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  • Entwicklungspolitik & Agenda 2030
  • 04/2023
  • Nicola Wiebe

Brauchen wir einen Globalen Fonds für soziale Sicherheit?

Zunehmende Schocks und Krisen machen das Menschenrecht auf soziale Sicherheit immer dringlicher. In einer internationalen Anstrengung wäre ein Globaler Fonds ein wichtiger Schritt hin zu universeller Deckung.

Eine Schneiderin vor ihrem Haus in Malawi. Weit gespannte soziale Schutzschirme sind für Niedrigeinkommensländer häufig unbezahlbar. © Marcel Crozet / ILO

Alle Menschen brauchen soziale Sicherheit. Es geht um die Sicherheit der eigenen Existenzgrundlage und um Zugang zu essentiellen sozialen Diensten während des gesamten Lebenszyklus, insbesondere in herausfordernden Lebenssituationen wie Mutterschaft, Krankheit, Arbeitslosigkeit oder Pflegebedürftigkeit.

Programme der sozialen Sicherheit – beispielsweise Bargeldtransfers oder Beschäftigungsgarantien – sind auch wesentliche Instrumente, um Krisen entgegenzutreten, die viele Menschen gleichzeitig betreffen. Ob während einer Dürre oder einer Pandemie – es macht einen großen Unterschied, ob es für Ernteausfälle in Krisenzeiten rechtzeitig Unterstützung gibt. Die gesundheitlichen, sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen auf den Einzelnen, aber auch auf die Gesellschaft insgesamt, lassen sich durch reaktionsfähige soziale Sicherungssysteme erheblich abmildern.  

Warum brauchen wir internationale Finanzierung? 

Soziale Sicherheit zu gewährleisten ist Kernaufgabe eines jeden Staates. Trotz erheblicher Fortschritte in den letzten 20 Jahren sind die Deckungslücken jedoch weiterhin erschreckend groß. In Ländern mit niedrigem Einkommen gibt es nur für 7,8 Prozent der verwundbaren Bevölkerung soziale Sicherheit (ILO 2021).

Ein wesentlicher Grund dafür sind Finanzierungslücken. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schätzt, dass in vielen Ländern nur 2,9 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ausreichen würden, um eine soziale Grundsicherung zu finanzieren (Social Protection Floors). Länder mit niedrigem Einkommen (LICs) müssten dafür allerdings ihre gegenwärtigen Sozialausgaben von 5 Prozent auf 21 Prozent der nationalen Haushaltsbudgets vervierfachen (Evans et al. 2023). Allein durch Umschichten ist das nicht zu erreichen, es bedarf höherer Steuereinnahmen. Dafür müssen in erster Linie die internationale Steuergerechtigkeit verbessert und die nationale Steuererhebung gestärkt werden – essentielle Vorhaben, die allerdings Zeit benötigen.

Die Finanzierung von sozialer Sicherheit ist nicht nur ein Kostenfaktor, sondern im Zusammenspiel mit der Förderung von Bildung und Gesundheit auch eine wichtige Investition in den strukturellen Wandel: hin zu inklusiverem Wirtschaften, zu höherer Produktivität und zu mehr inländischer Wertschöpfung. Das ermöglicht es Staaten wiederum, ihre Steuereinnahmen mittelfristig zu verbessern und ihren sozialen Pflichten selbst nachzukommen.

Die Investitionen in soziale Sicherungssysteme müssen jetzt getätigt werden, damit sie mittelfristig national finanziert werden und in künftigen Krisen stabilisierend wirken können. Kurzfristig werden dafür erhebliche internationale Mittel und eine Ko-Finanzierung für soziale Grundsicherung in Ländern mit niedrigem Einkommen benötigt.

Bis zur COVID-Pandemie gab es nur geringe internationale Finanzhilfen für soziale Sicherheit. Im Jahr 2020 stiegen die Ausgaben für soziale Sicherheit dann allerdings vorübergehend von 2,4 auf 3,7 Prozent der offiziellen Entwicklungshilfeausgaben, um danach – bedauerlicherweise – wieder zu sinken (Evans et al. 2023).

Was soll ein globaler Fonds für soziale Sicherheit leisten? 

Ein Globaler Fonds soll diesen Trend umkehren und das nationale und internationale Engagement für soziale Sicherheit auf einem hohen Niveau halten. Das würde einen großen Schritt auf dem Weg zu sozialer Sicherheit weltweit ermöglichen. Vorbilder dafür gibt es genug: im Bereich Bildung (Bildung kann nicht warten), Klima (Grüner Klimafonds) und auch für die Entwicklungsziele der Vereinten Nationen, die Agenda 2030 (Gemeinsamer SDG-Fonds).

Daraus lassen sich wichtige Lehren ziehen. So ist es diesen Fonds beispielsweise gelungen, erhebliches politisches und finanzielles Engagement auf nationaler und internationaler Ebene zu mobilisieren. Mit länderübergreifenden Indikatoren konnten Wirkungen beobachtet und gemeinsames Lernen gefördert werden (Manuel/Manuel 2018).

Mutter mit Kind verkauft Street food in Malawis Hauptstadt. Laut Weltbank kosten gut gemachte Sozialprogramme Länder nicht mehr als 1,5 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung. © Marcel Crozet / ILO

Ein Globaler Fonds für soziale Sicherheit sollte internationale Anstrengungen bi- und multilateraler Akteur:innen bündeln und verstärken. Die im Jahr 2022 von UNO-Generalsekretär Antonio Gutteres ins Leben gerufene Initiative Global Accelerator on Jobs and Social Protection for Just Transitions hat das anspruchsvolle Ziel formuliert, bis 2030 für rund vier Milliarden Menschen zusätzlich soziale Sicherheit zu schaffen. Ein mit ersten Finanzierungszusagen ausgestatteter Fonds könnte dieser Initiative immerhin dazu verhelfen, Fahrt aufzunehmen, um weitere Mitstreiter:innen zu gewinnen.  

Ein Globaler Fonds sollte den Auf- und Ausbau sozialer Sicherungssysteme finanziell unterstützen: Unter der Leitung nationaler Regierungen geht es darum, Strategien zu entwickeln, Institutionen zu stärken und Rechte zu verankern. Im Dialog der Regierung mit Arbeitnehmer:innen, Arbeitgeber:innen und der Zivilgesellschaft ist die Ausgestaltung nationaler sozialer Systeme zu verhandeln. In Ländern mit niedrigem Einkommen muss der Fonds darüber hinaus Programme der Grundsicherung mitfinanzieren, während gleichzeitig nationale Steuersysteme gestärkt werden.

Systeme der sozialen Sicherheit sollten außerdem in ihrer Krisenreaktionsfähigkeit gestärkt werden. Sozialprogramme im Falle von Krisen und Katastrophen erfolgreich auszuweiten oder situationsgerecht anzupassen wird nicht automatisch gelingen, das muss im Vorfeld bedacht werden. Im Krisenfall kann der Fonds dann dazu beitragen, mit internationaler humanitärer Hilfe nationale Systeme der sozialen Sicherheit zu unterstützen.

Rechtebasierte Systeme der sozialen Sicherung aufzubauen ist ein komplexes Vorhaben, dessen Erfolg bei kurzfristig wechselnden Prioritäten in Gefahr geraten kann. Das gilt besonders für Länder mit fragilen Institutionen. Dies jetzt mit langem Atem in Angriff zu nehmen ist von höchster Dringlichkeit, gerade mit Blick auf den Klimawandel und den mit Extremwetterereignissen verbundenen zunehmenden kollektiven Risiken.

Wem soll der Fonds nützen? 

Jeder Mensch ist Risiken ausgesetzt. Die Sicherheit, im Notfall auf Unterstützung zurückfallen zu können, eröffnet viele Chancen für jeden einzelnen Menschen. Der Fonds soll ermöglichen, dass auch Länder mit niedrigem Einkommen soziale Grundsicherung gewährleisten und so extreme Armut überwinden können. Es geht speziell um die Menschen, die bislang von sozialer Sicherheit ausgeschlossen waren, beispielsweise extrem arme Bevölkerungsgruppen im ländlichen Raum oder im städtischen informellen Sektor.

Eine Straßenverkäuferin in Bolivien. Im informellen Sektor haben Menschen selten Zugang zu sozialer Sicherung. © Marcel Crozet / ILO

Die soziale Absicherung aller Menschen bringt darüber hinaus kollektiven und grenzüberschreitenden Nutzen für die Weltgemeinschaft, beispielsweise für die Überwindung extremer Armut, für die Abschwächung von Wirtschaftskrisen oder das Management von Pandemien.

Wer finanziert den Fonds und wer verteilt die Mittel? 

Wie beim sozialpolitischen Solidarprinzip wäre es naheliegend, dass alle beteiligten Staaten im Verhältnis zu ihrer Leistungsfähigkeit Beiträge leisten und es für die Mittelvergabe klare Bedarfskriterien gibt. Staaten mit niedrigem Einkommen, die auf den Aufbau sozialer Grundsicherung angewiesen sind, wären dann gleichberechtigte Mitglieder und finanzielle Nettoempfänger des Fonds. Es wäre zu prüfen, ob der Fonds nicht auch aus zusätzlichen Quellen, wie beispielsweise Gewinn-, Vermögens- oder Finanztransaktionssteuern finanziert werden könnte.

Entscheidungen über den Einsatz der Gelder sollten gleichberechtigt zwischen den Regierungen der Nettozahler- und der Nettoempfängerländer erfolgen. Neben den im Bereich der sozialen Sicherung aktiven internationalen Organisationen, besonders der Internationalen Arbeitsorganisation, sollte es auch Gewerkschafts- und Unternehmerverbänden sowie zivilgesellschaftlichen Vertreter:innen in den Partnerländern des Globalen Südens möglich sein, sich in die Entscheidungs- und Kontrollverfahren des Fonds einzubringen (Kaltenborn 2023).

Kommen die Gelder Menschen in extremer Armut zu Gute?

Alle 187 Mitglieder der Internationalen Arbeitsorganisation haben sich in der ILO-Empfehlung 202 zu sozialer Grundsicherung (Social Protection Floors) dazu verpflichtet, zunächst die Mindestsicherung für alle Einwohner:innen ihres Landes herzustellen. Soziale Grundsicherung meint eine Reihe beitragsunabhängiger Garantien, darunter den Zugang zu essentieller Gesundheitsvorsorge und Existenzsicherheit für Kinder, Personen im erwerbsfähigen Alter (insbesondere im Falle von Krankheit, Arbeitslosigkeit, Mutterschaft und Behinderung) und alte Menschen. Das ist ein klares Programm: Zunächst geht es darum, die extreme Armut zu überwinden, bevor es um weitere Lebensrisiken oder höhere Leistungen gehen kann. Dies sollte auch die konzeptionelle Grundlage für einen Finanzierungsmechanismus sein.

Darüber hinaus ist das Prinzip der gegenseitigen Rechenschaftspflicht zur effektiven Kontrolle der Mittelvergabe wichtig (Kaltenborn/Kreft 2022).

Mütter bei der Heimarbeit auf den Philippinen. In Ländern außerhalb von Europa ist Kindergeld die Ausnahme. © E. Tuyay / ILO

Auf nationaler Ebene wird es notwendig sein, den sozialen Dialog als zentrales Element von Politikformulierung, Implementierung und Monitoring zu stärken. Außerdem müssen soziale Rechte gesetzlich verankert sowie Transparenzpflichten und Beschwerdemechanismen geschaffen werden. Zivilgesellschaftliche Organisationen spielen in vielen Ländern schon jetzt eine wichtige Rolle beim Monitoring staatlichen Handelns. Sie können helfen sicherzustellen, dass tatsächlich alle Menschen erreicht werden, die unter extremer Armut leiden.

Gibt es Konkurrenz zu anderen bestehenden Fonds?

Da finanzielle Mittel begrenzt sind, besteht die Gefahr, dass es zur Konkurrenz mit anderen Fonds und Anliegen kommen kann. Keinesfalls darf es ein Nullsummenspiel zwischen den verschiedenen Sozialsektoren geben, denn die angestrebten Ziele werden nur im Zusammenspiel und mit insgesamt verstärkten sozialen Investitionen erreicht werden können.

Anstelle von Konkurrenz gilt es, die großen Synergien mit anderen Anliegen im Auge zu behalten. Forschungsergebnisse haben gezeigt, dass soziale Sicherungssysteme erheblich zur Überwindung von Armut und damit auch zur Reduzierung von Verwundbarkeit beitragen können. Sie können beispielsweise Kleinbäuer:innen ermutigen zu investieren, ihre Existenzgrundlagen zu diversifizieren um dadurch besser mit dem Klimawandel klar zu kommen. Sie sind damit auch ein Schlüssel zur Ernährungssicherheit (WHH 2023) in diesen unruhigen Zeiten.

Nicola Wiebe Brot für die Welt

Referenzen:

Deutsche Welthungerhilfe (2022): Soziale Sicherungssysteme – Schlüssel zur Ernährungssicherheit. Bonn

Evans, Martin et al. (2023): Financial social assistance in lower-income countries post Covid-19; ODI Working paper, London.

International Labour Organization (2021): World Social Protection Report 2020-22: Social Protection at the crossroads – in pursuit of a better future; ILO Geneva.

Kaltenborn, Markus and Kreft, Laura (2022): Governance principles for a global fund for social protection; Friedrich-Ebert-Stiftung Geneva. 

Kaltenborn, Markus (2023): Ausweitung der globalen sozialen Sicherung – Optionen zur Ausgestaltung eines internationalen Finanzierungsmechanismus, Friedrich-Ebert-Stiftung Geneva. 

Manuel, Manuel and Manuel, Clare (2018). Achieving equal access to justice for all by 2030. Lessons from global funds; ODI working paper 537.

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