EU-Haushalt: eine Rechnung mit vielen Unbekannten
Steigenden Hungerzahlen im globalen Süden wird der mehrjährige Finanzplan nicht gerecht. Aber die Ausgestaltung fängt gerade erst an.
An die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wurden im Vorfeld hohe Ansprüche gestellt – das zweite Halbjahr 2020 sollte große Visionen, schwierige Verhandlungsergebnisse, europäische Einheit, und – nicht zuletzt – ein beginnendes „Building back better“ nach der Covid-19-Krise bringen. Es galt, dem Vorwurf einer Schönwetterunion wichtige Entscheidungen entgegenzustellen. Tatsächlich rang der deutsche Vorsitz den Staats- und Regierungschefs einen neuen mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) ab, mit einer Laufzeit bis 2027 über insgesamt 1.703,4 Mrd Euro. Geschnürt wurde auch ein milliardenschweres Konjunkturpaket (Next Generation Europe / NGEU), um die Folgen der Corona-Krise zu bekämpfen. Hierfür werden sogar das erste Mal in der Geschichte der EU gemeinsame Schulden aufgenommen.
Bei allem Erfolg für die europäische Solidarität bleiben hierbei jedoch entwicklungspolitische Aspekte auf der Strecke: Die Mitgliedsstaaten waren sich einig, als erstes im entwicklungspolitischen Teil des MFR zu kürzen: Schon vor dem Gipfeltreffen wurde eine Kürzung im Budget „Nachbarschaft und die Welt“ vorgeschlagen (98,4 Mrd. Euro statt der ursprünglichen 102,7 Mrd. Euro). Somit fielen die Gelder, die noch am ehesten als offizielle Entwicklungshilfe angerechnet werden können, als erstes den harten Verhandlungen zum Opfer.
Da der Finanzrahmen nur alle sieben Jahre abgesteckt wird, wurde so eine wichtige Gelegenheit verpasst, die Entwicklungspolitik zu stärken statt sie zu schwächen und zukunftsweisende Schwerpunkte zu setzen. Dabei sollte dieses Jahr allen schmerzhaft klar machen, dass die Covid-19 Krise keine Grenzen kennt und nur global gelöst werden kann.
Süden bleibt außen vor
Auch in dem 750 Mrd. Euro schweren Konjunkturpaket Next Generation Europe (NGEU) bleibt der globale Süden außen vor. Es soll die durch die Corona-Krise verursachten Schäden beheben und Chancen für die nächste Generation schaffen. Um verheerende Folgen im globalen Süden zu adressieren, waren 15,5 Mrd. Euro für Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe veranschlagt. Aber auch diese Mittel wurden ersatzlos gestrichen. Der dramatischen Situation, die die Wirtschaftskrise infolge der Corona-Krise im globalen Süden hinterlässt, wird das nicht gerecht.
So enttäuschend dies sein mag, so war es doch absehbar: In den Prioritäten der deutschen Ratspräsidentschaft liegt der Fokus künftiger Ausgaben klar auf interner Politik:
- Ein stärkeres und innovativeres Europa
- ein gerechtes Europa
- ein nachhaltiges Europa
- ein Europa der Sicherheit und der gemeinsamen Werte
- ein starkes Europa in der Welt,
werden als Ziele auf der Webseite der Ratspräsidentschaft genannt. Noch vergeblicher als den Blick nach draußen sucht man in den Schwerpunkten die Politikfelder ländliche Entwicklung und Ernährungssicherung.
Dabei wirkt Covid-19 weltweit als Brandbeschleuniger von Hunger und Armut. Schon vor der Pandemie wurde global für zu viele Menschen das Menschenrecht auf ausreichende und angemessene Nahrung verletzt. Menschen, die ohnehin besonders benachteiligt sind und am stärksten unter Hunger und Armut leiden, wurden von weiteren Katastrophen getroffen, darunter eine Heuschreckenplage oder schwere Fluten in rund einem Dutzend Länder Afrikas. Der Welthungerindex 2020 zeigt, dass sich in 14 Ländern die Ernährungssituation verschlechtert hat. 2019 hungerten 690 Millionen Menschen weltweit – die FAO schätzt, dass durch Covid-19 bis Ende 2020 zwischen 83 („optimistisches“ Szenario) und 132 (pessimistisches Szenario) Millionen zusätzlich an Hunger leiden werden.
Fehlernährung kann beseitigt und menschliche Gesundheit gewährleistet werden, wenn jeder ausreichend gesunde Nahrungsmittel selbst produzieren oder zu erschwinglichen Preisen kaufen kann. Ein Schlüssel liegt in den richtigen Rahmenbedingungen, die eine bäuerliche Landwirtschaft sowie lokale und regionale Nahrungsmittelmärkte stärken und Produzenten faire Einkommen ermöglichen. Die Lösungen müssen gemeinsam mit den Menschen entwickelt und auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten werden. Armutsbekämpfung muss ein zentraler Ansatzpunkt für die Hungerbekämpfung sein. Investitionen in Bildung, Gesundheit und soziale Sicherungssysteme sind erforderlich.
Genau hier darf Europa nicht nachlassen. Mit Abstand sind die EU und ihre Mitgliedsstaaten zusammen der weltweit größte Geber staatlicher Entwicklungszusammenarbeit (ODA). 2018 haben sie gemeinsam 87,5 Mrd. US-Dollar investiert. Die USA folgt mit Abstand auf Rang zwei mit 34,6 Mrd. US-Dollar.
Flexibler und unberechenbarer
Nominal scheint das EU-Budget für Entwicklungszusammenarbeit im Vergleich zum letzten MFR (2014-2020) zu wachsen. Sah Titel 4 Global Europe jährlich zwischen 9,4 und 10,62 Mrd. Euro vor, so sind künftig unter einem Titel 6 Nachbarschaft und Welt zwischen 15,3 und 12,59 Mrd. Euro mit absteigender Tendenz bis 2027 geplant.
Erst die nachträgliche jährliche ODA-Analyse der OECD wird ab 2022 erste Einblicke gewähren, ob alle Gelder des neuen MFR auch wirklich der Entwicklungszusammenarbeit angerechnet werden können. Denn auf dem Gipfeltreffen im Juli wurden auch strategische Weichen für die nächsten sieben Jahre gestellt: So löst das neue Instrument NDICI (Neighbourhood, Development, and International Cooperation Instrument) mehrere ehemalige Instrumente für Auswärtige Politik ab, darunter den European Development Fund (EDF) und das Development Cooperation Instrument (DCI).
Die gemeinsame Anlegung in einem Topf soll für mehr Flexibilität und Transparenz sorgen. Das NDICI wurde zunächst positiv von der Zivilgesellschaft bewertet, weil es einen starken Fokus auf Armutsbekämpfung, nachhaltige Entwicklung und Menschenrechte legt. Es gibt sich somit eher wie eine Entwicklungsagenda als wie ein außenpolitisches Instrument.
So werden die Erreichung der Finanzierungsziele von 0,7 Prozent der Wirtschaftsleistung für ODA sowie von 0,2 Prozent für die am wenigsten entwickelten Länder (LDC) als Forderungen genannt. Außerdem werden klare Ziele zu den Politikbereichen Geschlechtergerechtigkeit, Klimawandel und Umwelt, sowie menschliche Entwicklung genannt, wobei der Bezug zum „Human Development Index“ sich für Investitionen in Gesundheit, Bildung und gegen Armut einsetzt.
Allerdings lässt sich noch nicht sagen, ob sich der erste positive Eindruck bewahrheitet. Denn es gibt bereits auch einige kritische Punkte: allen voran das Zusammenlegen von Entwicklungszusammenarbeit (EZ) mit Außen- und Sicherheitspolitik. Zu Unrecht werden hier unterschiedliche Ziele vermischt.
Zum Beispiel hält sich die EU innerhalb des Nachbarschafts- und Entwicklungsinstruments die Möglichkeit offen, bei der Vergabe von EZ-Mitteln Konditionen zum Migrationsmanagement einfließen zu lassen. Das ist zu hinterfragen – nicht nur unter ethischen Gesichtspunkten – sondern auch, weil es den Prinzipien der Wirksamkeit von Entwicklungszusammenarbeit („Aid Effectiveness“) widerspricht. Und auch einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe.
Privates Kapital am Bedarf vorbei
In das NDICI fällt auch die Förderung des Privatsektors über Kredit-, Garantie- und Blendinginstrumente, etwa durch den Europäischen Fonds für Nachhaltige Entwicklung EFSD+. Hier soll mit öffentlichen Mitteln privates Kapital mobilisiert und über bi- und multilaterale Finanzinstitutionen eingesetzt werden. Fraglich ist hier die Zielführung.
Ein vom Entwicklungsausschuss im Europäischen Parlament in Auftrag gegebener Bericht zeigt, dass Privatkapital in der Regel nicht den ärmsten Ländern (LDC) zugutekommt, die besonders auf externe Finanzquellen angewiesen sind. Da das Kapital an Gewinnerwartung geknüpft ist, fließt auch nur sehr wenig in die Bereiche Ernährung, Gesundheit, Bildung und soziale Sicherung, die für die Armutsbekämpfung zentral sind.
In den nächsten sechs Monaten wird das NDICI geografisch und thematisch erst richtig Gestalt annehmen. In dem so genannten gemeinsamen Programmierungsprozess verhandeln EU-Delegationen in einzelnen Ländern und Regionen darüber, wie Gelder am besten für spezifische Problemstellungen genutzt werden.
Ein solches Vorgehen ist zunächst zu begrüßen, jedoch stellt sich die Frage, mit welchen Prioritäten die EU herangeht. Sind es Digitalisierung, der Green Deal und Migrationspartnerschaften? Sind dies auch die Prioritäten der Partnerländer? Und geht es darum, dass Wirtschaftswachstum und Beschäftigungsförderung so gestaltet werden, dass sie auch die Armen erreichen? Für Länder, die im Welthungerindex kritische Werte zeigen, muss die Armuts- und Hungerbekämpfung Vorrang haben. Bei den Konsultationen ist daher darauf zu achten, dass zivilgesellschaftliche Organisationen aus EU und Partnerländern an Ausgestaltung, Umsetzung und Monitoring der Programme beteiligt werden.
Vor der Annahme des Budgets durch das EU-Parlament läuft bis Ende November der sogenannte „Trialog“ mit der EU-Kommission und den Mitgliedsstaaten, bei dem detaillierte Vereinbarungen über die Rechtstexte der Finanzierungsinstrumente ausgehandelt werden. Das Parlament ist traditionell ein Verbündeter der Zivilgesellschaft, der verärgert über die mangelnde Einbindung von Hunger- und Armutsbekämpfung reagieren wird. Es steht jedoch zu befürchten, dass es wenige bis keine Veränderungen bewirken wird.
"Farm to Fork" schaut nicht über Tellerrand
Enttäuschend ist neben der Finanzplanung auch die mit Spannung erwartete neue Kommissionsstrategie „Farm to Fork“ (F2F) – zumindest, was ihre fehlende Außenperspektive angeht. Sie setzt sich zwar ausführlich mit Konsummustern und ihren Folgen innerhalb der EU auseinander; der Blick auf deren Auswirkungen außerhalb Europas, auf internationale Lieferketten und Implikationen für die europäische Handelspolitik wird jedoch ausgeblendet.
Vergeblich sucht man auch einen Bezug zu entwicklungspolitischen Standards: Menschenrechte sollen im Rahmen der Umsetzung der „Farm to Fork“-Strategie lediglich „angemessen berücksichtigt“ werden. Um Landwirtschaft und ländliche Entwicklung wirklich inklusiv zu gestalten, müssen aber die Orientierung an und die Umsetzung von Menschenrechtsinstrumenten Eingang in alle für Agrar- und Ernährungspolitik relevanten Strategien finden.
Dazu gehören die Freiwilligen Leitlinien zum Recht auf Nahrung, die Freiwilligen Leitlinien für eine verantwortungsvolle Landverwaltung (VGGT), die UN-Erklärungen zu den Rechten indigener Völker (UNDRIP) und zu Kleinbauern und anderen Menschen, die in ländlichen Gebieten arbeiten (UNDROP) sowie die UN Guiding Principles on Business and Human Rights.
Dabei soll die „Farm to Fork“-Strategie der neue strategische Leitfaden für europäische Investitionen im Ernährungssektor werden. Die seit 2018 angekündigte Überarbeitung der zehn Jahre alten Strategien zur Ernährungssicherung und Bekämpfung von Fehlernährung wurde auf Eis gelegt. Zur Bekämpfung des weltweiten Hungers braucht es jedoch eine dezidierte Strategie und einen Umsetzungsplan.
Gerade angesichts der wieder steigenden Hungerzahlen muten die mangelnden Ambitionen der EU bei der Bekämpfung des weltweiten Hungers und Fehlernährung zynisch an.