn Bauern Zugang zu Straßen, Zügen, Häfen haben, zu Kühlketten und Internet, zu verarbeitenden Betrieben und Absatzmärkten, auf denen sie ihre Produkte verkaufen können. Gut funktionierende und integrierte Lieferketten zwischen ländlichen Regionen und Städten sind der entscheidende Schlüssel für eine erfolgreiche Reduzierung von Nahrungsmittelverlusten. Hier sind erhebliche Investitionen erforderlich, um dafür die notwendige Infrastruktur zu schaffen.

Teure Umweltfolgen

Bekäme man Lebensmittelverluste und -verschwendung besser in den Griff, käme das auch der Umwelt zugute. Auf 30 Prozent der Weltagrarflächen werden heute Nahrungsmittel angebaut, die es gar nicht auf den Teller schaffen. Etwa sechs Prozent des globalen Süßwasserverbrauchs entfallen auf Lebensmittelverluste und -verschwendung. Mit acht Prozent tragen sie zu den globalen Treibhausgasemissionen bei. Übertragen auf ein Land wäre es der drittgrößte Verursacher. Gelänge es, Verluste und Verschwendung zu vermeiden, könnten wir viele natürliche Ressourcen wie Land und Wasser sparen und Biodiversität erhalten.

Doch können Eingriffe in Wertschöpfungsketten auch belastend für die Umwelt sein. So lassen sich mit Kühlketten (Kühlschränke, -häuser, -fahrzeuge) zwar Nahrungsmittelverluste vermeiden, aber der höhere Energieverbrauch kann das Klima stärker belasten –  es sei denn, es werden alternative Energien genutzt. Mit besseren Verpackungen lassen sich Lebensmittelverluste minimieren, sie können aber auch zu einem höheren Plastikverbrauch führen. Kosten-Nutzen-Analysen helfen hier zu entscheiden, welche Technologien am nachhaltigsten sind.

Arbeiter breiten Tomaten zum Trocknen in der Sonne aus. Ein FAO-Projekt für weniger Ernteverluste und höhere Ernährungssicherheit in Ägypten. © FAO / Heba Khamis

Im Rahmen des internationalen Klimaabkommens sollten Staaten eigentlich auch regelmäßig über ihre Lebensmittelverluste und -verschwendung berichten. Die Realität sieht anders aus: bislang informieren nur elf Länder über Fortschritte bei Verlusten und kein einziger über Lebensmittelverschwendung

Wirkung auf Ernährungssicherheit

Hätte es positive Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit, wenn Bauern ihre Nahrungsverluste eindämmen? Für arme Länder, die am stärksten von Hunger und Unterernährung betroffen sind, und in denen die Nahrungsverluste hoch sind, kann dies zutreffen, so die Analysen der FAO. Wenn sie Verluste abbauen und damit das Nahrungsangebot erhöhen, haben sie mehr Lebensmittel für ihre Familien zur Verfügung und können überschüssige Mengen verkaufen – zum Nutzen anderer Konsumenten und ihrer Familien.

Investieren Bauern allerdings in bessere Trocknung, Lagerung und Kühlung, kann dies die Nahrungsmittelpreise verteuern. Dies trifft wiederum vor allem arme Menschen. Nur eine genaue Analyse der Wertschöpfungsketten gibt letztlich Aufschluss darüber, ob weniger Nahrungsverluste tatsächlich zu mehr Ernährungssicherheit beitragen, und ob andere flankierende Maßnahmen für die Armen notwendig sind.

Keine Universallösung

In Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen werden sich Nahrungsmittelverluste wohl kaum ganz auf Null reduzieren lassen. Das wäre illusorisch. Viele Bauern in Entwicklungsländern kalkulieren Überschüsse ein, um auf Marktrisiken reagieren zu können, und nehmen damit bewusst Verluste in Kauf.

Um dennoch die hohen Verluste in diesen Ländern zu verringern, ist ein systemischer Blick auf die Ernährungssysteme geboten. Die Universallösung zur Verringerung von Nahrungsverlusten gibt es nicht. Nur im jeweiligen sozialen, ökonomischen und agrar-ökologischen Kontext einer Region und eines Landes ist es möglich, Lösungen zu entwickeln.

Dazu gehören:

Nahrungsverluste zu verringern könnte allen nutzen: den Bauern, den Verbrauchern, der Umwelt und dem Klima. Diese Vorteile aber sind nur zu verwirklichen, wenn Bauern in armen Ländern von besseren Wertschöpfungsketten profitieren. Der Ernährungsgipfel bietet die große Chance, die bisherige Debatte über Lebensmittelverluste aus der Nische zu holen und auf eine breitere Basis zu stellen.

Erwin Northoff ist ehemaliger Leiter der Presseabteilung der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) und Mitglied im Redaktionsbeirat von "Welternährung.de".
Erwin Northoff Mitglied im Redaktionsbeirat

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