Zu Resilienz befähigen: Was macht informelle Akteure weniger verwundbar?
Wir wissen zu wenig über Ernährungssysteme in weniger entwickelten Ländern. Vor allem der krisenanfällige Mittelbau zwischen Produktion und Konsum ist unzureichend analysiert.
In Ländern mit niedrigen oder mittleren Einkommen (LMICs) ist Ernährungsunsicherheit auf der lokalen Ebene (von einzelnen Haushalten bis zu Bezirken) zum größten Teil die Folge zweier sich gegenseitig verstärkender Faktoren. Zum einen sind dies strukturelle Defizite - in diesen LMICs arbeiten Kleinerzeuger und Nahrungsmittelanbieter üblicherweise unter sehr schwierigen Bedingungen. Dazu zählen unzureichende Infrastruktur, also Mängel bei Straßen, der Stromversorgung, der Bewässerung und der Großmärkte für den Absatz von Gütern. Die Erzeuger sind geographisch und wirtschaftlich abgeschnitten, ihnen fehlen die Möglichkeiten, sich wirtschaftlich zu entwickeln. Und es fehlt am Zugang zu Dienstleistungen wie Fortbildungen, Kredit, oder zu Produktionsmitteln. Sie sind sehr stark von den Wetterbedingungen abhängig.
Der zweite Faktor sind zusätzliche Schocks und Stressfaktoren. Das sind lokale oder großflächige Ereignisse wie Dürren oder Überschwemmungen. Aber auch Korruption, lokale Unsicherheit und jahreszeitliche Straßenunterbrechungen gehören dazu. Sie alle behindern die Akteure in den lokalen und regionalen Nahrungslieferketten, also die Produzenten, die Einzelhändler und die Lieferanten, und sie reduzieren ihre Effektivität. Üblicherweise wird dann die Versorgung mit Nahrungsmitteln faktisch oder wirtschaftlich unterbrochen, und es kommt zu Knappheiten, Verlusten oder Preisschwüngen sowohl auf dem Land als auch in den Städten. Kurz- oder langfristig führt dies zu akutem oder chronischen Hunger und Fehlernährung.
Das ist der Kontext. Bei solchen Voraussetzungen kommt es also darauf an, besser zu verstehen, was lokale Ernährungssysteme resilienter gegen diese verschiedenen Formen von Schocks macht, damit wir Ernährungsunsicherheit reduzieren und die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) voranbringen können.
Informelles Umfeld
Was wissen wir über Ernährungssysteme (und ihre Resilienz) in Ländern mit niedrigen bis mittleren Einkommen? Die Ernährungssysteme in LMIC nutzen nicht nur vielen der ärmsten Menschen, sie werden auch von ihnen getragen. Zu den Produzenten gehören die große Mehrheit der Kleinbauern, Hirten und Fischer in diesen Ländern, die Grundnahrungsmittel, Früchte und Gemüse erzeugen, wilde und domestizierte Viehherden aufziehen, hüten oder mit ihnen handeln. Diese Produzenten verkaufen ihre Waren üblicherweise auf lokalen und regionalen Märkten über nicht immer, aber meist informelle Zwischen- und Großhändler, Mittelsmänner oder Genossenschaften.
Am anderen Ende der Versorgungskette ist auch der Verkauf informell geprägt, sowohl in der Form (Bauernmärkte, Straßenverkauf, kleine Geschäfte) als auch in der Abwicklung mittels informeller Abmachungen und Verträge. Die Mehrheit der ländlichen und städtischen Bevölkerung in den LMICs ist auf diese lokalen Ernährungssysteme angewiesen. Ein großer Anteil dieser Bevölkerung lebt in informellen Wohnverhältnissen unter oder nahe der Armutsgrenze und muss mehr als die Hälfte des Einkommens für Nahrung ausgeben. Daher sind die lokalen Versorger oft die einzige Quelle bezahlbarer und nahrhafter Lebensmittel auf dem Land wie in den Städten.
Leider sind gerade die Mitglieder der genannten Gruppen besonders anfällig für Schocks. Dies liegt vor allem am geringen Umfang ihrer Tätigkeiten, dem Fehlen einer Absicherung durch ein soziales Sicherungsnetz oder Versicherungen und an zu geringen Umsätzen und Rücklagen. Diese Lage wird oft noch durch ihre wirtschaftliche Marginalisierung und in manchen Fällen durch Diskriminierung und Angriffe verstärkt. Ein wichtiger Faktor ist auch, dass in der Mehrheit Frauen diese Systeme tragen, die Kontrolle aber durch Männer ausgeübt wird. Es gibt zu wenig gesetzlichen Arbeitsschutz, was der Ausbeutung, Zwangs- und Kinderarbeit sowohl in der landwirtschaftlichen Produktion wie bei der Verarbeitung zuträglich ist.
Was verstehen wir unter Resilienz von Ernährungssystemen?
In der Literatur finden wir unterschiedliche Definitionen von Resilienz, je nachdem, um welchen Bereich es geht. In der Sphäre der humanitären und Nahrungsmittelhilfe sind mehrere Definitionen und verbundene Begriffe sowohl unter akademischen wie praktischen Akteuren weitgehend etabliert. Zwar unterscheidet sich die Wortwahl geringfügig, aber die Botschaft ist im wesentlichen die gleiche: Im Kontext der Programme für humanitäre Hilfe und Nahrungssicherung bedeutet Resilienz die Fähigkeit von Individuen oder Gruppen, mit unerwarteten Widrigkeiten so umzugehen, dass das langfristige Wohlergehen oder Funktionieren nicht negativ beeinflusst wird.
Auf Ernährungssysteme bezogen heißt das, dass eine (lokale) Nahrungsversorgung als resilient betrachtet werden kann, wenn die an ihm Beteiligten einen Schock verkraften können, ohne dass ihre zwei wesentlichen Funktionen beeinträchtigt werden: die Produktion und Verteilung von Nahrung an die, die auf sie angewiesen sind – und die Generierung des Lebensunterhaltes und Einkommens für die, die wirtschaftlich das System am Laufen halten, also Produktion, Transport, Groß- und Einzelhandel.
Will man dazu noch Nachhaltigkeit bis zu einem gewissen Grad berücksichtigen, kann man von einem nachhaltigen Ernährungssystem sprechen, wenn das System auch unter der Einwirkung eines spezifischen Schocks weiter in der Lage ist, nahrhafte, sichere und bezahlbare Nahrungsmittel auf eine Weise bereitzustellen, die Umweltkriterien einhält und zugleich vernünftige wirtschaftliche Erwerbschancen für die lokale Bevölkerung bietet.
Ernährungsresilienz besser verstehen
Gegenwärtig wissen wir wenig über Resilienz von Ernährungssystemen. Dies liegt zum Teil daran, dass Resilienz stets schwierig zu quantifizieren ist, denn es ist eine latente Variable, die nicht direkt beobachtet oder gemessen werden kann – im Gegensatz etwa zu Einkommen, Mangelernährung oder Grundbesitz. Aber wir müssen die Widerstandskraft selbst nicht messen, um Maßnahmen entwerfen oder durchführen zu können, die Resilienz von Ernährungssystemen steigern. Hier sind drei Elemente dessen, was wir „Resilienzanalyse“ nennen und worauf Praktiker, Wissenschaftler und die Politik sich stützen können, wenn sie die Resilienz von Ernährungssystemen und ihren Beitrag zu den SDGs verbessern wollen.
1. Verwundbare Akteure und Wertschöpfung erkennen
Wir wissen bislang wenig über die „verborgene Mitte“ von Ernährungssystemen – also den Bereich zwischen Produktion und Konsum. Die Forschung hat sich vor allem auf diese beiden Pole beschränkt. Es ist jedoch wichtig, den formalen und informalen Akteuren des Zwischenbereichs mehr Aufmerksamkeit zu widmen, ebenso wie den Faktoren, die diese Akteure durch Störungen und Schocks verwundbar machen.
Woher rührt in Ländern mit geringen Einkommen die Verletzlichkeit von Akteuren wie Verarbeitern, Händlern oder Straßenverkäufern, die Empfindlichkeit von Waren wie Früchten oder Gemüse, von Vermarktungsmöglichkeiten oder Wertschöpfungsketten etwa bei der Viehzucht? Welcher Art sind diese Empfindlichkeiten? Waren können verderben, rechtliche Sicherheit mag nicht gegeben sein, wirtschaftliche oder politische Marginalisierung liegt vor, Geschlechter werden ungleich behandelt, Preise schwanken. Der informelle Sektor ist „unsichtbar“ – zu wissen, was davon zutrifft, wäre wichtig, um Eingriffe oder politische Maßnahmen zur Förderung der Resilienz von Ernährungssystemen zu entwerfen.
2. Fähigkeit zur Resilienz besser verstehen
Ein wichtiges Element ist auch, was Menschen zu Resilienz befähigt – also die Mittel, die ihnen zur Verfügung stehen, um auf Schocks zu reagieren. Haushalte verfügen über soziales, humanes, finanzielles, natürliches, körperliches oder geistiges Kapital, oder sie entwickeln es in krisenfreien Zeiten, und können es dann in Vorbereitung auf oder als Reaktion auf Schocks mobilisieren. Wir verstehen inzwischen schon viel besser, was bestimmte Gruppen, wie etwa Bauern, in solchen Situationen benötigen. Aber wir wissen kaum etwas über die Lage der wenig sichtbaren Akteure „in der Mitte“. Es werden kaum Daten über ihre Widerstandsfähigkeit erfasst. Erst dann könnte ihnen wirksam geholfen werden.
3. Reaktionen und indirekte Folgen berücksichtigen
Resilienzanalyse basiert vor allem darauf, dass nicht allein die direkte Auswirkung eines Schocks entscheidet, in welche Lage Individeen, Haushalte, Unternehmen, Sektoren oder das gesamte System geraten. Auch die weiteren indirekten Auswirkungen eines Schocks sind zu berücksichtigen. Die betrüblichen Erfahrungen mit den Folgen der Covid-19-Pandemie für Ernährungssysteme illustrieren dies nur zu deutlich: Die Ernährungssicherheit und das Wohlergehen von Millionen Menschen weltweit ist nicht durch das Virus (der ursprüngliche Schock) bedroht, sondern aufgrund von Unterbrechungen der Nahrungslieferungen, der Handelsbeziehungen und wegem geringerer Erwerbsmöglichkeiten nach Bewegungsbeschränkungen und Lockdowns, die Regierungen zur Abwehr der Pandemie anordneten.
Es ist also notwendig, die Reaktionen der unterschiedlichen Akteure gründlicher zu dokumentieren und zu analysieren, die auf Ereignisse wie Sturmfluten, politische Umstürze oder von Tieren ausgehende Epidemien folgen. Das gilt auch für Auswirkungen dieser Reaktionen auf andere Beteiligte. Dies ist ein dritter wichtiger Schritt beim Aufbau künftig resilienterer Ernährungssysteme. Wenn wir die Motive und das Verhalten der Akteure und ihre Reaktionen auf widrige Ereignisse besser verstehen, stärken wir unsere Voraussicht, mit welchen Schritten wir die negativen Folgen mancher fehlgeleiteter Reaktionen abmildern können.
Aufbau resilienter Ernährungssysteme – erste Schritte
Ein tieferes Verständnis der unterschiedlichen Ursachen von Verletzlichkeit, der Fähigkeit zur Resilienz und der Reaktionen der Akteure ist der beste Weg, um die Resilienz von Akteuren in Ernährungssystemen zu steigern. Wir wissen aus Feldforschungen in Nordnigeria, das vor allem häufige Stromausfälle und schlechte Straßen die Ursache für Unterbrechungen bei der Nahrungsversorgung in den städtischen Zentren der Region sind – und nicht, wie zuerst vermutet, mangelnde Sicherheit der Transportwege. Daher erscheinen für diesen Teil Nigerias Investitionen in die Infrastruktur als der beste Weg zur Förderung der Resilienz der Nahrungsversorgung.
In anderen Fällen ist es vordringlich, die Fähigkeiten der Akteure zur Resilienz zu verbessern. In Papua-Neuguinea können die Lieferanten und Händler von Gemüse für die Märkte in der Hauptstadt Port Moresby die plötzlichen Ausfälle beim Nachschub aus dem Hochland nicht ausgleichen. Deswegen müsste man für sie mehr Lieferquellen in den dortigen Dörfern erschließen. Vielfältigere Lieferquellen und -wege sind ein probates Mittel zur Steigerung der Resilienz.
Ein drittes Beispiel unterstreicht die Bedeutung von Selbstwertgefühl und Selbstständigkeit von Akteurinnen: Die Frauen, die im Schwemmland des Flusses Kafue in Sambia Fisch verarbeiten, sind im Fall von Nachschubschwierigkeiten gezwungen, Fischern Sex im Tausch gegen deren Fang anzubieten. Die Beispiele zeigen, dass höchst unterschiedliche Maßnahmen erforderlich sein können, um Resilienz zu fördern.
Wir müssen besser darin werden, lokale und nationale Ernährungssysteme widerstandsfähiger zu machen. Nur dann können wir den Kampf gegen die Auswirkungen der häufiger und heftiger werdenden Folgen des Klimawandels oder von Naturkatastrophen und vergleichbaren Schocks wirksam führen. Unsere Kenntnisse über die lokalen Ernährungssysteme sind aber bisher begrenzt und fragmentiert. Schon einige grundlegende Analysen der Anfälligkeiten sowie der Reaktionen und Abwehrfähigkeiten, auf die Akteure bei auftretenden Schocks zurückgreifen, würden sehr viel helfen, um unsere Werkzeuge zu schärfen, mit denen wir sie unterstützen können. So stärken wir die Fähigkeiten der Systeme, für Ernährungssicherheit zu sorgen und würdige Erwerbsmöglichkeiten zu schaffen.