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  • Agrar- & Ernährungspolitik
  • 02/2022
  • Nathalie Demel

Ausgewogene Ernährung: Die Weltgemeinschaft hat sich einen Ruck gegeben

Millionen Menschen fehlen wegen chronischem Essensmangel und einseitiger Ernährung wichtige Nährstoffe. In der Coronakrise riefen Weltpolitiker ein "Aktionsjahr" aus. Was wurde daraus?

Von Kind auf: Zu wenig zu essen oder einseitige Ernährung führen zu einem Mangel an Nährstoffen wie Eisen, Jod, Zink oder Vitamin A. © Nesbitt / UNICEF Ethiopia / CC BY-NC-ND via Flickr

Um die Welternährung steht es nicht gut. Zwar wurden in den vergangenen Jahrzehnten Fortschritte in der Hungerbekämpfung gemacht, doch nimmt die Zahl der Hungernden weltweit seit einigen Jahren wieder zu. Noch immer sterben durchschnittlich pro Jahr mehr Kinder an den Folgen von Unter- und Mangelernährung als die Einwohnerzahl von Hamburg und Köln zusammen ­– während die Zahl der Übergewichtigen rasant steigt. Millionen Kinder leiden unter dauerhaften geistigen Entwicklungsschäden oder anderen lebenslangen gesundheitlichen Einschränkungen, die durch Mangelernährung – vor allem auch versteckten Hunger – hervorgerufen wurden.

Wohl hatte die Weltgemeinschaft es seit 2000 geschafft, die Verbreitung von Wachstumsverzögerungen bei Kindern um etwa ein Drittel zu senken. Aber der gezielte Einsatz für eine gesunde, ausgewogene Ernährung wurde über Jahre vernachlässigt. Vor allem die ernährungsanfälligsten Gruppen, junge Frauen im gebärfähigen Alter, Neugeborene und Kleinkinder in ihrer entscheidenden Entwicklungsphase, wurden im Stich gelassen. Fünf der sechs globalen Ernährungsziele sind heute außer Reichweite. Nun werden die Ernährungs- und Gesundheitssysteme durch Engpässe aufgrund der  COVID-19-Pandemie zusätzlich belastet. Die Situation verschlimmert sich besonders in Ländern mit verbreiteter Mangelernährung. Experten sagen voraus, dass bei Kindern bis Ende 2022 weitere 13,6 Millionen Fälle von Auszehrung, der tödlichsten Form der Unterernährung, auftreten werden. Nach dem jüngsten Welternährungsbericht waren es vor der Pandemie schon mehr als 45 Millionen.

Umso größer waren die Hoffnungen, dass von dem ‚globalen Aktionsjahr 2021 für Ernährung‘ eine neue Dynamik ausgehen würde. Am Anfang stand der Aufruf einiger besonders für Ernährung engagierter Staaten und UN-Organisationen für eine breitere Mobilisierung aller Akteure – Regierungen, Zivilgesellschaft, Forschung und Privatwirtschaft – mit dem Ziel, die zu befürchtenden schweren Rückschläge durch Covid-19 so gering wie möglich zu halten. Abschluss und Höhepunkt bildete der "Nutrition for Growth" (N4G) Gipfel am 8. Dezember in Tokio. Zum dritten Mal seit 2013 kamen die Akteure zusammen, um dem globalen Kampf gegen Mangelernährung mit neuen Verpflichtungen, konkreten Zielen und finanziellen Zusagen Aufwind zu geben.

Das Aktionsjahr 2021 – was hat es gebracht?

Der Gipfel stand am Ende einer ganzen Serie politischer Schlüsselereignisse des Jahres 2021 mit dem übergeordneten Ziel, dass sich jetzt und in Zukunft alle Menschen angemessen ernähren können. Bei allen ging es darum, Strategien für die immer dringlichere Herausforderung unserer globalen Ernährungskrise und nachhaltige, durchschlagende Lösungen zu finden.

Bereits im Mai beschlossen die G7-Staaten unter britischer Führung den Famine Pevention Compact, um akute Hungernöte abzuwenden. Im August unterzeichneten die Außen- und Entwicklungsminister der G20-Staaten die Matera-Erklärung, die richtige und wichtige Elemente für eine umfassende Agenda zur Bekämpfung der weltweiten Ernährungsunsicherheit enthält. Der als ‚People’s Summit‘ konzipierte UN-Gipfel zu Ernährungssystemen sorgte über mehrere Monate für globale Aufmerksamkeit und breite Beteiligung auf verschiedensten Ebenen. Ausgerufen von UN-Generalsekretär António Guterres ging es um nicht weniger, als ein in dramatische Schieflage geratenes globales Ernährungssystem gerecht, nachhaltig und krisenfest zu machen. Am Ende war die Bilanz ernüchternd – auch aufgrund der fehlenden Verbindlichkeit und Rechenschaftspflicht.

Mangelnde Vielfalt in den Mahlzeiten ist neben schlechten Hygienebedingungen und fehlendem Wissen von Müttern in der Betreuung ihrer Kinder eine der Hauptursachen von Unterernährung. © Arijit Sen / Welthungerhilfe

Der um ein Jahr auf Dezember 2021 verschobene N4G-Gipfel zielte anders als der breit aufgesetzte UN-Ernährungssystemgipfel explizit auf Verpflichtungen zur Verbesserung der Ernährungssituation. Erwartet wurden politische, aber auch finanzielle Zusagen auf Regierungsebene. Ob der Gipfel nach all den vorangegangenen und Kräfte bindenden Ereignissen dafür die nötige Aufmerksamkeit erhalten würde, stand lange infrage. Doch bei allen Zweifeln und bleibenden Unwägbarkeiten konnten doch einige Erfolge verbucht werden.

Was Hoffnung macht

Mehr als 27 Mrd. Dollar – eine Rekordsumme und mehr als doppelt so viel wie der deutsche Bundeshaushalt für Entwicklungspolitik 2021 ­– wurden für die globale Ernährung zugesagt. Ein beachtliches Ergebnis in einer Zeit, in der die Gebermüdigkeit groß ist und Regierungen mit der Bekämpfung der Pandemie-Folgen alle Hände voll zu tun haben. Auf großen Applaus stießen die hohen Einzelzusagen der USA (11 Mrd. Dollar über drei Jahre) und der EU (2,5 Mrd. Euro bis 2024). Mit Entwicklungskommissarin Jutta Urpilainen und USAID-Chefin Samantha Power waren zwei bedeutende Akteure außerdem hochrangig vertreten. Es war ein Signal, dass sie im Kampf gegen die weltweite Mangelernährung erneut eine Führungsrolle einnehmen wollen.

Neben den finanziellen Zusagen machten auch die Anzahl und der Umfang der neuen programmatischen und politischen Verpflichtungen Hoffnung. In den Schwerpunktbereichen universale Gesundheitsversorgung, Ernährungssysteme, Resilienz und Rechenschaftspflicht gingen insgesamt 80 Regierungsstellen und Ministerien aus 66 Ländern 224 neue Verpflichtungen ein. Besonders spiegelt sich darin die Bereitschaft von Ländern, in denen Mangelernährung eine große Rolle spielt.

Diese zunehmende Mobilisierung inländischer Ressourcen und verstärkte Priorisierung ist nicht zu unterschätzen, kann sie doch helfen, die steigenden Kosten für notwendige Maßnahmen in diesen Ländern auszugleichen – vorausgesetzt, die Staaten halten sich an ihre Zusagen. So will die DR Kongo ­– eines von zehn Ländern, in denen 60 Prozent aller ausgezehrten Kinder unter fünf Jahren leben ­– jährlich rund 120 Mio. Dollar investieren, um Auszehrung zu behandeln, gegen Untergewicht von Neugeborenen vorzugehen und gesundheitliche Basisversorgung zu stärken. Ein Großteil dieser Länder will außerdem die Umsetzung sektorübergreifender Ernährungsstrategien und entsprechende Koordinierungsmechanismen stärken. Ein Ausdruck der Einsicht, wie zentral ein effektives Zusammenwirken von Agrar-, Gesundheits-, Bildungspolitik und sozialer Sicherheit zur nachhaltigen Verminderung von Mangelernährung ist.

In einer ländlichen Gemeinde in Madagaskar werden wöchentlich Kinder gewogen, die unter schwerer akuter Mangelernährung (SAM) leiden. © Welthungerhilfe

Globale Rechenschaftspflicht

Als eines der wichtigsten Ergebnisse des Aktionsjahres für Ernährung 2021 gilt die Einführung des Nutrition Accountability Framework (NAF), dieweltweit erste unabhängige und umfassende Plattform für Rechenschaftspflicht im Ernährungsbereich. Ihrer Entwicklung zugrunde liegt die Erkenntnis, dass starke Datensysteme, Transparenz und Rechenschaftspflicht von entscheidender Bedeutung sind, damit Zusagen auch in die Tat umgesetzt werden. Rechtzeitig vor dem N4G ging die Plattform in Betrieb, so dass alle neuen politischen, programmatischen und finanziellen Zusagen erfasst und berichtet werden können.

Hier also ist es den am Gipfel beteiligten Akteuren gelungen, eine Ebene globaler Verbindlichkeit einzuziehen. Die Verpflichtungen müssen ‚SMART‘ sein [siehe Box] und sich an den nationalen Ernährungsplänen orientieren. Die Plattform enthält zudem eine Fülle von Anleitungen und Informationen, wie Verpflichtungen am besten formuliert und messbar gemacht werden ­– und regt damit zu mutigen Zielen an. Ein weiterer Schritt zu mehr Rechenschaft ist die zunehmende Akzeptanz des neuen Markers für Ernährungspolitik im OECD-Entwicklungsausschuss (DAC), ein Instrument, durch das Gebernationen nachvollziehbar machen, was sie tatsächlich für ernährungsspezifische und -sensitive Maßnahmen ausgeben.

Nutrition Accountability Framework - Was steckt dahinter?

Der NAF definiert gänzlich neu, wie ernährungsbezogene Verpflichtungen formuliert, registriert, bewertet und berichtet werden sollten. So muss jedes Ziel ‚SMART‘ (Specific, Measurable, Attributable, Relevant, Timebound)  sein. Das heißt, dass es nicht nur spezifisch formuliert, sondern auch mit konkreten Umsetzungsplänen, Finanzierungsquellen und Mechanismen zur Erfolgskontrolle untermauert sein muss. Gleichzeitig wurde darauf geachtet, die Berichterstattung ausgewogen zu gestalten: streng genug, um ein genaues Bild zu vermitteln, jedoch nicht so komplex, dass Länder und Organisationen eine Berichterstattung scheuen. Zum anderen setzt der NAF darauf, dass die Veröffentlichung von Fortschritten und Lücken Anreize zur Verbesserung schafft und durch Anerkennung besonders erfolgreicher Maßnahmen die Akteure ermutigt, jedes Jahr zusätzliche Schritte zu ergreifen.

Nun liegt es an allen Akteuren, den politischen Willen und die notwendigen Ressourcen und Anstrengungen zu mobilisieren, um ihre Zusagen in die Tat umzusetzen. Vor allem nationale Regierungen müssen sich daran messen lassen, ob ihre Pläne und Strategien zu spürbaren, nachhaltigen Verbesserungen für die von Unter- und Mangelernährung am stärksten betroffenen Gruppen führen. Spätestens beim nächsten N4G-Gipfel, der vermutlich 2024 in Paris ausgerichtet wird, gilt es für alle Akteure, ihre Bilanz offenzulegen.

Mitspracherecht jenseits der Gipfel

Ziele und Rechenschaftspflichten mögen auf internationaler Ebene aber noch so gut durchdacht sein: Sollen Vorhaben tatsächlich die Ernährungssituation verbessern, dann ist das „gelebte“ Mitspracherecht von betroffenen Gruppen essenziell für Erfolge. Modelle zur Einbindung lokaler Gemeinden sollten daher Teil sämtlicher sektorübergreifenden Ernährungsstrategien von Ländern sein. Wenn betroffene Gruppen ihre Interessen vertreten, sensibilisiert dies lokale Entscheidungsträger*innen und gewährleistet, dass ernährungsbezogene Informationen eine Priorisierung von Mitteln und Maßnahmen erlauben.

In einem Ernährungsprojekt in Sierra Leone liegen Zutaten zum Kochkurs über nahrhafte und vielfältige Zutaten bereit. © Kai Loeffelbein / Welthungerhilfe

Die Welthungerhilfe hat z.B. in Asien mit Partnerorganisationen nützliche Erfahrungen in Nutrition Smart Communities gesammelt. Mit Unterstützung lokaler Freiwilliger erarbeiten Selbsthilfegruppen oder Gemeindeausschüsse – basierend auf einem Ressourcen-Mapping – Maßnahmen zur Verbesserung ihrer Ernährungslage. Zugleich werden Gemeindevertreter*innen befähigt und angeleitet, eine Führungsrolle in ihrer Gemeinschaft zu übernehmen, mit zuständigen Regierungsstellen in Kontakt zu treten und ernährungsrelevante öffentliche Dienstleistungen im Bereich von Hygiene und Sanitärversorgung, Wasser, Landwirtschaft oder Gesundheit zu planen und zu überwachen.

Wie wirksam und wichtig es ist, auch auf lokaler Ebene ‚Social Accountability‘-Instrumente zu haben, um Pflichtenträger bis auf die nationale Ebene hinauf in die Verantwortung zu nehmen, wird an einem Lehrstück in Indien deutlich. Die Covid-19-Pandemie hat die ohnehin besorgniserregende Situation der Unterernährung von Frauen und Kindern im Bundesstaat Jharkhand noch verschärft. Infolge der Pandemie schloss die Verwaltung die staatlichen Kinderbetreuungszentren in ländlichen Gebieten und schränkte so auch die Versorgung von Kleinkindern sowie von schwangeren und stillenden Frauen mit den so wichtigen nahrhaften Mahlzeiten dieser Zentren massiv ein.

Im ersten Halbjahr 2021 reagierte die ‚Right to Food‘-Kampagne mit einer landesweiten Umfrage zum Versorgungsstatus der Haushalte und stellte die Ergebnisse im Rahmen einer öffentlichen Anhörung vor. Mit durchschlagendem Erfolg: Die nationale Menschenrechtskommission von Indien forderte die Regierung von Jharkhand auf, sofortige Maßnahmen zu ergreifen: Die Leistungen seien gesetzlich durch den nationalen ‚Right to Food Act‘ garantierte Ansprüche. Ihre Verweigerung bedeute somit eine Verletzung des Rechts auf Nahrung für die schwächsten Bevölkerungsgruppen. Als weiteres Ergebnis des öffentlichen Dialogs wurde die ‚Right to Food‘-Kampagne von der Regierung eingeladen, an der Erarbeitung des neuen Haushaltsentwurfs für Ernährungssicherung mitzuwirken.

So hat das Aktionsjahr "Nutrition" sicherlich die Aufmerksamkeit gebündelt und wichtige Impulse gebracht. Gerade in Krisenzeiten bleibt jedoch oberstes Gebot: Bei allen globalen Verpflichtungen ist es die primäre Aufgabe von Staaten, das Recht auf Nahrung zu achten, zu schützen und zu gewährleisten. Als Rechteinhaber*innen verdienen daher vor allem die am stärksten von Hunger und Mangelernährung betroffenen Gruppen echte Beteiligungsmöglichkeiten, damit sie Programme und Politiken mit ihren Anliegen beeinflussen und Regierungen in die Verantwortung nehmen können.

Nathalie Demel Policy & External Relations

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