Willkommen im Klub! Brasilien gründet die neue G20-Allianz gegen Hunger und Armut
Ist das Bündnis nur eine weitere von zahlreichen Initiativen? Oder ist sie Kampf- und Konkurrenzansage des Globalen Südens? Einblicke in Brasiliens politisches Profilierungsprojekt.
Gibt es noch einen gemeinsamen Nenner, auf den sich die wichtigsten Staatschefs weltweit einigen können? Die gute Nachricht lautet: Ja, der Kampf gegen Hunger und Armut ist ein solcher. Zumindest auf dem Papier.
Dieses Bekenntnis hat Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva den Staatschefs der wichtigsten Industrie- und Schwellenländer beim jüngsten G20-Gipfel Ende November in Rio de Janeiro abgerungen. Lula brachte 88 Länder und 67 Organisationen dazu, sich der neuen globalen Allianz gegen Hunger anzuschließen. „733 Millionen Menschen auf der Welt leiden Hunger“, erklärte er in seinem Eröffnungsstatement. In einer Welt, die jährlich fast sechs Milliarden Tonnen Lebensmittel produziert, ist dies nicht hinnehmbar. Wir, die wir hier an diesem Tisch sitzen, haben die unausweichliche Aufgabe, dieser Geißel, die die Menschheit beschämt, ein Ende zu setzen.“
Eine Allianz mit Russland und der Ukraine
Unter den Teilnehmern des G20-Gipfels befanden sich die größten Getreideproduzenten weltweit: China, USA, Indien, Russland und Brasilien. Sie alle unterzeichneten Beitrittsstatements, in denen sie sich zum Kampf gegen Hunger und Armut verpflichten – weltweit und in ihrem eigenen Land. Die Ukraine, die auch führend ist im Getreideanbau, trat der Allianz ebenfalls bei, auch wenn sie nicht auf dem Gipfel in Rio vertreten war.
Nicht Mitglied sind bisher unter anderem Nordkorea, Libyen, Israel, Iran, die Demokratische Republik Kongo, Simbabwe, Syrien und Afghanistan. Die letzten vier Länder gehören zu den insgesamt 59 Staaten weltweit, in denen die Bevölkerung laut dem Globalen Netzwerk gegen Ernährungskrisen (Global Network Against Food Crises, GNAFC) an Hunger leidet.
Russland, das durch den Angriff auf die Ukraine seit 2022 – und der Blockade von Getreideausfuhren – zur wachsenden weltweiten Hungerkrise beigetragen hat, erklärte in seiner Beitrittserklärung unter anderem: „Die Koordination beim Kampf gegen Hunger ist dringend notwendig. Deswegen befürwortet Russland die Globale Allianz gegen Hunger und Armut und ihre Mission.“ In der Erklärung bot der Kreml internationale Kooperation bei der Anpassung von Agrarwirtschaft an den Klimawandel an. Die Analysen des Eurasischen Zentrums für Ernährungssicherheit an der Lomonosow Universität in Moskau über die wichtigsten Veränderungen von Ernteerträgen durch den Klimawandel könnten interessierten Ländern zur Verfügung gestellt werden.
Rezepte aus dem „Politikkorb“
Gastgeber Brasilien verwies auf seine erfolgreichen Programme für Transferleistungen, Schulspeisungen und die Förderung der kleinbäuerlichen Landwirtschaft. Diese haben dazu beigetragen, dass das Land ab 2014 nicht mehr auf der sogenannten Landkarte des Hungers der Welternährungsorganisation erschien. 2022, nach dem Ende der Coronapandemie, tauchte es allerdings wieder in der Liste auf.
Genau darum geht es bei der neuen Initiative: In einem sogenannten Politikkorb, "Policy Basket", soll das Wissen und die Projekte, die sich bei der Politik gegen Hunger und Armut bewährt haben, zusammengetragen und weitergegeben werden. Bis 2030 sollen so 500 Millionen Menschen durch Geldtransfers und Sozialversicherungssysteme aus der Armut geholt werden.
Geld zur Finanzierung der Programme spielt eine, aber nicht die entscheidende Rolle. Brasilien will Aufbau und Organisation der Initiative bei der Welternährungsorganisation FAO anschieben. Die Interamerikanische Entwicklungsbank (IDB) hat 25 Mrd. Dollar für die Finanzierung von Projekten der Initiative zugesagt. Und EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen kündigte ebenfalls einen europäischen Beitrag an.
Selbstbewusster Süden
Wenn verfeindete Staaten wie Russland und die Ukraine, die gegeneinander Krieg führen, sich in einer globalen Allianz gegen Hunger zusammenschließen, bedeutet dies dann einen echten Durchbruch? Kann die neue Initiative wirklich einen Beitrag zur Verringerung von Hungersnöten leisten, die durch Kriege und Klimakrisen wieder zugenommen haben? Oder ist die neue Allianz gar eine Art Kampfansage des sogenannten Globalen Südens an die bisherige internationale Armutsbekämpfung?
Lin Hua, Forscherin am Institut für Lateinamerikastudien der Chinesischen Akademie der Sozialwissenschaften, deutet dies in einem Beitrag für das Chinesische Zentrum zur globalen Armutsbekämpfung (IPRCC) an. „Obwohl sich China und Brasilien in unterschiedlichen Stadien der Armutsbekämpfung befinden, arbeiten beide Länder auf ihre Weise aktiv an der Beseitigung von Armut und Hunger zum Wohle ihrer Bevölkerung", heißt es dort. Das stelle "nicht nur ein Beispiel für die Armutsbekämpfung im Globalen Süden dar, sondern bildet auch die Grundlage für Veränderungen im internationalen System der Armutsbekämpfung".
Der Austausch von Erfahrungen und die Zusammenarbeit zwischen China und Brasilien werde nicht nur beiden Ländern zugutekommen, ist die Expertin überzeugt. Er wirke sich vielmehr auch positiv auf die weltweite Bekämpfung von Hunger und Armut aus und könne die Innovation vorantreiben.
„Ergänzung für bestehende Vorhaben“
Verhalten optimistisch gibt sich dagegen Martin Frick, Direktor des World Food Programs (WFP) in Deutschland: „Wir freuen uns, dass durch die brasilianische G20-Initiative die globale Hungerkrise auf der politischen Agenda bleibt“, erklärte er gegenüber dem Fachjournal Welternährung. „Als größte humanitäre Organisation sind wir Gründungsmitglied dieser Plattform und bringen unsere über 60-jährige Expertise ein.“
Zwar müsse jede Initiative letztlich an ihrem Erfolg gemessen werden, so Frick. Aber: „Getragen von einer Allianz betroffener Staaten kann Brasiliens Idee bestehende Vorhaben glaubhaft ergänzen", meint der WFP-Direktor. "Da macht es Sinn, dass das Land auch Ausrichter der nächsten Klimakonferenz COP30 ist, denn der Kampf gegen Hunger und Klimakrise muss zusammengedacht werden, will man bis 2030 noch das Ruder Richtung der vereinbarten UN-Nachhaltigkeitsziele herumreißen.“
Die UN-Welternährungsorganisation (FAO), bei der die neue Allianz angesiedelt ist, ist noch mit organisatorischen Fragen beschäftigt. „Die Allianz ist gerade gegründet worden, es ist noch zu früh für die Umsetzung von Maßnahmen,“ stellt FAO-Mitarbeiter Christopher Emsden auf Anfrage klar. Die Allianz müsse als eine Art Sammelumschlag betrachtet werden, bei der Anfragen eintreffen, gebündelt und dann weitergeleitet würden.
Vorreiter und Vorbild China
Für eine solche „Weiterleitung“ kommen viele Organisationen in Frage, denn es existieren bereits zahlreiche globale Allianzen gegen Hunger und Armut. Zu den bekanntesten Akteuren gehört neben der FAO in Rom und dem erwähnten WFP das Global Network Against Food Crises (GNAFC). Dessen Partner, das Bündnis für Globale Ernährungssicherheit, das 2022 im G7-Kreis von Entwicklungsministerin Svenja Schulze nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine gegründet wurde, wird der neuen G20-Allianz zugeschlagen. Die Ergebnisse der von der Weltbank unterstützten Arbeit werden übergeben, so Schulze, darunter Vorsorgepläne und Koordinierungs-Tools für zahlreiche Länder auf der ganzen Welt, die künftige Hunger-Schocks vermeiden sollen.
Weitere wichtige Player sind die Mo Ibrahim Foundation und das Afrikanische Zentrum für Nachhaltigkeitsziele (SDG Center for Africa). Und natürlich Chinas Institut für globale Bekämpfung von Armut (International Poverty Reduction Center in China/IPRCC). Auf der Seite im Netz heißt es ganz ohne Bescheidenheit: „Chinas Erfolgsgeschichte ist der Beweis dafür, dass Entwicklungsländer Armut beseitigen können, wenn sie dieses Ziel hartnäckig und mit Ausdauer verfolgen. Wenn China es schafft, können es andere Entwicklungsländer auch erreichen.“
Auf dem afrikanischen Kontinent gilt der Aufstieg des kommunistischen Schwellenlandes als Erfolgsbeispiel schlechthin. „Chinas Fähigkeit, ausreichend Getreide zu produzieren, um seine 1,4 Milliarden Menschen zu ernähren, wird als einer der Hauptgründe dafür angesehen, dass es dem Land gelungen ist, die Ernährungsunsicherheit zu bekämpfen“, erklärt Nathalie Delapalme, Direktorin der Mo Ibrahim Stiftung gegenüber Welternährung.
Die Stiftung des britisch-sudanesischen Telekommunikationsunternehmers setzt sich für gute Regierungsführung und Leadership in Afrika ein. Der von der Stiftung herausgegebene Ibrahim Index of African Governance (IIAG) liefert mit die genauesten Statistiken und Daten zur Lage auf dem afrikanischen Kontinent.
Hoffnung und Verzweiflung in Afrika
Im Gegensatz zu China, das laut Regierungsangaben 2021 die „absolute Armut komplett besiegt“ und 800 Millionen Menschen durch Sozialprogramme aus der extremen Armut befreit hat, herrschen in vielen Ländern Afrikas weiterhin extreme Armut und Hungersnot.
„Die Ernährungssicherheit war 2023 für 77,5 Prozent der Bevölkerung des Kontinents schlechter als 2014, die allgemeine Sicherheitslage für 78 Prozent der Bevölkerung schlechter“, heißt es in dem vor kurzem veröffentlichten Index der Stiftung IIAG 2024. „Dies ist ein zentraler Teufelskreis, denn bewaffnete Konflikte und anhaltende Unsicherheit sind die Hauptursachen für Ernährungsunsicherheit.“
Doch es gab auch positive Entwicklungen. So konnten laut dem Index 27 von 54 Ländern ihre Leistung beim Indikator „Armutsbekämpfungspolitik“ zwischen 2014 und 2023 verbessern. Die fünf Länder mit den größten Fortschritten waren Côte d'Ivoire (+16,0), Somalia (+16,0), Togo (+7,9), Eswatini (+7,2) und Guinea (+7,2).
Für die Stiftungsdirektorin Delapalme liegt der Schlüssel zum Erfolg in der internationalen Kooperation und der Stärkung der Landwirtschaft. „Es ist von entscheidender Bedeutung, Brücken zwischen Landwirtschaft, Klima und Politik zur Konfliktlösung zu bauen“, erläutert sie. Den afrikanischen Kontinent sieht sie trotz vielfältiger Krisen beim Thema Ernährungssicherheit in einer Schlüsselrolle. „In einer globalisierten Welt, in der der Nahrungsmittelbedarf ständig steigt und die landwirtschaftliche Produktion schrumpft, hat Afrika mit seinem Reichtum an biologischer Vielfalt und noch nicht kultiviertem Ackerland das Potenzial, ein wichtiger Akteur zu werden“, ist sie sicher.
Weniger Getreide, mehr Hunger
Die Prognosen sinkender Getreideproduktion lösen derzeit weltweit Besorgnis aus. Nach Schätzungen des Internationalen Getreiderates (IGC) deutet „das globale Gesamtangebot und die Nachfrage nach Getreide (Weizen und Grobgetreide) für 2024/25 auf eine weitere Verschärfung der Aussichten hin“. Der Grund: Die Nachfrage steigt, die Produktion geht zurück.
Laut IGC betrug die Prognose für die weltweite Getreideproduktion 2024/2025 im November dieses Jahres 2,311 Milliarden Tonnen. Im Oktober waren es noch 2,314 Milliarden Tonnen, was einen Rückgang von über vier Millionen Tonnen bedeutet. Gleichzeitig steige der erwartete Konsum im gleichen Zeitraum von 2,328 auf 2,332 Milliarden Tonnen.
WFP-Direktor Martin Frick schlägt Alarm: „Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg gab es so viele Kriege und Konflikte wie in diesen Monaten. Der Klimawandel führt zu drastischen Ernteausfällen; Staaten wie Sambia und Simbabwe haben 50 Prozent ihrer Maisernte verloren. Allein im Sudan sind mehr als 25 Millionen Menschen auf humanitäre Hilfe angewiesen.“
Während sich in 25 Ländern die Lebensmittelpreise verdoppelt hätten, reduzierten die beiden größten Geldgeber des WFP, die USA und Deutschland, ihre Hilfen. Deutschlands Beitrag ist von 1,7 Mrd. Euro (2022) auf knapp 1 Mrd. Euro in diesem Jahr gesunken. Die USA haben ihre Hilfen innerhalb von zwei Jahren von 7,25 auf 4,2 Mrd. Dollar gesenkt. „Es brennt lichterloh“, so Frick.
In dieser kritischen Lage komme die neue Allianz deshalb gerade im richtigen Moment, betont Direktorin Delapalme. Sie verweist auf die erforderliche Verknüpfung von Landwirtschaft, Klima und Konfliktmanagement. "Es ist entscheidend, unterschiedliche Stakeholder auf gemeinsamen Plattformen zusammenzubringen. Die Initiative von Präsident Lula könnte dabei eine Schlüsselrolle einnehmen.“