Warum in Afrika die Nutzung von Pestiziden rasant zunimmt
In unregulierten Märkten blüht das Geschäft lokaler Pestizidhändler mit generischen Produkten – oder ihren Fälschungen. Um stärker zu kontrollieren, sind Politik und Zivilgesellschaft gefordert.
Das boomende Geschäft mit günstigen, generischen Pestiziden sorgt für einen rasanten Anstieg des Chemikalieneinsatzes in der tropischen Landwirtschaft. In Afrika sprechen manche Experten sogar von einer „Pestizidflut“. Damit wachsen seitens Umweltorganisationen und Wissenschaftlern auch die Sorgen um gesundheitliche und ökologische Schäden, vor allem wo Pflanzenschutzmittel kaum reguliert und kontrolliert werden. Doch warum sind Pestizide für viele Bauern so attraktiv? Und welche Strategien gibt es, um die Gefahren des Pestizideinsatzes zu begrenzen?
Pestizide sind seit Beginn des 20. Jahrhunderts fester Bestandteil der kommerziellen Landwirtschaft in Europa und Nordamerika, seit der „Grünen Revolution“ auch in Asien und Lateinamerika. In Afrika liegt die Pestizidnutzung bislang deutlich unter dem globalen Durchschnitt (siehe Karte "Pesticide use"), doch das ändert sich rasant (siehe Grafik 1). Ein Grund dafür sind sich wandelnde Pestizidmärkte.
In China und Indien sind in den vergangenen Jahren große Agrarchemieunternehmen entstanden, die westlichen Firmen wie BASF, Bayer, Dupont und Syngenta mit günstigen, generischen Pestiziden Marktanteile streitig machen, seitdem Pestizid-Wirkstoffe wie Glyphosat ihren Patentschutz verloren haben. 2020 wurde Europa durch China als größter Pestizidexporteur abgelöst (siehe Grafik 2). Gleichzeitig steigt die Nachfrage nach Pestiziden, unter anderem durch den steigenden Bedarf von Obst und Gemüse in den Ballungsräumen, durch steigende Arbeitskosten für manuelle Unkrautbekämpfung und durch das Aufkommen invasiver Schädlinge wie dem Herbst-Heerwurm, der Tomatenminiermotte oder der Wanderheuschrecke im Zuge des Klimawandels.
Grafik 1: Pestizideinsatz
Pestizide können insbesondere in Abwesenheit von effektiven regulatorischen Rahmenbedingungen erhebliche Gesundheits- und Umweltprobleme verursachen. Gefährliche Wirkstoffe werden häufig ohne ausreichende Schutzmaßnahmen und ohne Rücksicht auf die Nebenwirkungen für Mensch und Natur eingesetzt. Eine Umfrage der Universität Lund in Schweden unter Kleinbauern in Uganda zeigte, dass über 80 Prozent von ihnen keine Schutzausrüstung tragen. Teilweise werden Pestizide mit einfachen Pinseln aufgetragen, die Reinigung von Ausbringungsutensilien erfolgt oft an Trinkwasserstellen. Pestizidbehälter werden häufig in Wohnhäusern gelagert, in der Umwelt entsorgt oder zur Aufbewahrung von Lebensmitteln wiederverwendet.
Schätzungen zufolge erleiden jährlich bis zu 385 Millionen Menschen akute Gesundheitsschäden aufgrund von Pestiziden. Darüber hinaus sind Selbstmorde durch Pestizide im globalen Süden häufig, sie machen schätzungsweise 20 Prozent der globalen Suizide aus. Mit Blick auf die Biodiversität stellen Pestizide eine der wichtigsten Ursachen für den Rückgang von Bestäubern und Wassertieren in tropischen Gebieten dar. Der Verlust von essbaren Beikräutern und Insekten kann auch Folgen für die Ernährung haben, das zeigt etwa eine Studie in Sambia.
Grafik 2: Pestizidexporteure
Nichtsdestotrotz schätzen viele Kleinbauern Pestizide. Das zeigt eine Feldstudie unserer Institute in Sambia. So sagten in insgesamt 18 Gruppendiskussionen lediglich 3 von 136 Teilnehmern, dass sich Pestizide insgesamt negativ auswirkten (unter Berücksichtigung aller Vor- und Nachteile). Was Pestizide sehr attraktiv macht? Insbesondere die Verringerung des Risikos von Missernten und Nachernteverlusten sowie die verringerte körperliche Belastung und Zeitaufwand. Herbizide entlasten vor allem Frauen, die neben Haushalt und Kinderbetreuung teils wochenlang mühevoll Unkraut jäten. In Burkina Faso werden Unkrautvernichter deshalb auch als „mothers little helper“ bezeichnet.
Unsere Studie in Sambia zeigt, dass die negativen Effekte von Pestiziden oft als notwendiges Übel eingestuft werden, zumal viele der Wirkungen nur indirekt und zeitverzögert auftreten. Einen Eindruck geben die folgenden Zitate:
Pestizide haben keine wirklichen Auswirkungen auf die Umwelt. Vielleicht sterben Insekten und Vögel, aber sie kommen in der nächsten Saison wieder.
Kleinbauer SambiaEs ist nicht die Schuld der Chemikalien, dass die Menschen sie trinken oder missbrauchen. Ohne sie würden sich die Leute einfach ein Seil an den nächsten Baum hängen.
Kleinbauer SambiaAuch Studien aus Burkina Faso und Uganda legen nahe, dass Bauern zwar die ungefähren Gefahren von Pestiziden kennen, diese jedoch aus ökonomischem Druck und mangelnder Kenntnis von Alternativen zunehmend nutzen.
Gefälscht, gepanscht und wiederverpackt
Viele negative Effekte von Pestiziden könnten mit besser regulierten und kontrollieren Lieferketten verringert werden. Wir haben exemplarisch Pestizid-Lieferketten in Sambia untersucht, die Situation ist jedoch in anderen afrikanischen Ländern ähnlich. Unsere Daten zeigen eine rasante Zunahme lokaler Pestizidhändler, die generische Produkte verkaufen. Viele dieser Händler sind nicht registriert – oft handelt es sich um Bauern oder fachfremde Personen, die die Wirkstoffe in kleinen provisorischen Ständen an Straßenrändern oder auf Wochenmärkten verkaufen, oder sie ziehen mit Fahrrädern von Hof zu Hof.
Selbst hochgefährliche Pestizide (wie Dichlorovos, Monocrotophos oder Aluminiumphosphid) werden teilweise in einfachen Plastiktüten "wie Süßigkeiten" („like biscuits“) beworben. Häufig werden dabei gefälschte und abgelaufene, wiederverpackte Produkte verkauft. Laboranalysen einer Studie aus Mali zeigen, dass 45 Prozent der Herbizide einen zu geringen Wirkstoffgehalt aufweisen, also gepanscht sind. Ein Problem ist auch, dass frische Lebensmittel häufig kurz vor oder sogar nach der Ernte gespritzt werden, um sie länger haltbar zu machen. In Sambia gab es kürzlich einen Fall, bei dem über 200 Personen nach dem Verzehr von pestizidkontaminiertem Salat ins Krankenhaus eingeliefert werden mussten.
Viele der beschriebenen Probleme lassen sich auf Fehlanreize zurückführen, welche aus der mangelnden Verfügbarkeit von Informationen über Pestizidqualität, -kontamination und -risiken resultieren. Sie könnten durch regulierende Eingriffe korrigiert werden. Um die Rahmenbedingungen für die Pestizidnutzung zu verbessern sind eine restriktive Gesetzgebung, deren konsequente Umsetzung, Ausbildungsmaßnahmen (für Nutzer und Händler) sowie Alternativen zum Einsatz hochtoxischer Pestizide – entweder harmlosere Wirkstoffe oder biologische bzw. mechanische Maßnahmen – erforderlich.
Regulierung fehlt oder wird nicht umgesetzt
Zwar haben inzwischen fast alle Länder der Welt eine Pestizidgesetzgebung, die Gesetze sind jedoch oft lückenhaft. Beispielsweise gibt es kaum ein Land, das nicht die Rotterdamer Konvention zum Verzicht auf besonders toxische Wirkstoffe unterschrieben hat. Dennoch sind – in der EU verbotene – Pestizide mit sehr hoher akuter (Öko-)Toxizität wie z.B. Organophosphate, Paraquat, Phosphide oder Carbamate häufig noch zugelassen. Auch in Sambia sind verschiedene hochtoxische Pestizide offiziell registriert. Unsere Forschung zeigt allerdings, dass viele Prozesse wie die Registrierung von Händlern und Pestiziden nur sehr grob geregelt sind. Details zur Umsetzung sind nicht in Umsetzungsverordnungen überführt.
Ein noch größeres Problem besteht bei der Umsetzung der Gesetze: Behörden in Sambia und anderswo verfügen über zu wenig Ressourcen und Personal, um Inspektionen und Monitoring in teils abgelegenen Gegenden durchzuführen. Routine-Inspektionen an Grenzübergängen oder von Händlern und Lebensmittelmärkten finden nur sporadisch statt. Auch Umwelt- und Gesundheitsauswirkungen werden nicht routinemäßig erfasst, z.B. in Fallstatistiken in Krankenhäusern, sondern nur auf der Grundlage von Beschwerden. Selbst wenn Inspektionen durchgeführt werden, fehlt es überdies an Laboratorien für chemische Qualitätsanalysen.
Die beschriebenen Missstände beschränken sich nicht auf Sambia. Eine globale Umfrage der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zeigt etwa, dass mehr als die Hälfte der befragten Länder nicht über Leitlinien für die Pestizidregistrierung verfügen. Die WHO-Studie zeigt auch, dass die Qualität der Pestizidregulierung mit der Wirtschaftsleistung korreliert und afrikanische Staaten deswegen deutlich weniger Regelwerke haben als etwa asiatische oder lateinamerikanische. Mehr als 70 Prozent der afrikanischen Länder haben weder Auflagen zur Regulierung von gefälschten oder hochtoxischen Pestiziden noch für das Monitoring von Umwelteffekten und Pestizidrückständen auf und in Nahrungsmitteln.
Politische Überzeugungskraft gefragt
Um die Pestizidregulierung in Afrika zu verbessern, wird es darauf ankommen, politische Entscheidungsträger und Interessengruppen davon zu überzeugen, dass es sich auszahlt, sowohl eine strengere Regulierung und deren Umsetzung anzustreben als auch Wissen, Fähigkeiten und Alternativen zu fördern. Dazu bedarf es zusätzlicher Forschung über die tatsächlichen sozialen und ökologischen Kosten alternativer Wirkstoffe und Verfahren sowie Belege für ihre Praxistauglichkeit. Internationale Organisationen, Geberländer und die Forschung spielen eine wichtige unterstützende Rolle, um neue Ansätze und Verfahren zu entwickeln und zu testen sowie den Austausch auf nationaler und internationaler Ebene zu ermöglichen. Zugleich kann die Zivilgesellschaft den politischen Druck auf Entscheidungsträger erhöhen. Und sie sollte auch an Gesetzgebungs- und Registrierungsverfahren beteiligt werden.
Auch könnten innovative, niedrigschwellige Umsetzungsmodelle durch private, staatliche und zivilgesellschaftliche Akteure die Durchsetzung effizienter machen. Ein Beispiel wäre, Aktivitäten wie die Sammlung von Behältern ebenso zur Pflicht zu machen wie eine vergünstigte Bereitstellung von Schutzausrüstung und Qualifizierungskurse für Pestizidhändler und Anwender. Auf lokaler Ebene könnten Dorfgemeinschaften und Bauernorganisationen Nutzungsregeln festlegen, Händler überwachen, und etwaige negative Auswirkungen dokumentieren.
Darüber hinaus könnte eine regionale Harmonisierung der Pestizidgesetzgebung (z.B. über das Southern African Pesticides Regulators Forum) durch gemeinsame Registrierung und Grenzkontrollen wertvolle Kapazitäten freisetzen und die Zulassungen weniger toxischer Wirkstoffe erleichtern. Auch ökonomische Anreize wie etwa die Besteuerung von Pestiziden oder die Förderung von biologischen Wirkstoffen könnten in Betracht gezogen werden – ebenso wie die Einführung formeller Zertifikate im Sinne eines Pflanzenschutzsachkundenachweises.
Ein wichtiger Baustein, um Kenntnisse über biologischen Pflanzenschutz zu fördern, sind schließlich auch Trainings- und Beratungsprojekte wie „Plant Clinics“ oder „Farmer Field Schools“. Eine Studie aus Sambia zeigt etwa, dass Teilnehmer des „Plant Clinics Programme“ Pestizide weniger oft übernutzen und mehr biologische Produkte einsetzen. Ergänzend können auch digitale Instrumente eine Rolle spielen, z.B. Smartphone-Apps für Bauern und Landwirtschaftsberater für die Früherkennung und Identifikation von Schädlingen (z.B. Plantwise Toolkit), oder für die digitale Rückverfolgbarkeit von Produkten entlang der Lieferkette. Auch Umweltprobleme können digital gemeldet werden.
Letztlich erfordert es eine Kombination aus verschiedenen klugen Ansätzen, um Pestizide effektiver zu regulieren. Erfahrungen aus verschiedenen Ländern zeigen, dass sich mit einer Kombination aus strikterer Regulierung und Förderung von alternativen Verfahren die Probleme des Pestizideinsatzes drastisch reduzieren lassen, oftmals ohne Erträge zu gefährden. Ein Beispiel ist das “Three Reductions, Three Gains”-Programm welches vom Internationalen Reisforschungsinstitut IRRI in Vietnam umgesetzt wurde und Bauern davon überzeugen konnte, dass eine um 50 Prozent geringere Pestizidnutzung mit Profitsteigerungen einhergehen kann.
Während eine pestizidfreie Landwirtschaft auf lange Sicht das Ziel sein sollte – sofern es gelingt, attraktive agronomische und technische Alternativen zu finden –, scheint eine effektivere Regulierung von Pestiziden kurz- und mittelfristig entscheidend zu sein, um ein düsteres Szenario einer unüberlegten, pestizid-intensiven kleinbäuerlichen Landwirtschaft zu vermeiden.
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