Zukunftspflanzen: Vergessene Kulturen bergen Potenzial für eine gesunde Ernährung
Alternativen zu Mais, Reis und Weizen: Wie vernachlässigte Arten nachhaltig zur Bekämpfung von Hunger und Fehlernährung beitragen können.
Die 16. Konferenz zum Übereinkommen über die biologische Vielfalt (COP 16) wurde am 2. November 2024 vorerst beendet, ohne wesentliche Beschlüsse zur Finanzierung des globalen Artenschutzes zu fassen (CBD 2024). Gleichzeitig ist sich die Wissenschaft einig, dass der Klimawandel das Aussterben vieler Arten weiter beschleunigt (Helmholtz Climate Initiative 2024). Besonders die Landwirtschaft ist gefährdet, denn der weltweite Trend zu weniger Vielfalt bei der Nahrungsmittelproduktion und damit einer Simplifizierung der Ernährung bedroht die Ernährungssicherheit.
Die Ernährung des Menschen basiert zurzeit tatsächlich auf nur wenigen Pflanzen- und Tierarten: Von insgesamt etwa 7.000 Pflanzenarten, die seit den Anfängen der Landwirtschaft für die menschliche Ernährung genutzt werden, decken Mais, Reis und Weizen allein über 50 Prozent der pflanzlichen Kalorien. Insgesamt nur 12 Kulturpflanzen liefern 80 Prozent der weltweiten Nahrungsmittel (Dwivedi et al. 2013) und auf nur drei Tierarten, Rinder, Schweine und Hühner, entfallen 88 Prozent der Fleischproduktion weltweit (FAO 2020).
Dabei brauchen wir die genetische Vielfalt sowohl bei Pflanzen als auch bei Tieren, sonst gefährdet es die Entwicklung neuer Sorten, die dringend für künftige Herausforderungen in der Landwirtschaft benötigt werden und zur Ernährungssicherung beitragen. In Genbanken weltweit, u.a. von der CGIAR (Consultative Group on International Agricultural Research), werden bereits ca. 7,4 Millionen Saatgutproben bzw. genetisches Material aufbewahrt, welche für die weitere Züchtung zur Verfügung stehen. Doch der langfristige Erhalt dieser Vielfalt erfordert den Einsatz in der Praxis außerhalb der Genbanken, damit sowohl die Artenvielfalt als auch das traditionelle Wissen über ihren Anbau und ihre Verwendung erhalten bleibt.
Mit Vielfalt Ernährungsprobleme lösen
Gebraucht werden die genetischen Ressourcen und die Biodiversität, um verschiedene Ernährungsprobleme weltweit zu lösen: Nicht nur i) Hunger und Unterernährung, sondern auch ii) Mikronährstoffmangel, sogenannten versteckten Hunger, und iii) Überernährung bzw. Übergewicht und Adipositas sowie damit einhergehende ernährungsbedingte nicht-übertragbare Krankheiten. Weltweit haben 124 Länder mit mindestens zwei Formen von Fehlernährung zu kämpfen, 37 Länder – vor allem in Afrika – sogar mit allen drei Formen der Fehlernährung (Global Nutrition Report 2020). Dabei könnte eine ausgewogene und vielfältige Ernährung eine Lösung für alle drei Formen der Fehlernährung sein. Es ist auch bekannt, welche Nahrungsmittel zu wenig und welche zu viel gegessen werden – und wie sich die landwirtschaftliche Produktion demnach anpassen müsste.
Tatsächlich erfüllt zurzeit keine Region in der Welt die Empfehlungen für eine gesunde Ernährung: In Ländern mit niedrigem Einkommen ist der Konsum von wichtigen gesundheitsfördernden Lebensmitteln wie Obst und Gemüse nach wie vor am geringsten, während in Ländern mit höherem Einkommen der Konsum von Lebensmitteln mit hohen Gesundheits- und Umweltauswirkungen, darunter rotes Fleisch, verarbeitetes Fleisch und Milchprodukte, am höchsten ist (Global Nutrition Report 2021). Der Verzehr von Obst und Gemüse liegt etwa 50 Prozent unter der empfohlenen Menge von fünf Portionen pro Tag, die als gesund gilt, in Afrika sogar 59 Prozent unter der empfohlenen Menge.
Wenn man sich anschaut, welche Nährstoffe besonders im Mangel sind, so könnte ein höherer Gemüse- und Obstkonsum diese Lücken, z.B. von Vitamin A aber auch Eisen oder Zink, schließen. Die Bevölkerung weltweit und vor allem in Ländern mit niedrigem Einkommen mit mehr und vielfältigerem Obst und Gemüse über das ganze Jahr hinweg zu versorgen, ist eine große Herausforderung – zumal Nachernte- und Verarbeitungsverluste in Forschung, Entwicklung und Politik nach wie vor zu wenig Aufmerksamkeit und Unterstützung bekommen.
Reichtum an nährstoffreichen, unerforschten Arten
Dabei gibt es z.B. in Sub-Sahara Afrika einen großen Reichtum an einheimischen Obst- und Gemüsearten, die bis jetzt wenig erforscht wurden und im Anbau teilweise durch für die Region exotische, neu eingeführte Arten verdrängt wurden (Kehlenbeck et al. 2013). In einem Projekt in den Trockengebieten im Norden Kenias, konnten die Nährstoffe in lokalen und vor allem wild gesammelten Gemüse- und Obstarten bestimmt werden. Es zeigte sich, dass insbesondere die lokalen dunkelgrünen Blattgemüse deutlich höhere Werte an Eisen aufwiesen als der Weißkohl, der ansonsten in der Region als Gemüse empfohlen und gefördert wird.
Bei den Frauen, die für die Studie befragt wurden und die die wilden Gemüse- und Obstarten in ihre Nahrung integriert hatten, konnte man zudem sehen, dass sie deutlich höhere Mengen an Eisen und Zink, aber auch an etlichen Vitaminen aufnehmen konnten (Oduor et al. 2024). Diese Ergebnisse wurden bei einem Workshop mit lokalen Politiker*innen geteilt, die teilweise verwundert über die hohen Nährstoffwerte ihrer lokalen Produkte waren und weitere Untersuchungen bzgl. Nährstoffgehalten von lokalen Pflanzen sehr unterstützten.
In einem weiteren Projekt in Ostafrika ging es u.a. um die ganzjährige Verfügbarkeit von Obst und Gemüse durch ressourceneffiziente Verarbeitung sowie auch um die Vermarktung der verarbeiteten Produkte und wieviel sie zu einer ausgewogenen Ernährung beitragen können (FruVaSe Projekt). Im Fokus standen dabei überschüssiges Obst und überschüssiges Gemüse, die zwar vorhanden sind, aber während der Saison nicht vollständig genutzt werden. Vieles geht durch kurze Haltbarkeit verloren: So verrotten Guaven in Kenia unter den Bäumen, während Saft aus importierten Früchten produziert wird. Neben Guave in Kenia wurden für den Cashew-Apfel in Tansania und die Jackfrucht in Uganda sowie für drei dunkelgrüne Blattgemüse verschiedene Verarbeitungsmethoden getestet, die zu nährstoffreichen, sicheren und haltbaren Obst- und Gemüseprodukten geführt haben.
Neue Produkte in Ernährungsmodell getestet
Verbraucher*innen haben die neuen Produkte ausschließlich gut bis sehr gut akzeptiert und waren auch bereit, Preise dafür zu zahlen, die eine kostendeckende Produktion erlauben würde. Allerdings war der Zuspruch der Verbraucher*innen in urbanen Gebieten höher als in ländlichen Regionen (Tepe et al. 2022). Drei Obst- und drei Gemüseprodukte wurden in einem Ernährungsmodell daraufhin getestet, ob sie in der Ernährung von Frauen und Kindern in Tansania verschiedene Nährstofflücken, die in der normalen Ernährung bestanden, füllen könnten.
Insbesondere während der Jahreszeit mit wenig frischem Obst und Gemüse waren nicht ausreichend Vitamin A und C sowie Eisen und Zink verfügbar – welches aber durch die verschiedenen verarbeiteten Obst- und Gemüseprodukte (getrocknete Blätter, Cashewapfelsaft, Guaven-Nuss-Riegel und Jackfrucht-Nuss-Riegel) ausgeglichen werden konnte. Zumindest für Frauen, stillende Mütter, Schulkinder im Alter zwischen 6 und 13 Jahren sowie Kleinkinder ab einem Jahr war dies möglich. Für Kinder unter einem Jahr konnten die Nährstofflücken nicht gefüllt werden, und weitere Lebensmittel werden hier für eine ausgewogene Ernährung benötigt (Sarfo et al. 2022).
Das FruVaSe Projekt kam insgesamt zu dem Fazit, dass einmal mehr bestätigt werden konnte, dass der Obst- und Gemüsekonsum in Ostafrika weit unter den Empfehlungen liegt und dass eine aktive Verlinkung von Landwirten mit Einrichtungen für die Verarbeitung von Obst und Gemüse notwendig ist. Des Weiteren muss die Definition von „verarbeiteten Lebensmitteln“ verbessert und propagiert werden. Denn mangels Kühlketten und sicherer Lagerungsmöglichkeiten spielen verarbeitete Obst- und Gemüseprodukte mit hohem Nährwert eine wichtige Rolle, um saisonale Lücken zu füllen. Jedoch werden verarbeitete Lebensmittel oft per se als „ungesund“ angesehen, und es besteht Verwechslungsgefahr mit hoch-verarbeiteten Lebensmitteln, welche tatsächlich im Konsum eingeschränkt oder ganz vermieden werden sollten.
In bereits bestehenden Einteilungen von verarbeiteten Lebensmitteln, wie der NOVA Klassifizierung (Link), werden die verschiedenen Stufen der Verarbeitung genau unterschieden. Diese Klassifizierungen und Informationen darüber, wie gesund die Lebensmittel nach der Verarbeitung sind, sollten dringend in lebensmittelbasierte Ernährungsrichtlinien und die Ernährungsberatung integriert werden (s. FAO – Food Based Dietary Guidelines).
Werden "Opportunity Crops" zu Zukunftspflanzen?
Ein vielversprechendes Projekt über vergessene Nahrungspflanzen, die ein großes Potential haben – im Englischen positiver „Opportunity Crops“ genannt – wurde vergangenes Jahr u.a. von der Afrikanischen Union (AU) und der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) ins Leben gerufen. Die Frage hinter der „Vision for Adapted Crops and Soils (VACS) in Africa“ ist, welche Nutzpflanzen am besten geeignet sind, angesichts der Klimaschwankungen eine stabile und gesunde Ernährung auch in Zukunft zu gewährleisten. Dabei soll eine ganzheitliche Bewertung stattfinden von bereits sehr gut erforschten Nahrungspflanzen (wie Mais, Maniok, Soja, Tomate) im Vergleich zu wenig untersuchten Pflanzen (z.B. Hirse, Augenbohne, Bambara-Erdnuss) – es geht zunächst um 26 Nahrungspflanzen insgesamt (Karl et al. 2024).
Eine ganzheitliche Bewertung heißt hier, dass nicht nur biophysikalische Eigenschaften der Pflanzen in das Modell einfließen, wie z.B. Trockenheitstoleranz, Krankheitsresistenz oder hohe Ernteerträge, sondern auch ökonomische Eigenschaften, wie hohe Akzeptanz bei den Verbrauchern, sowie sozio-kulturelle Eigenschaften, z.B. dass der Anbau der Pflanze zum Empowerment von Frauen beitragen kann. Ebenso wird beachtet, wieviel wichtige Nährstoffe wie Protein, Calcium, Vitamin A, Eisen, Zink und Folsäure die Pflanzen haben und ob sie auch außerhalb der Saison zur Verfügung stehen. Geprüft wird weiterhin, ob es bereits bedeutende pflanzengenetische Ressourcen für die Kulturpflanze gibt. Auch umweltfreundliche Eigenschaften spielen eine Rolle, etwa wie effizient die Pflanze Wasser und Nährstoffe nutzen kann – also ob sie vergleichsweise wenig Dünger benötigt, um den Ertrag zu steigern, oder ob sie zur Bodengesundheit beiträgt, indem sie dessen Eigenschaften verbessert (Karl et al. 2024).
Alle diese Eigenschaften zusammen genommen ergeben dann ein ganzheitliches Bild von jeder der 26 Kulturpflanzen – einer Art Steckbriefserie mit Landkarten und Diagrammen. Darauf kann man für verschiedene Klimaszenarien deutlich sehen, welche Pflanzen für Afrika auch unter sich wandelnden Bedingungen gut geeignet sind. Dies sind laut dieser Studie als Getreidepflanze eben nicht der Mais, sondern die Fingerhirse, Perlhirse, Sorghum oder vereinzelt auch Fonio oder Teff. Während die Sojabohne für einige Regionen in Afrika auch unter geänderten Klimabedingungen in Frage kommt, haben z.B. die Augenbohne oder die Platterbse, teilweise auch die Kichererbse oder die Bambara-Erdnuss, ein wesentlich höheres Potenzial.
Einmal mehr lässt sich festhalten: Nahrungsmittel sind verfügbar – aber etliche Pflanzen sind wenig genutzt und „vergessen“, obwohl sie ein großes Potenzial haben, das es gilt, auf nachhaltige Weise zu heben. Zusätzlich zu Daten über vorhandene oder fehlende Kilokalorien sind mehr Daten zu (Mikro-)Nährstoffen und Nahrungsdiversität erforderlich – und wieviel davon beim Konsumenten ankommt –, um differenzierter zu verstehen, was genau von der Landwirtschaft und ihrer Produktion erwartet wird. Dabei leisten vernachlässigte Nahrungspflanzen (“Opportunity Crops”) nicht nur einen Beitrag zu einer gesunden Ernährung, sondern auch zur Resilienz von Agrar- und Ernährungssystemen, etwa durch die Steigerung der Agrobiodiversität. Dass die genetischen Ressourcen dafür erhalten bleiben müssen und es dafür entsprechend finanzielle Unterstützung braucht, muss dringend bei den Nachverhandlungen zur COP16 berücksichtigt werden.
Literatur
Dwivedi S, Sahrawat K, Upadhyaya H, Ortiz R (2013) Chapter One - Food, Nutrition and Agrobiodiversity Under Global Climate Change. Advances in Agronomy, 120, 1-128. https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/B9780124076860000014
FAO (2020) Biodiversity for food and agriculture and ecosystem services – Thematic Study for The State of the World’s Biodiversity for Food and Agriculture. Rome. https://doi.org/10.4060/cb0649en
Global Nutrition Report 2020: Action on equity to end malnutrition. Bristol, UK: Development Initiatives. https://media.globalnutritionreport.org/documents/2020_Global_Nutrition_Report_2hrssKo.pdf
Global Nutrition Report 2021: The state of global nutrition. Bristol, UK: Development Initiatives. https://media.globalnutritionreport.org/documents/2021_Global_Nutrition_Report_aUfTRv0.pdf
Karl KA, MacCarthy D; Porciello J, et al. (2024) Opportunity Crop Profiles for the Vision for Adapted Crops and Soils (VACS) in Africa. https://doi.org/10.7916/7msa-yy32
Kehlenbeck K, Asaah E, Jamnadass R (2013) Diversity of indigenous fruit trees and their contribution to nutrition and livelihoods in sub-Saharan Africa: examples from Kenya and Cameroon. In: Fanzo J, Hunter D, Borelli T and Mattei F (Eds.) Diversifying Food and Diets. Routledge, London. https://www.taylorfrancis.com/chapters/edit/10.4324/9780203127261-17/case-study-3-katja-kehlenbeck-ebenezar-asaah-ramni-jamnadass
Oduor F, Keding G, Kaindi DM, Abong G, Thuita F and Termote C (2024) Quantifying Turkana’s wild edible plants’ contribution to critical micronutrient and dietary diversity among women of reproductive age. CyTA – Journal of Food, 22(1). https://www.tandfonline.com/doi/full/10.1080/19476337.2024.2413949#abstract
Sarfo J, Pawelzik E, Keding GB (2022) Are processed fruits and vegetables able to reduce diet costs and address micronutrient deficiencies? Evidence from rural Tanzania. Public Health Nutrition 25(9), 2637–2650. https://doi.org:10.1017/S1368980022000982
Tepe J, Benali M and Lemken D (2021) Consumer demand for novel fruit and vegetable products with extended shelf lives in East Africa: a multinational multi-product analysis. Public Health Nutrition, 1-11. https://doi.org/10.1017/S136898002100478X