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  • Entwicklungspolitik & Agenda 2030
  • 09/2019
  • Christiane Grefe

Kampf gegen Hunger: eine Politik des langen Atems und wider alle Krisen

Die Entwicklungspolitik zeigt sich lernfähig und schaltet von Innovation und Leuchtturmprojekten auf nachhaltiges Ressourcenmanagement im ländlichen Raum. Die Überwindung des Hungers muss für die gesamte Regierung aber ein noch wesentlicheres Ziel werden. Ein Kommentar.

Eine Frau in Mali bei der Feldarbeit.
Eine Frau in Mali bei der Feldarbeit nahe Bandiagara. Eines der Grünen Innovationszenten der Bundesregierung berät in dem Land Bäuerinnen und Bauern, wie sie im Bewässerungsfeldbau mit weniger Wasser und Saatgut auskommen. © Welthungerhilfe / Kaufhold

Die traurige Wahrheit wurde kaum registriert zwischen all den Krisen. Überdeckt von Schlagzeilen über Syrienkrieg und Seenotrettung, Brexit und Handelskriegen, weltweites Artensterben, Brände, Dürren und Fluten fiel die Nachricht kaum auf: Die Zahl der Hungernden stieg auch 2018 wieder an – und das zum dritten Mal in Folge. 821 Millionen Menschen weltweit haben chronisch zu wenig zu essen. Sogar zwei Milliarden Bürger können sich nicht darauf verlassen, dass regelmäßig ausreichende und vielseitige Lebensmittel auf den Tisch kommen.

821 Millionen: Dieser Rückfall bei der Hungerbekämpfung stellt die Glaubwürdigkeit aller internationalen Versprechen in Frage. Allem voran beim zweiten UN-Nachhaltigkeitsziel, das nicht weniger als „Zero Hunger“ bis 2030 verspricht. Um das zu erreichen, bleibt jetzt nur noch ein Jahrzehnt. An dieser enormen Herausforderung muss sich auch die Politik der Großen Koalition messen lassen.

Immerhin: Der Mann an der Spitze des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit (BMZ) nimmt das ernst. In Reden und Interviews wird Gerd Müller nicht müde, den „größten vermeidbaren Skandal unserer Zeit“ anzuprangern, ja er spricht unumwunden von „Mord“. Seit 2014 fließen rund 1,5 Milliarden Euro pro Jahr in das große Themenfeld Hungerbekämpfung, Ernährung und Landwirtschaft. Dass es dabei bleibt, ist keine Selbstverständlichkeit angesichts der Kurzatmigkeit, die gerade die Entwicklungspolitik oft kennzeichnet (bei anderen Themen auch bei diesem Minister). Die Sonderinitiative „EINE WELT ohne Hunger“, die einen Großteil dieser Mittel umsetzt, ist in der neuen GroKo ebenfalls nicht nur fortgesetzt, sondern auch überdacht und erweitert worden.

Kritik an der "Sewoh" fruchtet – teilweise

Als die „Sewoh“ aufgelegt wurde, hatten Nichtregierungsorganisationen und Oppositionsparteien daran Einiges zu bemängeln. Zu oft seien die Konzepte in Berlin entworfen worden, so eine Kritik; also ohne Beteiligung der Betroffenen, oft selbst der Regierungen in Empfängerländern. Weil der Minister so aufs Tempo drückte, fehlte Zeit für Partizipation. Inhaltlich werde die Steigerung der Produktivität auf dem Acker überbewertet, hieß es. Außerdem führe der Fokus, die Wertschöpfungsketten von Cash Crops zu verbessern, dazu, dass gerade die Allerärmsten oft seltener erreicht würden als jene, die ohnehin schon bessere Möglichkeiten haben. Zu eng fanden viele auch die Nähe zur Privatwirtschaft. Dabei hatte selbst das regierungseigene Evaluierungsinstitut DEval die entwicklungspolitischen Vorteile solcher Kooperationen in Zweifel gezogen.

Christiane Grefe, Korrespondentin "Die Zeit"

Leuchtturmprojekte sollten, so wurde gespottet, wohl vor allem in deutschen Medien strahlen.

Christiane Grefe Korrespondentin "Die Zeit"

Die Kritik zielte auch auf die so genannten Innovationszentren, in die etwa ein Fünftel der „Sewoh“-Mittel fließen. Sie sollen Kleinbauern in 14 afrikanischen Ländern und in Indien neue Entwicklungsperspektiven eröffnen. Einige Innovationsprojekte haben durchaus den beabsichtigten Modellcharakter: In Sambia etwa produziert ein lokaler Sozialunternehmer mit einem Bauernnetzwerk Erdnüsse, Soja und Milch auf eine Weise, die Ressourcen schont und dennoch mehr Einkommen ermöglicht. In Kamerun soll die Förderung der Geflügel- und Kartoffelbäuerinnen das Land von Importen bei diesen Produkten unabhängig machen. Doch andere Vorhaben, die an längst bestehende angedockt sind, sind so neu nicht. „Leuchtturmprojekte“? Die sollten, so wurde gespottet, wohl vor allem in Deutschlands Medien strahlen.

In den letzten beiden Jahren aber hat das BMZ einen Teil der Kritik aufgegriffen und Instrumente und Ziele erweitert. Die Innovationszentren heißen jetzt „grüne Zentren“, weil dort ein nachhaltiges Ressourcenmanagement wichtiger werden soll. Wo neue Entscheidungen anstehen, will man die Menschen vor Ort öfter nach ihren eigenen Interessen und Erfahrungen befragen. Es entstehen auch Innovationszentren ausdrücklich für den Ökoanbau.

Generell soll der Fokus der Agrar- und Ernährungsprogramme von der Förderung neuer Technologien und Wertschöpfungsketten auf die gesamte ländliche Entwicklung ausgeweitet werden. Dabei will man lokale Regierungen öfter beraten. Die Kooperation mit Konzernen hingegen, die Saatgut, Dünger und Pflanzenschutzmittel verkaufen wollen, hat das BMZ zurückgefahren. Eher will man jetzt mit Verbänden, Genossenschaften und öffentlichen Trägern zusammenarbeiten, und mit mittelständischen Unternehmen, sowohl in Deutschland als auch in Empfängerländern. 

Ein Makel ist nach wie vor, dass die Überprüfung solcher Anstrengungen schwer fällt. So liefert das BMZ zwar reichlich Erfolgsdaten. 700 000 Menschen seien schon darin geschult worden, ihre Felder produktiver, effizienter und nachhaltiger zu bewirtschaften: So eine Zahl zum Beispiel klingt gut. Aber es bleibt undurchsichtig, wie viele Bauern von ihrer Schulung auch einen nachhaltigen Nutzen haben. Nach eigenem Bekunden arbeitet das BMZ jetzt an transparenten Indikatoren. Die Entwicklungspolitiker wollen sich überdies zunehmend der bisher noch offenen Frage widmen, mit welchen Instrumenten erfolgreiche Modelle tatsächlich national ausgeweitet werden können.

All das sind vor allem bilaterale Aktivitäten; die multilaterale Arbeit hingegen ist in den Hintergrund getreten. So setzt die Koalition mit der "Sewoh" offiziell ihr Bekenntnis zu den Beschlüssen der G7-Staaten von L´Aquila aus dem Jahr 2009 um. Noch während der Regierung Obama hatten sich die mächtigen Industrienationen darauf festgelegt, bis 2030 500 Millionen Menschen vom Hunger zu befreien. Auf diesem internationalen Parkett aber hat die Welternährung zuletzt vor vier Jahren in Elmau eine nennenswerte Rolle gespielt – seither ist sie kaum mehr als Routine am Rande. Dieser Marginalisierung des Themas hat auch die Große Koalition wenig entgegengesetzt.

Klimawandel stellt konventionelles Agrarmodell in Frage

Als wichtigste Ursachen dafür, dass die Hungerzahlen wieder steigen, benennt die FAO kriegerische Konflikte und die Folgen des Klimawandels. Während die Gewalt von Jemen bis Nigeria in erster Linie nationalen Regierungen und regionalen Machtkämpfen anzulasten ist, nimmt die Erderhitzung die alten Industrieländer als größte Verschmutzer unmittelbar in die Verantwortung – und damit auch Deutschland. Das bedeutet nicht nur, das eigene Energiesystem vollständig umzubauen und die ärmeren Länder bei ihrem klimaverträglichen Entwicklungsweg zu unterstützen.

Der Klimawandel stellt auch das konventionelle Agrarmodell grundlegend in Frage, auf das sich auch deutsche Geber bei ihrer Entwicklungspolitik im Kern noch immer beziehen. Je intensiver der Anbau mit Kunstdünger und Hochleistungssorten, desto mehr steigt auch die Intensität der Emissionen – und desto anfälliger wird die Landwirtschaft zugleich für die Folgen des Klimawandels. Zukünftig ist deshalb eine Produktion von Mischkulturen gefragt, bei der alles zusammengedacht wird: Wie versorgen sich unterschiedliche Nahrungspflanzen und Bäume gegenseitig mit Licht, Schatten und Nährstoffen? Welche können einander vor Schädlingen schützen? Wie kann Vielfalt gegen Unwetter wappnen?

In der Welternährungsorganisation FAO gewinnt deshalb derzeit das Konzept Agrarökologie an Gewicht. Es schließt zugleich Kooperationen mit lokalen Forschungsinstituten ein, soziale Netzwerke, eine handwerkliche Produktion und regionale Märkte. Der UN-Weltagrarrat hat es schon vor zehn Jahren als wegweisend markiert – doch die Bundesregierung konnte sich dafür bisher kaum erwärmen.

Agarökologie findet Freunde im BMZ

Umso bedeutsamer ist, dass sich das zu ändern beginnt. So hat der Bundestag in diesem Frühjahr einen Antrag der Koalitionsfraktionen beschlossen: „Potentiale der Agrarökologie anerkennen“. Darin wird der Nutzen dieses Ansatzes in der Entwicklungspolitik gerade für Kleinbauern betont, die den übergroßen Anteil der Welternährung stemmen. Das BMZ macht sich die Aufforderung der Abgeordneten zu eigen, seine Zusammenarbeit stärker in diese Richtung zu wenden. Dabei muss sich indes noch zeigen, was letztlich genau darunter verstanden wird. Denn für die einen bedeutet Agrarökologie im Wesentlichen eine Form der Bioproduktion, für die anderen reicht sie bis zur lokalen Ernährungssouveränität. Ein Wehmutstropfen ist zudem, dass das Bundesagrarministerium (BMEL) die neue Aufgeschlossenheit bislang nicht teilt.

Auch sonst bleibt das größte Problem dieser Koalition die fehlende Kohärenz unterschiedlicher Politikfelder. Bei der UN-Deklaration für die Rechte der Kleinbauern etwa setzte sich das BMZ wohlwollend ein, während das BMEL eher bremste. So enthielt sich die Bundesregierung leider der Stimme, als die internationale Gemeinschaft Kleinbauern individuelle und kollektive Rechte zusprach, darunter das Recht auf Land, Saatgut und Wasser.

Hunger muss für ganze Regierung "wesentlich" werden

Ein anderes Beispiel ist das Handelsabkommen Mercosur: Kein Wirtschaftspolitiker scheint danach zu fragen, welche Folgen die Privilegien für südamerikanische Agrargüter im Handel mit Europa eigentlich in Afrika auslösen können. Werden afrikanische Erzeuger es dann beim Zugang zu europäischen Märkten noch schwerer haben? Oder: Bei den Bioökonomiekonzepten von Forschungs- und Landwirtschaftsministerien ist unterbelichtet, wie genau denn das allenthalben bekundete „Food First“ gewährleistet werden soll, wenn mehr so genannte Biomasse wie Palmöl, Zuckerrohr oder Holz aus Entwicklungsländern importiert wird.

Die Liste der Widersprüche wäre noch verlängerbar. Sie zeigt: Während Kanzleramt, Wirtschaftsministerium und BMEL besonders in Afrika einseitig auf Wirtschaftskooperation, Investitionen, Knowhow- und Technologietransfer setzen, sind Müllers Mitarbeiter bei der Hungerbekämpfung zumindest aufgeschlossen für Kritik und neue Wege im ländlichen Raum, die der Dramatik der globalen Krisen entsprechen. Doch das Entwicklungsministerium darf nicht mehr allein zuständig sein für die „Überwindung von Armut und Hunger“, die der Koalitionsvertrag als „wesentliches Ziel“ anstrebt. Dieses Ziel muss für die gesamte Bundesregierung wesentlicher werden.

Was sagt der Koalitionsvertrag?

Christiane Grefe, Korrespondentin "Die Zeit"
Christiane Grefe "Die Zeit"

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