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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 04/2022
  • Alexander Müller, Olivia Riemer, Sarah Zitterbarth

Versteckte Kosten unserer Ernährungssysteme sichtbar machen

Die Preise von Lebensmitteln sind zu eindimensional. Ihre “wahren Kosten” für Mensch und Umwelt zu ermitteln, ist ein erster Schritt zu mehr Nachhaltigkeit – und sozialer Gerechtigkeit.

Ein Teil des globalen Ernährungssystems: Teebauer auf einer Plantage in der Northern Province von Ruanda. © Assumpta Uwamaliya/World Resources Institute via Flickr CC BY-NC-SA 2.0

Die hitzige Debatte in den letzten Jahren in Deutschland über sogenanntes „Billigfleisch“ hat die Frage nach dem Wert von Lebensmitteln und den wirklichen Kosten der Produktion neu gestellt. Dabei geht es nicht nur um den Preis für Fleisch, sondern auch um die Sicherung des Einkommens der Landwirt*innen, um die Frage, wie Konsument*innen mit gesunden Lebensmitteln zu erschwinglichen Preisen versorgt werden können und um die Vermeidung von Umweltfolgen der Lebensmittelproduktion. Wir zahlen für Lebensmittel nicht nur im Supermarkt, sondern wir müssen auch für die Kosten von Umweltverschmutzung, Zerstörung von Biodiversität sowie für die teuren Folgen der Fehlernährung aufkommen.  

Eines wird bei der Betrachtung der „wahren“ Kosten unserer Lebensmittel deutlich: „Billigfleisch“ ist gar nicht billig, wenn man die Folgen für Umwelt und Gesellschaft berücksichtigt. Weltweit wird der Marktwert aller konsumierten Lebensmittel auf 9 Mrd. Dollar geschätzt, während die Kosten für Umwelt und Gesellschaft mit geschätzt rund 20 Mrd. Dollar mehr als das Doppelte betragen. Dies zeigt: Unser globales Ernährungssystem ist weder nachhaltig noch gerecht und schadet der Gesundheit, der Umwelt und dem Klima. 

Versteckte Kosten sichtbar machen 

Auf dem Weg vom Feld bis auf den Teller verursacht unser globales Ernährungssystem rund ein Drittel der gesamten Treibhausgasemissionen und ist eine treibende Kraft für den Biodiversitätsverlust. Wir ernähren uns mit hohen, aber versteckten Kosten für Natur und Umwelt, aber auch auf Kosten der Menschen, die „billige” Nahrungsmittel unter prekären Arbeitsbedingungen produzieren. Weder Preise noch Unternehmensrechnungen berücksichtigen diese Kosten derzeit, was falsche Anreize für Investor*innen und Bürger*innen schafft und zu Marktverzerrungen führt.  

Diese versteckten Kosten, verursacht durch Umwelt- und Gesundheitsschäden und soziale Kosten, werden nicht von ihren Verursacher*innen, sondern vor allem von ökonomisch schwächeren Gruppen, Menschen im Globalen Süden und von zukünftigen Generationen getragen. Der Preis von Lebensmitteln deckt nur ungefähr ein Drittel der Kosten, die anfallen, wenn man die realen, aber versteckten sozialen, ökologischen und gesundheitlichen Kosten für die Gesellschaft miteinberechnen würde. Ein nachhaltig angebauter und fair gehandelter Apfel müsste deshalb eigentlich günstiger sein als ein konventioneller Apfel – ist er aber leider nicht.  

Supermärkte bewerben Obst und Gemüse immer häufiger mit Nachhaltigkeitslabeln. © Rewe Group PR

Lebensmittelpreise sind besonders für Menschen mit niedrigem Einkommen wichtig. Einfach zu fordern, die „wahren“ Kosten der Lebensmittel auf den Preis aufzuschlagen, greift zu kurz. Die Internalisierung externer Kosten muss sozial gerecht gestaltet werden. Billige Lebensmittel ersetzen gegenwärtig oft soziale Sicherungssysteme. Im Globalen Süden sichern sie der urbanen Bevölkerung das Überleben, wenn auch auf einem oftmals sehr niedrigen Niveau. Gleichzeitig ist die Entwicklung zu immer niedrigeren Preisen für Lebensmittel aber auch mitverantwortlich für die Armut von Landwirt*innen, vor allem im Globalen Süden.  

Eine Transformation unserer Ernährungssysteme wird ohne Veränderungen des ökonomischen Systems nicht zu erreichen sein. Es ist deshalb unerlässlich, die Auswirkungen von Produktionsweisen und Konsumverhalten auf Umwelt und Gesellschaft zu analysieren und zu quantifizieren, um versteckte Kosten sichtbar zu machen. Eine „wahre Kostenrechnung“ (True Cost Accounting, TCA) könnte hierbei eine zentrale Rolle spielen und als Transformationshebel wirken.  

True Cost Accounting als Transformationshebel  

TCA ist ein innovativer und systematischer Ansatz zur Analyse und Bewertung von Produkten, Produktions- und Konsummustern, Lieferketten und Unternehmensstrategien als auch zur Steuerung einer nachhaltigen und sozial gerechten Politik der Ernährungssysteme. Um die Bedeutung und Tragweite des Ansatzes zu verstehen, hilft es, sich TCA als eine Art Instrumentenkasten vorzustellen: mit einer Taschenlampe, einem Maßband, einer Waage und einem Megafon.  

Der Instrumentenkasten für das True Cost Accounting © TMG

Die Taschenlampe bringt Licht ins Dunkel der Externalitäten unseres Ernährungssystems. Dies ermöglicht es, Auswirkungen auf ökologische, soziale und wirtschaftliche Umfeldbedingungen zu benennen und sie mithilfe des Maßbands zu messen. Die Waage erfasst, wie schwer eine Auswirkung ins Gewicht fällt, vor allem im Vergleich zu anderen Effekten. Sie steht für die Monetarisierung, also die Umrechnung in Geld und die geldliche Bewertung von Externalitäten und ermöglicht ein leichteres Verständnis der Verhältnismäßigkeit und der Kosten verschiedener Auswirkungen im Ernährungssystem.  

Die Berechnung der „wahren“ Kosten von Umweltbelastungen bei der Nahrungsmittelproduktion zeigt, dass wir unsere natürlichen Lebensgrundlagen wie „umsonst“ behandeln: Der starke Einsatz von Düngemitteln und Pestiziden gefährdet beispielsweise sauberes Trinkwasser und verursacht Kosten für dessen Aufbereitung, die sich jedoch nicht in den Produktionskosten widerspiegeln, sondern von der gesamten Gesellschaft getragen werden. TCA bietet jedoch nur eine monetäre Annäherung, denn die einzig „wahren“ Kosten gibt es nicht. Sie sind immer auch abhängig von gesamtgesellschaftlichen Bewertungen. 

Sobald es TCA-Daten gibt, die notwendige Veränderungen für nachhaltige Ernährungssysteme aufzeigen, muss die Gesellschaft per Megafon über die „wahren“ Kosten informiert werden. Damit können Produzent*innen, Konsument*innen und Politiker*innen in ihren Entscheidungen das menschliche Wohlergehen, Menschenrechte sowie Umwelt- und Klimaschutz berücksichtigen und stärken. Der TCA-Instrumentenkasten ermöglicht es, Kosten und Nutzen verschiedener Anbauweisen zu vergleichen sowie die Abhängigkeiten zwischen natürlichen Systemen und menschlichen Aktivitäten im Ernährungssystem zu verstehen und zu bewerten.  

Im Einzelhandel gibt es Projekte zum Testen von True Cost Accounting, wie bei der Rewe Gruppe. © Rewe Group PR

TCA kann jedoch nur dann als Transformationshebel wirken, wenn die Erfassung verbindlich ist – ein wichtiges Element, das der Toolbox bisher noch fehlt. TCA in ökonomischen Bilanzierungs- und Berichterstattungssystemen und den sich daraus ergebenden notwendigen unternehmerischen und politischen Steuerungsmaßnahmen verbindlich zu verankern, muss politisch vorangetrieben werden. Nur so kann TCA von einem Informations- zu einem verpflichtenden Handlungsinstrument werden. Wir müssen vermeiden, dass unverbindliche Nachhaltigkeitsberichterstattung nur dazu dient, Zeit zu gewinnen, um nicht-nachhaltige Produktion mit blumigen Absichtserklärungen „grün“ erscheinen zu lassen. 

Wohlstand und wirtschaftliche Leistung neu messen 

Gesellschaftlich und politisch wächst das Verständnis, dass die Krisen und Probleme unserer Zeit – in Bezug auf Klima, Biodiversität, Ernährung, Ungleichheit und globale Gesundheit – nicht isoliert angegangen werden können und dass unsere Messung von wirtschaftlicher Leistung und Wohlstand zu eindimensional ist. Die bekannteste und weltweit angewandte Maßzahl zur Messung und Beurteilung des Wohlstands eines Landes ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Dieses berücksichtigt jedoch nur das Sachkapital, also den Wert aller produzierten Waren und Dienstleistungen in einem Land. Unberücksichtigt bleiben die positiven und negativen Effekte wirtschaftlichen Handelns auf das Natur-, Human- und Sozialkapital – wie zum Beispiel Ressourcenverbrauch, Luftverschmutzung, CO2-Einsparungen, der Wert von Hausarbeit oder angemessene Löhne.  

Im Kontext von Ernährungssystemen umfasst das Naturkapital die natürliche Grundlage für die Nahrungsmittelproduktion (z.B. Boden, Luft, Wasser); das Humankapital bezieht sich auf das Wissen und die menschlichen Fähigkeiten, welche die sinnvolle Nutzung von Ressourcen ermöglichen (z.B. menschliche Gesundheit, Arbeitsbedingungen); das Sozialkapital umfasst Strukturen, Normen und Gesetze, welche das Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten und Akteure im Ernährungssystem ermöglichen (z.B. Menschenrechte, soziale Gemeinschaft).  

TCA kann dazu beitragen, den Wert aller vier Kapitale zu ermitteln. So wäre wirtschaftliches Handeln nicht mehr nur auf den einen Zielwert des BIP ausgerichtet, sondern könnte sich an einem „Armaturenbrett“ verschiedener Zieldimensionen – materieller Wohlstand, soziale, ökologische und ökonomische Nachhaltigkeit – orientieren. TCA kann ganzheitliche und integrierte Analysen liefern, Zielkonflikte von Nachhaltigkeitspolitik aufdecken, und Investitionen sowie Regulierungen in Richtung nachhaltiger, gesunder und gerechter Ernährungssysteme lenken.  

Weichen stellen für die Transformation 

Ein Blick auf verschiedene Länder und internationale Organisationen zeigt, dass es bereits einige alternative Wohlstandsmaße und BIP-ergänzende Indikatoren für Lebensqualität und Nachhaltigkeit gibt: u.a. den „Human Development Index“ der Vereinten Nationen, den „Better Life Index“ der OECD, den neuen internationalen statistischen Standard für Ökosystem-Accounting (SEEA-EA) oder das Bruttonationalglück im südostasiatischen Bhutan.  

In Deutschland gibt es seit einigen Jahren den Nationalen Wohlfahrtsindex, welcher im Jahreswohlstandsbericht der Bundestagsfraktion von Bündnis90/Die Grünen abgebildet wird. Die neue Bundesregierung hat im Jahreswirtschaftsbericht 2022 angekündigt, die soziale Marktwirtschaft zur sozial-ökologischen Marktwirtschaft weiterzuentwickeln, um im Sinne von TCA die planetaren Grenzen einzubeziehen. Dies würde erfordern, den nationalen Wettstreit zwischen Ministerien um die Relevanz von Indikatoren und Berichten zugunsten eines einheitlichen Bewertungsmaßstabes zu beenden. Global müssten die internationale Standardisierung und die Regeln zur Rechnungslegung, welche die globale Vergleichbarkeit für die Berechnung des BIP sicherstellen, angepasst werden.  

Mit der Vereinbarung im Koalitionsvertrag, ökologische und soziale Werte in bestehende Bilanzierungssysteme im Bereich Land- und Ernährungswirtschaft zu integrieren, hat die Bundesregierung einen ersten wichtigen Schritt getan. Im aktuellen Jahreswirtschaftsbericht wurden deshalb 31 alternative Wohlstandsindikatoren vorgestellt. TCA als ganzheitliche Form der Bilanzierung unterstützt diese politischen Ansatzpunkte für eine nachhaltige Transformation unseres Wirtschafts- und Ernährungssystems und kann eine Vielzahl von Indikatoren zusammenführen und vergleichbar machen. TCA kann verhindern, dass „Fehlrechnungen“ auf Unternehmensebene negative gesamtgesellschaftliche Auswirkungen haben.  

Sammelstelle für Teepflückerinnen der Teefabrik Mulindi in Ruanda. © Dow Maneerattana/World Resources Institute via Flickr CC BY-NC-SA 2.0

So fordert beispielsweise Misereor eine branchenweite Reform der Unternehmensbilanzierung in der Agrar- und Lebensmittelwirtschaft und fordert die Bundesregierung auf, dafür die Weichen zu stellen. Grundlage für einen Dialog aller relevanten Akteure – Gesetzgeber, Finanzinstitute, Unternehmen, (inter)nationale Standardsetzer, Verbände, Aufsichtsbehörden – müsse eine Machbarkeitsstudie zur Umsetzung einer „Wahren-Kosten-Rechnung“ und einer verpflichtenden Transparenz für die Agrar- und Lebensmittelwirtschaft sein. Verbindlichkeit – das fehlende Element der TCA-Toolbox – steht im Mittelpunkt der Forderungen. So soll die Studie auch Vorschläge für verbindliche und vergleichbare Indikatoren zur Berechnung der „wahren“ Kosten enthalten.  

Nicht nur in Deutschland müssten externe Kosten integraler Bestandteil der verbindlichen Lageberichterstattung von Agrar- und Lebensmittelunternehmen werden, sondern mindestens auch auf EU-Ebene. In den Verhandlungen über eine neue europäische Nachhaltigkeitsberichterstattung aber fehlt bislang eine Debatte über die „wahren“ Kosten als wesentliche Berichtsindikatoren. Eine solche Debatte müsste auch in Bezug auf das geplante EU-Lieferkettengesetz geführt werden, für das ein Entwurf vorliegt.  

TCA wurde bisher vor allem in Bezug auf die Agrarwirtschaft angewendet. Für eine nachhaltige Transformation im Sinne der UN-Nachhaltigkeitsziele und des Pariser Abkommens müsste TCA jedoch auf andere Wirtschaftszweige, wie beispielsweise die Industrie- oder Textilbranche ausgeweitet werden. Wer sich aber vergegenwärtigt, wie lange es international gedauert hat, sich auf eine Bepreisung von CO2 und die Kosten von CO2-Emissionen festzulegen, kann sich vorstellen, welche Anstrengungen erforderlich sind, um TCA in der Breite zu einem akzeptierten und etablierten Instrument zu machen. Viele Indikatoren sind auch noch gar nicht entwickelt, zum Beispiel für Biodiversität oder soziale Kosten. 

Mit der TCA Toolbox hat TMG, ein unabhängiger Think Tank im Bereich der Nachhaltigkeitsforschung, gemeinsam mit anderen Mitgliedern aus der True Cost Initiative ein wichtiges Handwerkszeug für die Transformation von Ernährungssystemen vorgelegt. Diese Toolbox ermöglicht es, die wahren Kosten zu berechnen und Strategien zu entwickeln, wie die Weichen für die Transformation zu nachhaltigen Ernährungssystemen gestellt werden müssen. Jetzt braucht es gesellschaftliches Bewusstsein für versteckte Kosten, Akzeptanz für neue Bilanzierungssysteme und politischen Willen, TCA verbindlich umzusetzen. 

Portrait Alexander Müller, TMG
Alexander Müller TMG - Töpfer, Müller, Gaßner GmbH, ThinkTank for Sustainability, Berlin
Olivia Riemer TMG, Thinktank for Sustainability
Sarah Zitterbarth TMG, Thinktank for Sustainability

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