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  • Entwicklungspolitik & Agenda 2030
  • 04/2021
  • Ulrich Post

China hat die Armut ausgerottet. Wirklich?

Die Volksrepublik will Modell sein im Erfolg gegen Armut. Ein Staat, der sich volkswirtschaftlich zum Hocheinkommensland entwickelt, misst seine Fortschritte aber an den Standards, die für arme Länder gelten.

Ein Bauer in der entlegenen Provinz Gansu macht Pause. Ein Anti-Armuts-Programm der Ifad hilft den Dorfbewohnern von Linfang, mit besserer Bewässerungstechnik die Ernte zu verbessern. © IFAD / Qilai Shen

Die Gründung der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) fand in sehr kleinem Rahmen statt. 13 Delegierte, die knapp 60 Mitglieder vertraten, trafen sich im Juli 1921 in Shanghai, mussten das Treffen aber nach vier Tagen aus Angst vor Polizeispitzeln unterbrechen. Zur Gründung der mittlerweile zweitgrößten Partei der Welt kam es dann erst einige Tage später- auf einem Ausflugsboot auf einem hundert Kilometer von Shanghai entfernten See.

Wenn die KPCh im Juli 2021 ihr hundertjähriges Bestehen feiert, dann wird der Rahmen etwas größer sein, und Angst vor Polizeispitzeln braucht sie nicht zu haben. Im Mittelpunkt werden die tatsächlichen oder vermeintlichen Erfolge der Partei stehen. Die Abschaffung der Armut in China wird als ein ganz besonders großer Erfolg der letzten Jahre gefeiert werden. Wenn sich die Experten nicht täuschen.

Schon Ende Februar jubelte der staatlich kontrollierte chinesische Auslandssender CGTN, dass China einen „vollständigen Sieg“ im Kampf gegen die extreme Armut errungen habe. Fast 100 Millionen Menschen aus ländlichen Regionen seien seit 2012 aus der Armut befreit worden – zehn Jahre früher als von der UN-Agenda 2030 gefordert. Für den chinesischen Präsidenten Xi Jinping, den Vater der Anti-Armutskampagne, ist dies "ein Wunder auf Erden, das in die Geschichte eingehen wird“.

Aber Xi Jinping ist mit dem bisher Erreichten noch nicht zufrieden. Denn, so CGTN, bis 2035 soll noch eine „grundlegende Modernisierung der Landwirtschaft und der ländlichen Gebiete“ erreicht werden. Das große Fernziel bis 2050 lautet: „eine leistungsstarke Agrarindustrie, schöne Landschaften und wohlhabende Bauern“ – das alles unter der Überschrift „Wiederbelebung des ländlichen Raumes“. 

Der Weg zu „Null Armut“

Wenn die chinesische Regierung von „Armut“ spricht, dann meint sie extreme ländliche Armut, nicht die städtische. Als arm gilt daher jeder Chinese, der im ländlichen Raum lebt und weniger als rund  2,30 Dollar pro Tag einnimmt. Neben der Höhe des Einkommens werden auch Wohnverhältnisse, Gesundheitsversorgung und Bildungsmöglichkeiten sowie die Befriedigung von Grundbedürfnissen wie Essen oder Kleidung mit einbezogen. Mit 2,30 Dollar liegt China leicht über der von der Weltbank definierten internationalen Armutsgrenze von 1,90 Dollar pro Tag.

Nach der nationalen Definition lebten 1990 noch mehr als 770 Millionen Chinesen unterhalb der Armutsgrenze – etwa zwei Drittel aller Einwohner. Bis 2012, dem Amtsantritt von Präsident Xi, war diese Zahl schon auf rund 100 Millionen gesunken, und bis 2019 fiel sie auf 5,5 Millionen. China befand sich auf sehr gutem Weg, das Ziel „Null Armut bis 2020“ zu erreichen, wie Xi es vorgab. Insofern klingt die aktuelle Erfolgsmeldung der chinesischen Regierung und der staatlichen Medien durchaus plausibel. Auch die Weltbank stellt anerkennend fest, dass in China seit den Wirtschaftsreformen 1978 „mehr als 850 Millionen Menschen der Armut entkommen sind“. 

Frauen beim Umladen von Kartoffeln im Markt des Bezirks Dongxiang. Kartoffeln sind neben Schafen ihre Haupteinnahmequelle. Ein Anti-Armuts-Programm soll bei der Vermarktung helfen. © IFAD / Qilai Shen

Die Reduzierung der Armut in China ging einher mit einer langen Phase hohen wirtschaftlichen Wachstums; das allein führt aber nicht zu sinkender Armut. Es bedarf öffentlicher Intervention, um Wachstum inklusiver zu gestalten. Peking rückte die ländlichen Regionen in den Fokus staatlicher Armutsprogramme. Hunderttausende Beamte und andere Helfer waren von Haus zu Haus gegangen, um festzulegen, wer als arm gelten kann – gemessen an Einkommen, Wohnsituation, fehlender Krankenversicherung oder daran, ob es Schulabbrecher gab. Häufig folgte darauf Unterstützung in Form von günstigen oder zinslosen Krediten, der Übernahme von Gehaltszahlungen, der Überlassung von Nutztieren und vielem anderen mehr. Auch Unternehmen wurden subventioniert und gewaltig in Infrastruktur investiert. Straßen, Highways, Tunnel, Brücken und vieles mehr wurden aus der Anti-Armutskampagne finanziert. Die Regierung siedelte Millionen Menschen aus den Regionen um in Wohnanlagen, manchmal in Städten, manchmal in oder nahe den alten Wohnorten. Nicht immer waren diese Umzüge freiwillig.

Heute vollendet fast jedes Kind in China die vorgeschriebene Schulzeit, und nach UN-Angaben ist auch die Kindersterblichkeit in ländlichen Regionen stark zurückgegangen. Diese und andere chinesischen Erfolge in der Armutsbekämpfung trugen nach Angaben des Weltbank-Vertreters in China mit rund 70 Prozent zur Reduzierung der globalen Armut bei.

Ein hoher Preis

Der Erfolg hat allerdings auch einen hohen Preis. Die Schätzungen, die es zu den Kosten der Anti-Armutskampagne gibt, liegen weit auseinander – je nachdem was einberechnet wird. Laut Washington Post (25.02.21) gab die Regierung nach eigenen Angaben 248 Mrd. Dollar aus, die New York Times (31.12.20) spricht dagegen von 700 Mrd. Dollar allein in den vergangenen fünf Jahren. Auf hohe Kosten verweist auch der Weltbank-Repräsentant: „Wir sind ziemlich sicher, dass Chinas Überwindung der Armut in ländlichen Gebieten erfolgreich war – angesichts der eingesetzten Ressourcen sind wir aber weniger sicher, dass es nachhaltig oder kosteneffektiv war.“ 

Es ist also höchst unsicher, ob die Anti-Armutskampagne nachhaltig war, ob die Menschen, die während der Kampagne mit staatlicher Unterstützung der Armut entronnen sind, auch jenseits der Armutsgrenze bleiben werden. Das wird sich erst in den nächsten Jahren zeigen. Für die Menschen wie für die vielen Unternehmen in ländlichen Gebieten, die hohe staatliche Beihilfen erhalten und deshalb überlebt haben. Es scheint eher wahrscheinlich, dass die Bekämpfung der absoluten Armut in diesen Regionen für die Regierung zu einer Daueraufgabe werden wird.

Fragwürdige Zählarten

Auch böte sich ein anderes Bild, wenn die Regierung dem internationalen Standard der Weltbank folgen würde. China benutzt die selbst definierte Grenze für die Einkommensarmut von ungefähr 2,30 Dollar pro Tag. Die Weltbank zieht die absolute Armutsgrenze tatsächlich bei 1,90 Dollar pro Tag – allerdings für Länder mit niedrigem Einkommen (LIC). Für Länder mit gehobenem mittleren Einkommen (UMIC), und dazu zählt das Schwellenland China, empfiehlt sie eine Armutsgrenze von 5,50 Dollar. Wendet man diese an, dann verbleiben noch 13 Prozent oder rund 200 Millionen Chinesen darunter.

Somit befindet sich die Volksrepublik, die bis heute für viele der  Maßstab für erfolgreiche Armutsbekämpfung ist, auf dem Weg zu einem Hocheinkommensland, misst diesen Fortschritt aber an dem Standard für die ärmsten Länder der Welt. Das zeugt nicht von Stärke und wird Nachahmer finden, erwarten Experten. Wenn das vermeintliche „Vorzeigeland“ die Standards senkt, wird das unweigerlich die Ambitionen in weiteren Ländern senken.

Einschränkend ist auch zu erwähnen, dass China Durchschnittseinkommen verwendet, wenn bestimmte ländliche Regionen von der Liste der Gebiete mit absoluter Armut gestrichen werden sollen. Das bedeutet, dass einige Familien und Gemeinden über dieser Grenze sind, aber andere unterhalb dieser Einkommen leben; letztere tauchen jedoch in den staatlichen Statistiken nicht auf. Außerdem sagen die Zahlen nichts zur Armut in großen Städten; dort sind zwar die Löhne deutlich höher als auf dem Land, aber auch die Ausgaben für Lebensmittel und Mieten. „Das rudimentär ausgebaute Sozialhilfesystem unterstützt gegenwärtig rund 15 Millionen Menschen in städtischen Gebieten. Doch das sind bei weitem nicht alle Hilfsbedürftigen.“ (NZZ, 26.2.21)

Die bergige südliche Provinz Gansu ist von Armut geprägt. Örtliche Bauern bearbeiten ein Terrassenfeld. © IFAD / Qilai Shen

Tatsächlich sagte der chinesische Premier Le Kequiang noch im Mai 2020, dass ungefähr 600 Millionen chinesische Bürgerinnen und Bürger, fast 40 Prozent der Gesamtbevölkerung, von rund 140 Dollar pro Monat leben müssten. Und er fügte hinzu, das sei nicht einmal genug, um in der Stadt die Miete für ein Zimmer zu bezahlen. 

Insgesamt haben die chinesischen Programme zur Armutsbekämpfungs in den vergangenen zehn Jahren kaum Probleme an den Wurzeln gepackt, die Arme besonders betreffen – wie etwa Kosten für die Gesundheitsversorgung oder andere Lücken im Netz der sozialen Sicherung. Auch die extreme Ungleichheit zwischen städtischen Einzugsgebieten und ländlichen Regionen stand nicht im Fokus der Programme (siehe Kasten). Das aber wäre nötig gewesen, wenn der „vollständige Sieg“ gegen die Armut Bestand haben soll.

Populäre Politik auf dem Land

Auf die Wahrnehmung der Leistungen von Staat und Partei in ländlichen Regionen haben diese Schwächen der Anti-Armutspolitik aber genauswenig Einfluss wie all die Dinge, die westliche Medien zu Recht kritisieren wie etwa die neuen Sicherheitsgesetze für Hongkong, die Umerziehungslager in Xinjiang oder die wachsende staatliche Überwachung. Das hängt einerseits mit der strikten Zensur zusammen, aber eben auch mit den eigenen Erfahrungen. Xinjiang und Hongkong sind für viele Chinesen auf dem Land weit weg und irrelevant für ihr Leben.

Und so werden die Chinesen bei der 100 Jahr-Feier der Kommunistischen Partei Chinas mit Sicherheit viele anrührende und dankbare Statements von Menschen zu hören bekommen, die zumindest für kurze Zeit der Armut entrinnen konnten. Das wird die Legitimität der Partei und das Ansehen Xis weiter stärken. Doch die wirkliche Anti-Armutspolitik muss erst noch beginnen. Vielleicht finden sich ja bald 13 Delegierte, die sich das zutrauen und auch mehr als 60 Parteimitglieder vertreten. Es kann aber sein, dass die es sehr schnell mit Polizeispitzeln zu tun bekommen.

Achillesferse des Systems: Ungleichheit in China

Der Ökonom Branko Milanovic, weltweit anerkannter Ungleichheitsforscher, nennt in einem Anfang 2021 veröffentlichten Beitrag für die Zeitschrift Foreign Affairs die Ungleichheit die „Achillesferse des chinesischen Systems“. Sie widerspreche den von der Partei verbal hochgehaltenen sozialistischen Grundsätzen und unterminiere die stillschweigende Übereinkunft zwischen Regierenden und Regierten. Ursächlich für den hohen Grad an Ungleichheit sei nicht nur das schnelle Wirtschaftswachstum und die damit einhergehende rapide Urbanisierung, sondern auch Besonderheiten des politischen und wirtschaftlichen Systems, die beispielsweise die bedeutsamen Disparitäten zwischen den Provinzen und zwischen ländlichen und städtischen Gebieten gefördert hätten. Chinas Gini-Koeffizient (ein Gradmesser ungleicher Einkommensverteilung, der von 0 bis 1 reicht) beträgt ungefähr 0,47 (USA: ca. 0,41, Deutschland 2018: 0,29); Ungleichheit in China ist damit höher als in den USA und erheblich höher als in Deutschland. Sehr hoch ist insbesondere der Abstand zwischen städtischen und ländlichen Einkommen. Man könne fast auf die Idee kommen, es handele sich um zwei unterschiedliche Länder, so Milanovic.

Chinas Ungleichheit habe nicht nur strukturelle, sondern vor allem auch politische Gründe. Sowohl die grassierende Korruption – die besonders lukrativ ist für jene in der Nähe großer Summen, die veruntreut werden können – als auch die Mitgliedschaft in der KPCh, die sehr hohe Einnahmen sichern kann, seien Treiber der Ungleichheit. Milanovic bescheinigt Xi Jinping durchaus Ernsthaftigkeit in seinen Anti-Korruptionskampagnen, prophezeit aber erheblich größere Probleme bei künftigen Kampagnen. Denn die politische und die wirtschaftliche Macht beginne in China zu verschmelzen, um eine hybride politisch-wirtschaftliche Elite zu bilden, die kein Interesse an der Bekämpfung von Korruption habe und kaum wieder aufzulösen sei, wenn sie sich erst einmal formiert und fest etabliert habe.

Die starke Entwicklung des Privatsektors bringe auch in China neue soziale Klassen hervor. Um sie einzubinden, lade die Regierung des Ein-Parteien-Staates sie zur politischen Beteiligung durch eine Parteimitgliedschaft ein. Aber damit schaffe man eine Oberschicht mit sowohl politischer als auch wirtschaftlicher Macht, abgetrennt vom Rest der Gesellschaft und ebenso von der Masse der KPCh-Mitglieder. Ohne freie Wahlen könne eine solche Macht nur durch ein übergeordnetes unabhängiges Zentrum kontrolliert werden. Milanovic: „Es gibt aber eine ultimative Macht, die in einem engen Kreis von Spitzenfunktionären der KPCh und der Regierung residiert, die ihrem Hintergrund treu sind. Diese autokratische Macht kann das maßlose Streben der Elite nach finanziellem Gewinn und vielleicht sogar ihre Dekadenz zügeln. China hat die Wahl zwischen zwei Visionen: Oligarchie oder Autokratie.“

Für die Armen in China, egal ob auf dem Land oder in der Stadt, ist das keine gute Alternative.

Prträt: Ulrich Post, Leiter Team Grundsatzfragen.
Ulrich Post Mitglied im Redaktionsbeirat

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