Zur Hauptnavigation springen Zur Suche springen Zum Seiteninhalt springen Zum Footer springen

  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 06/2020
  • Lisa Maria Klaus

Fehlernährung ist eine Gerechtigkeitsfrage

Der Global Nutrition Report zeigt auf, wie Ernährungsprobleme von Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten abhängen.

Eine Familie beim Essen in Bangui in der Zentralafrikanischen Republik: Viele Hände und Münder teilen sich ein einfaches Essen. © Topas / Welthungerhilfe

Die Corona-Pandemie lehrt uns derzeit viel über Gerechtigkeit. Die Krise trifft ohnehin vulnerable Bevölkerungsgruppen besonders hart. Fehlernährung spielt hierbei eine wichtige Rolle. Wer schlecht oder unzureichend ernährt ist, hat ein schwächeres Immunsystem und ist somit anfälliger für eine Erkrankung an COVID-19. Umgekehrt begünstigen die Folgen der Pandemie – wie geschlossene Märkte und Schulen – die Verbreitung von Fehlernährung.

Nun ist es keine neue Erkenntnis, dass schwache Bevölkerungsgruppen anfälliger sind für Krankheiten und ernährungsbezogene Leiden. Doch die weltweite Ausbreitung des Coronavirus wirkt derzeit wie eine gigantische Röntgenaufnahme: Sie offenbart die Schwachstellen unserer Gesundheitssysteme genauso wie die des globalen Ernährungssystems. Die Pandemie legt die massiven Ungleichheiten offen, die diese Systeme bestimmen. Die Wahrscheinlichkeit zu erkranken, oder eine Erkrankung zu überleben, hängt maßgeblich davon ab, ob medizinische Versorgung und gesunde Ernährung verfügbar sind, oder nicht. Flüchtlinge in Camps, Bewohner informeller Siedlungen und Menschen ohne festes Dach über dem Kopf sind besonders verwundbar.

Der GNR 2020 analysiert, wie Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten die Verbreitung von Fehlernährung bestimmen.

Zu langsame Fortschritte

Der diesjährige Global Nutrition Report 2020 (GNR) widmet sich diesen Schieflagen. Unter dem Titel „Action on equity to end malnutrition“ analysiert er, wie Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten die Verbreitung von Fehlernährung bestimmen. Die Autoren schlagen Alarm, dass Fortschritte in der Bekämpfung viel zu langsam geschehen. Häufig verschleierten zudem die über den Ernährungszustand erhobenen Daten, wie extrem Ungleichheiten innerhalb von Ländern und unter verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen sein können. So mag Hunger in einem Land wie Peru im nationalen Durchschnitt wenig verbreitet sein, in ländlichen Gegenden aber, die von der indigenen Bevölkerung bewohnt werden, ist chronischer Hunger ein ernsthaftes Problem.

Die Erklärung dafür liegt darin, dass viele Erhebungen zum Ernährungszustand die nationalstaatliche, regionale oder gar globale Ebene erfassen, während sie Ungleichheiten auf subnationaler Ebene und zwischen Bevölkerungsgruppen zu wenig Beachtung schenken. Dabei hängt der Ernährungszustand sehr eng mit soziodemographischen Merkmalen wie der sozialen Herkunft und dem Bildungs- und Wohlstandsgrad zusammen. 

 

Zum Global Nutrition Report

Seit 2014 liefert der Global Nutrition Report aktuelle Daten zum globalen Ernährungszustand. Hervorgegangen aus dem internationalen Nutrition for Growth Gipfel (N4G) 2013, ist der Bericht seither die anerkannte Grundlage, um Entwicklungen im Bereich Ernährung global zu analysieren. Herausgegeben wird er von der britischen Organisation Development Initiatives. Während der Bericht der Welternährungsorganisation FAO  – The State of Food Security and Nutrition in the World (SOFI) –die neuesten Hungerzahlen präsentiert, betrachtet der GNR alle Formen von Fehlernährung. Dabei nutzt er für seine Analysen keine selbst erhobenen Daten, sondern greift auf Daten von UN-Organisationen wie die FAO und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zurück.

Ausmaß von Fehlernährung ist schockierend    

Die Gesichter einer unzureichenden oder schlechten Ernährung sind vielfältig. Fehlernährung ist noch immer die häufigste Ursache für Tod und Krankheiten weltweit, unterstreicht der Bericht. Sie kann zu extremen und entgegengesetzten Zuständen führen: Hunger und Unterernährung, Mangel an Mikronährstoffen, oder Krankheiten wie Fettleibigkeit, Diabetes und Krebs.

Unterernährung ist Fehlernährung in ihrer extremsten Form – sie rührt von einer unzureichenden Aufnahme von Kalorien. Weltweit ist jeder neunte Mensch unterernährt. Seit 2015 steigt die Zahl nach einem längeren Rückgang wieder an, besonders in Subsahara-Afrika, West-Asien und Lateinamerika. Häufig spielen dabei bewaffnete Konflikte eine Rolle, aber auch extreme Wetterereignisse infolge des Klimawandels. In der gleichen Welt, in der 820 Millionen Menschen hungern, leidet inzwischen jeder dritte Mensch an Übergewicht oder Fettleibigkeit. Und diese Gruppe wächst kontinuierlich in den vergangenen zwei Jahrzehnten.

In irgendeiner Form gibt es Fehlernährung in jedem Land, nach geografischen Regionen sind die Ausprägungen aber unterschiedlich. Unterernährung herrscht in den ärmsten Ländern vor. Dort ist die Rate von Untergewicht laut dem GNR bis zu zehn Mal höher als in reicheren Ländern. Übergewicht und Fettleibigkeit hingegen dominieren in wohlhabenderen Staaten, wo die Verbreitung bis zu fünf Mal höher ist als in armen Ländern. Sie sind aber auch in armen Ländern auf dem Vormarsch. Nicht selten treten dort Unter- und Übergewicht gemeinsam auf, häufig sogar in ein und derselben Familie. Man spricht dann von einer „doppelten Last“ der Fehlernährung (double burden of malnutrition).

 

Drei Farben, drei Eigenschaften: Bei einem Ernährungscamp in Indien sind die Nahrungsmittel auf der Landesflagge nach Wachstum, Energiequelle und Immunsystem sortiert. © Rommel / Welthungerhilfe

Schlechte Ernährung: kein Ergebnis persönlicher Entscheidungen

Ausschlaggebend für die Anfälligkeit für Fehlernährung sind verschiedenesoziodemographische Merkmale: Herkunft, Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit, Bildungs- und Wohlstandsgrad bestimmen die Wahrscheinlichkeit einer Fehlernährung ebenso wie die Staatsangehörigkeit: Ist ein Land reich oder arm, wirtschaftlich und sozial einigermaßen stabil, oder Schauplatz von Konflikten? Diese Umstände beeinflussen, wie groß die Gefahr von Fehlernährung unter der Bevölkerung ist.

Weil es indes zu kurz greift, lediglich die Gesamtbevölkerung eines Staates zu betrachten, untersucht der diesjährige Bericht erstmals die Ungleichheiten zwischen und innerhalb von Gesellschaften. Die Autoren appellieren, diese Zusammenhänge entschiedener anzugehen, um dem Versprechen „niemanden zurückzulassen“ Rechnung zu tragen. Ihre wichtigste Botschaft lautet: Diese Ungleichheiten sind kein Produkt von Zufällen, sie existieren nicht einfach so, sondern haben ihre Wurzeln in Systemen und Prozessen, die das tägliche Leben bestimmen und diese Ungleichheiten fortbestehen lassen.

So ist schlechte Ernährung, die zu Fehlernährung führen kann, nicht das Ergebnis von persönlichen Entscheidungen, sondern meist eine Frage von Zugang und finanziellen Möglichkeiten, betont der Report. Zugang zu gesunder Ernährung und guter Gesundheitsversorgung, ein Leben in einer gesunden, sicheren Umgebung – das sind Faktoren, die über den Ernährungszustand von Menschen entscheiden. Nicht zufällig sind Frauen, ethnische Minderheiten und arme Familien laut GNR überproportional stark von Fehlernährung betroffen.  Wie verfügbar gesunde Nahrung ist, hängt eng mit der gesellschaftlichen Stellung zusammen.

 

Eine Mutter von vier Kindern in Afghanistan. Sie hat gelernt, Gemüse einzumachen, und damit ihren Lebensstandard erhöht. © Glinski / Welthungerhilfe

Nährstoffreiche Nahrungsmittel wie Gemüse, Obst, Eier oder Milch können sich beispielsweise arme Familien häufig gar nicht leisten.  Kartoffeln, Reis und Maniok machen sie vielleicht satt, enthalten aber zu wenig Vitamine und Mineralstoffe, um eine gesunde Entwicklung zu ermöglichen. Stark verarbeitete Lebensmittel mit einem hohen Fett-, Zucker-, oder Salzgehalt – wie Kekse oder Chips – sind hingegen heute in jedem noch so kleinen Dorf der Welt erhältlich, und das zu sehr niedrigen Preisen. Dieser Umstand erklärt auch, wieso der Anteil an übergewichtigen Menschen in vielen armen Ländern steigt.

Schieflage im Ernährungssystem

Auch ungleiche Bedingungen bei der Produktion von Nahrungsmitteln ergeben eine Schieflage in unserem Ernährungssystem.  Der Fokus globaler landwirtschaftlicher Produktion liegt auf einigen wenigen Getreidesorten (Reis, Weizen, Mais), deren Anbau – wie der Bericht hervorhebt – über Forschungs- und Landwirtschaftsetats teils stark subventioniert wird. Dadurch werden nährstoffreichere Kulturpflanzen wie Hirse, Hülsenfrüchte oder Gemüse von den Äckern verdrängt. Stark verarbeitete Lebensmittel wie fettige Snacks und gesüßte Getränke basieren auf häufig subventionierten Inhaltsstoffen, wie raffinierter Stärke und Zucker und können deshalb kostengünstig produziert werden.

Dagegen werden Anbau, Lagerung, Weiterverarbeitung, Transport und Vermarktung von Obst und Gemüse bisher kaum öffentlich gefördert und bleiben so für viele Menschen unerschwinglich. Diese in dem Bericht kritisierte einseitige Konzentration auf energiereiche, aber wenig nahrhafte Nahrungsmittel führt tatsächlich in eine Sackgasse. Sie wird das globale Ernährungsproblem nicht lösen, sondern eher noch verschlimmern.

Die aktuelle Corona-Krise offenbart einmal mehr die Schwachstellen unserer Ernährungs- und Gesundheitssysteme. Eine Transformation dieser Systeme ist überfällig und jetzt mehr denn je von Nöten. Um Fehlernährung nachhaltig entgegenzuwirken, müssen wir alle Ungerechtigkeiten unseres Ernährungssystems angehen – also entlang der gesamten Produktions-, Handels- und Ernährungskette „vom Feld bis auf den Teller“. Die Art und Weise wie wir Lebensmittel produzieren, handeln und konsumieren muss gerechter gestaltet werden. Gesundes, nachhaltig produziertes Essen muss für alle Menschen rund ums Jahr verfügbar und erschwinglich werden – unabhängig von ihrer sozialen Herkunft.

Porträtfoto von Lisa Maria Klaus
Lisa Maria Klaus Policy and External Relations (until 2022)
Schlagworte

Das könnte Sie auch interessieren