Kompass 2024: Deutsche ODA hält mit komplexen und multiplen Krisen nicht Schritt
Es sind gegenläufige Trends: Während die Welt mit Mehrfachkrisen und wachsender Fragilität zu kämpfen hat, investiert Deutschland weniger in sein internationales Engagement und humanitäre Hilfe.
In der 31. Ausgabe des "Kompass"[i], dem zivilgesellschaftlichen Schattenbericht zur deutschen Entwicklungspolitik der Welthungerhilfe und terre des hommes, stehen die deutschen Ausgaben für Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe im Fokus der Analyse. Vor dem Hintergrund einer zunehmend multipolaren Weltordnung, politischer Instabilität und globaler Krisen, die eine Überarbeitung der afrikapolitischen Leitlinien der Bundesregierung erforderlich machen, richtet der jährlich erscheinende Bericht in 2024 den Blick zudem auf die Afrikapolitik der Bundesregierung und auf die fragile Lage in der Sahelzone.
ODA hält mit multiplen Krisen nicht Schritt
Entgegen dem leicht positiven internationalen Trend, bei dem die Ausgaben der OECD-Länder für Entwicklungsleistungen (Official Development Aid/ODA) gegenüber 2022 um 1,8 Prozent gestiegen sind, haben sich die deutschen Ausgaben für ODA 2023 deutlich reduziert. Erstmals seit 2019 sind die ODA-Ausgaben der Bundesregierung gemessen am Bruttonationaleinkommen (BNE) im Jahr 2023 wieder gesunken – von 0,83 Prozent des BNE im Jahr 2022 auf 0,79 Prozent im Jahr 2023. Insgesamt lagen die deutschen ODA-Ausgaben bei 33,9 Mrd. Euro, was einen realen Rückgang (inflationsbereinigt) von 5,8 Prozent zum Vorjahr bedeutet.
Dieser Rückgang kommt zu einem kritischen Zeitpunkt, da die Welt in einer multipolaren Gemengelage mit komplexen Krisen wie dem Klimawandel, politischer Instabilität, den anhaltenden Herausforderungen der Covid-19 Pandemie und wachsender Fragilität konfrontiert ist. Wie sich diese Krisen gegenseitig verschärfen, zeigt sich besonders in der zentralen Sahelregion: Lange Dürreperioden beeinträchtigen die landwirtschaftliche Produktivität und tragen zur Verschärfung von Ernährungsunsicherheit bei. Gleichzeitig nimmt die Konkurrenz um die immer knapper werdende Ressource Land zwischen Ackerbauern- und Bäuerinnen und nomadischen Viehhirt*innen zu, während die Gewalt bewaffneter Gruppen Tausende Menschen zur Flucht zwingt, was wiederum Armut und Hunger weiter verstärkt.
Politischer Wille für Ernährungssicherheit fehlt
Noch immer leiden über 733 Millionen Menschen weltweit an Hunger. Dies gilt insbesondere für die ländliche und peri-urbane Bevölkerung.[ii] Gerade in der Entwicklung von Landwirtschaft und ländlichen Räumen liegt daher ein entscheidender Hebel, um nicht nur Armut und Hunger wirksam und nachhaltig zu reduzieren, sondern auch die Widerstandsfähigkeit der Menschen zu erhöhen und damit die Gefahr aufkeimender Konflikte zu vermindern. Um so besorgniserregender ist die Entwicklung, dass die für Ernährungssicherung und ländliche Entwicklung bereitgestellten Mittel des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) drastisch gekürzt wurden: Wie der Kompass 2024 zeigt, sinken sie erstmalig seit 2018 – und zwar um ganze 32 Prozent im Vergleich zum Vorjahr.
Weiter zeigt der Kompass auf, dass die deutsche ODA an die sogenannten am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) 2022 geringer ausfiel als 2018. Auch anteilig an der gesamten deutschen ODA sinkt die Unterstützung für diese Ländergruppe. Zudem erhalten die LDCs einen großen Teil der Unterstützung als humanitäre Hilfe und Nahrungsmittelhilfe, was zwar unmittelbare Krisen lindert, aber wenig zum Aufbau von langfristiger Ernährungssicherung beiträgt. Dabei sind die ODA-Mittel gerade in diesen Ländern für Investitionen in die Landwirtschaft und ländliche Räume von entscheidender Bedeutung.
Neueste Modellrechnungen[iii] zeigen, dass eine spürbare politische Zurückhaltung in der Verwirklichung des Menschenrechts auf Nahrung in den vergangenen Jahren die Kosten für Abhilfe massiv verteuert hat: Die Zusatzkosten zur Erreichung des Nachhaltigkeitsziels „Kein Hunger“ (SDG 2) bis 2030 belaufen sich mittlerweile auf 93 Mrd. Dollar pro Jahr. 2020 lagen die Kosten noch bei 30 Mrd. Dollar pro Jahr.
Haushalt 2025: ODA-Abwärtstrend setzt sich fort
Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom November 2023, das die Umwidmung von 60 Mrd. Euro aus dem Nachtragshaushalt 2021 für ungültig erklärte, hat den Spardruck auf den Bundeshaushalt 2024 und die Folgehaushalte weiter erhöht. Auch um den Haushaltsentwurf für 2025 rangen die Ampel-Parteien erbittert. Eine für den 3. Juli erwarteter Kabinettsbeschluss verzögerte sich wegen Unstimmigkeiten der Koalitionsparteien auf den 17. Juli. In der Sommerpause kamen neue verfassungsrechtliche Prüfgutachten hinzu, die einen weiteren Fehlbetrag von bis zu 5 Mrd. Euro nahelegen – was Nachverhandlungen nötig machen kann. In jedem Fall kündigt sich ein fortgesetzter Abwärtstrend der deutschen ODA an. Für das Haushaltsjahr 2025 und die Folgejahre sind weitere erhebliche Einsparungen für Entwicklungszusammenarbeit und die humanitäre Hilfe absehbar.
So sollen die Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit um weitere acht Prozent auf 10,28 Mrd. Euro reduziert werden. Innerhalb des BMZ-Etats ist für die Sonderinitiative „Transformation der Agrar- und Ernährungssysteme“ (SI AGER) eine deutliche Absenkung vorgesehen. Sie soll von 420 Mio. auf 345 Mio. Euro gekürzt werden; das entspricht einem Rückgang von 17.9 Prozent. Diese Kürzungen gehen direkt zu Lasten von langfristigen Investitionen in Ernährungssicherung und ländliche Entwicklung.
Der Kabinettsbeschluss sieht zudem drastische Kürzungen bei den Mitteln für „Krisenprävention, Wiederaufbau, Infrastruktur“ vor, auch bekannt als „Übergangshilfe“. Die Mittel sollen von 1,04 Mrd. Euro 2024 auf 645 Mio. Euro gesenkt werden, das sind 395 Mio. Euro bzw. 38 Prozent weniger. Aus diesem Haushaltstitel werden insbesondere Projekte in fragilen und von Krisen betroffenen Kontexten finanziert, in denen sich Nothilfesituationen und Optionen für längerfristige Strukturbildung immer wieder berühren. Da er erlaubt, kurzfristig und langfristig wirksame Instrumente parallel und flexibel einzusetzen, ist dieser Titel gerade vor dem Hintergrund zunehmender und immer länger anhaltenden Krisen und Konflikte von besonderer Bedeutung. Auch könnten diese Kürzungen direkt zu Lasten des deutschen Engagements zur Erreichung von SDG 2 „kein Hunger“ gehen, da dieser Titel in der Vergangenheit rund 20 Prozent der Ausgaben des BMZ für Ernährungssicherheit und ländliche Entwicklung ausgemacht hat (siehe Grafik 1).
Rotstift beim Etat des Auswärtigen Amts
Den Etat des Auswärtigen Amtes (AA) stutzt der Kabinettsbeschluss für 2025 auf 5,87 Mrd. Euro zurück, was einem Minus von 836 Mio. Euro (-12 Prozent) gegenüber dem Haushalt 2024 entspricht. Schon 2024 wurde der Haushalt des AA um 18 Prozent gesenkt. Die Kürzungen betreffen vor allem Mittel für die humanitäre Hilfe. Sie sollen um ganze 53 Prozent von 2,23 Mrd. Euro in 2024 auf 1,04 Mrd. Euro in 2025 sinken. Die Bundesregierung riskiert damit, ihre Reaktionsfähigkeit auf extreme Wetterereignisse und eine steigende Anzahl von Konflikten deutlich zu schwächen. Bereits jetzt sind die Auswirkungen gewalttätiger Konflikte auf die Bevölkerungen verheerend, wie die aktuelle Situation in zahlreichen Ländern und Regionen – darunter die Ukraine, Jemen, Gaza, Sudan und die Sahelzone – verdeutlicht.
Mit diesen Kürzungen wird es kaum möglich sein, die international vereinbarte ODA-Quote von 0.7 Prozent zu erreichen. Diese Tendenz könnte sich auf andere Geberstaaten auswirken. Denn wenn sich ein wirtschaftlich führendes Land wie Deutschland von vereinbarten Zielen zurückzieht, ist zu befürchten, dass sich weniger engagierte Geberländer umso zurückhaltender verhalten werden.
Afrikapolitik der Bundesregierung braucht kohärente Antworten
Afrika gilt längst als attraktiver Partner bei Schlüsselthemen wie Fachkräftemangel, Energiewende und Klimaschutz. Seine geopolitische Bedeutung nimmt zu. Von den 20 Ländern mit den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften liegen 11 auf dem afrikanischen Kontinent, und mit durchschnittlich 19 Jahren hat Afrika nach Angaben der Afrikanischen Union die jüngste Bevölkerung der Welt.[iv] Auch wenn es bisher noch nicht ausreichend gelingt, dass auch besonders vulnerable Gruppen von diesem Wachstum profitieren, gilt es, das überholte Narrativ vom „Krisenkontinent Afrika“ zu überwinden und die Rolle Afrikas als umworbener Partner anzuerkennen.
Gleichzeitig wächst mit der steigenden Zahl demokratisch nicht legitimierter Regierungen in der Sahelzone einerseits und dem zunehmenden Einfluss islamistischer Milizen und anderer Terrororganisationen andererseits die Sorge um den Fortbestand stabiler Staaten. Auf dem Spiel stehen verlässliche Partnerschaften in der Region, aber auch die geopolitische Stabilität. Ganze fünf Staatsstreiche hat allein die Sahelzone in den vergangenen vier Jahren erlebt – zwei in Mali (2020 und 2021), zwei in Burkina Faso (2022) und einen in Niger (2023). 33 der 45 Länder, die weltweit Nahrungsmittelhilfe benötigen, liegen in Afrika[v], und zehn der 15 Länder, die die OECD als extrem fragil einstuft, befinden sich ebenfalls auf dem afrikanischen Kontinent.[vi]
Vor diesem Hintergrund ist es folgerichtig, dass die Bundesregierung die Afrikapolitischen Leitlinien (APL) unter der Federführung des Auswärtigen Amtes überarbeitet und in diesem Jahr veröffentlichen will. Der Kompass 2024 stellt wichtige Anforderungen an die Bundesregierung heraus:
Echte Augenhöhe und ressortübergreifende Politikantworten:
Für eine Partnerschaft auf echter Augenhöhe erfordert die Überarbeitung der APL eine enge Abstimmung mit bestehenden afrikanischen Strategien und Konzepten (e.g. Agenda 2063, Post-Malabo). Bestehende Gremien und Austauschformate sollten intensiver genutzt werden, um den Dialog zu vertiefen. Nur so kann mehr Kohärenz zwischen deutschen Interessen, den APL sowie afrikanischen Strategien und Konzepten hergestellt und gemeinsam ein wirkungsvoller Beitrag zur Umsetzung der Agenda 2030 geleistet werden.
Der Kompass zeigt: Es kommt vor allem mit Blick auf die zahlreichen bestehenden Leitlinien und Strategien der Ministerien darauf an, diese kohärent an die überabeiteten APL anzupassen. Die relevanten Ressorts sollten in enger Abstimmung mit afrikanischen Partnern spezifische Länderstrategien mit klaren Zielsetzungen entwickeln, um eine ressortübergreifende Zusammenarbeit zu verbessern[vii]. Gerade eine realistische, dem Gegenüber transparent kommunizierte Zielsetzung kann im Kontext von Umbrüchen und möglicherweise unterschiedlichen Wertvorstellungen der Verhandlungspartner für die Kontinuität und Unterstützung sorgen, die die Bevölkerung in den betroffenen Ländern benötigt.
Starke Zivilgesellschaft fördern:
Insbesondere in fragilen Kontexten wie dem Sahel und dort, wo ein Agieren unabhängig von staatlichen Strukturen nötig ist, spielen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) und lokale zivilgesellschaftliche Initiativen eine zentrale Rolle für nachhaltige Entwicklungsvorhaben. NGOs sind in der Lage, auch in akuten Krisen Unterstützung zu leisten und haben Strategien entwickelt, um mit fragilen Situationen und wiederkehrenden Krisenherden umzugehen.Durch vertrauensvolle Beziehungen mit lokalen Gemeinschaften und die Zusammenarbeit mit Partnerorganisationen bleibt das Arbeiten mit den Gemeinden auch in fragilen Kontexten möglich, und längerfristige Kooperationen können fortgeführt werden, selbst wenn die bilaterale Zusammenarbeit auf Regierungsebene zeitweilig eingestellt werden muss. Das gilt v.a. auch für Humanitäre Hilfsorganisationen und Organisationen mit Doppelmandat, die aufgrund ihrer Neutralitäts- und Unparteilichkeitsprinzipien auch in komplexen Konfliktsituationen Zugang zu hilfsbedürftigen Menschen aushandeln können.
Schwerpunkte Menschenrecht auf Nahrung und ländliche Entwicklung:
Das Menschenrecht auf Nahrung bleibt für große Teile der Bevölkerung im Sahel unerfüllt. Frauen, Jugendliche und andere vulnerable Gruppen sind hiervon besonders betroffen. Allein in Burkina Faso, Mali, Niger, Mauretanien und dem Tschad sind derzeit 10,8 Millionen Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit betroffen.[viii] Beobachter*innen schätzen, dass im Oktober dieses Jahres allein in afrikanischen Ländern 204 Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen sein werden.[ix]
Dabei kann die gezielte Stärkung der landwirtschaftlichen Produktion in vielen Regionen Afrikas, und auch in der Sahelregion, einen wichtigen Beitrag zur nachhaltigen Beseitigung von Hunger und Mangelernährung leisten und somit helfen, den Bedarf an Nahrungsmittelhilfe zu senken. Trotz dieses Potenzials fließt jedoch nur ein geringer Teil der deutschen ODA für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung in die Sahel-Länder Burkina Faso, Tschad, Mali, Mauretanien und Niger, wie der Kompass 2024 zeigt.
Für die Zusammenarbeit mit der Sahelregion sollte die Bundesregierung die Agrar- und Ernährungswirtschaft deshalb stärker unterstützten. Dabei sollten insbesondere die Entwicklung von verarmten kleinstbäuerlichen Haushalten hin zu sozial, ökologisch und wirtschaftlich tragfähigen landwirtschaftlichen (Familien-)Betrieben sowie die Schaffung von Einkommensmöglichkeiten im ländlichen Raum Priorität haben. Beispiele für notwendige Maßnahmen sind:
- Förderung der Weiterverarbeitung von landwirtschaftlichen (Roh-)Produkten.
- Investitionen in moderne Produktionstechniken und in Verarbeitung, Lagerung, Kühlung sowie in den Transport und die Vermarktung von Produkten.
- Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel und Stärkung der Klimaresilienz.
- Förderung von Ausbildungsinitiativen zur Schaffung langfristiger Perspektiven.
Dies wäre nicht nur aus humanitärer, sondern auch aus ökonomischer Sicht begrüßenswert und sollte sich entsprechend in den afrikapolitischen Leitlinien spiegeln.
Fußnoten
[i] Redaktionsteam: Silvia Richter, Frauke Bohner, Dr. Rafaël Schneider, Asja Hanano, Wolf-Christian Ramm, Jonas Schubert, Katharina Debring; Autor*innen: Bettina Ide, Justyna Szambelan, Frauke Seidensticker, Jonas Schubert, Christian Roßbach
[ii] von Braun, Joachim et al. (2024): Cost of Ending Hunger – Consequences of Complacency and Financial Needs for SDG2 Achievement. ZEF Discussion Papers on Development Policy No. 347, Center for Development Research, University of Bonn
[iii] von Braun, Joachim et al. (2024): Cost of Ending Hunger – Consequences of Complacency and Financial Needs for SDG2 Achievement. ZEF Discussion Papers on Development Policy No. 347, Center for Development Research, University of Bonn.
[iv] African Development Bank Group (2024): Africa’s Macroeconomic Performance and Outlook. Verfügbar unter: www.afdb. org/en/documents/africas-macroeconomicperformance-and-outlook-january-2024 (letzter Zugriff: 31.05.2024)
[v] FAO (2024): Crop Prospects and Food Situation. Triannual Global Report. Available at: openknowledge.fao. org/server/api/core/bitstreams/8ce51384- f3d4-4598-8c57-bb38cfd5b06e/content (letzter Zugriff: 31.05.2024).
[vi] 24 OECD (2022): States of fragility report. Available at: www.oecd.org/dac/states-offragility-fa5a6770-en.htm.
[vii] Beirat Zivile Krisenprävention und Friedensförderung; https://beirat-zivile-krisenpraevention.org
[viii] FSIN and Global Network Against Food Crises (2024): GRFC 2024. Verfügbar unter: www.fsinplatform.org report/global-report-food-crises-2024 (letzter Zugriff: 31.05.2024).
[ix] Famine Early Warning Systems Network (2024): Food Assistance Outlook Brief April 2024. Verfügbar unter: fews.net/sites/ default/files/2024-04/FAOB-April%202024.pdf