Deutschlands internationale Zusammenarbeit benötigt einen Ruck
Ein Plädoyer für eine Neuausrichtung der Entwicklungspolitik in acht Punkten.

Die kommende Regierungskoalition wird das Politikfeld Entwicklungszusammenarbeit (EZ) neu aufstellen müssen. Grund dafür sind weniger die Etatkürzungen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) als der immer schärfer werdende globale Wettbewerb mit den Ländern des Globalen Südens und des BRICS-Clubs, allen voran China. Die Herausforderung wird darin bestehen, die Errungenschaften der bisherigen EZ in eine strategisch agierende und interessensgeleitete Internationale Zusammenarbeit (IZ) zu überführen.
In vielen entwicklungspolitischen Diskussionen der letzten Monate kümmerten sich Kommentatoren um Fahrradwegebau in Peru, um AfD-Agitation gegen jede Art von Entwicklungskooperation und um Kürzungen des BMZ-Haushalts. Das sind alles Themen, an denen man sich abarbeiten kann, doch lenkt die Aufregung nur von den Kernfragen der internationalen Zusammenarbeit ab. Damit beschäftigen sich ernstzunehmende neue Konzepte. Das grün geführte Auswärtige Amt wie auch die SPD formulierten neue Afrikastrategien („Der größeren Bedeutung Afrikas nach der Zeitenwende gerecht werden“). Die FDP-Bundestagsfraktion schlägt vor, die Entwicklungszusammenarbeit (EZ) in das Auswärtige Amt einzugliedern. Entwicklungshilfe müsse als Instrument der Außenpolitik verstanden und die Effektivität der EZ gesteigert werden.
Das ebenfalls grün geführte Landwirtschaftsministerium unter Cem Özdemir hat sich mit dem „BMEL-Konzept für unsere Zusammenarbeit mit afrikanischen Ländern und Regionen“ positioniert, wie zuvor bereits die BMZ-Ministerin Svenja Schulze, die noch mit dem grundsätzlicheren Papier „Entwicklungshilfe war gestern“ nachlegte – ein prägnanter Text, der alle abstraft, die noch vor kurzem vehement davon ausgingen, die EZ sei sowieso auf einem guten Weg. Die Ministerin schwenkt um; sie will sogar den Namen des Ministeriums in Bundesministerium für Internationale Zusammenarbeit umbenennen. Schulzes Beitrag formuliert Politisch-Strategisches zur IZ, u.a. zur Kooperation mit der Ukraine, im Nahen Osten, im Sahel, am Horn von Afrika, und angesichts der globalen Veränderungen eine geostrategische Agenda.
Ursprünglich dachte man, dass Entwicklungspolitik die Maßnahmen umfasst, die dem Aufbau, der wirtschaftlichen, technischen und sozialen Förderung und Weiterentwicklung von Entwicklungsländern dienen, wie etwa Armutsbekämpfung. Doch diese EZ-Ideen haben sich im Lauf der Jahre abgenutzt; eine Folge des Wohlstandsschubs in einer überwiegenden Zahl von Ländern mit sinkender relativer Armut. Aus vielen Niedrigeinkommensländern wurden Mitteleinkommensländer. Dazu kommt die seit einiger Zeit veränderte Geoökonomie mit den aufstrebenden Ländern des BRICS-Clubs und des Globalen Südens, die zunehmend eine eigene Agenda, z.T. auch gegen den Westen gerichtet, verfolgen. Die Leitlinie der Länder des Globalen Südens, bei allen Unterschieden untereinander, lautet: Wir wollen Süd-Süd-Kooperation. Wir wollen eure Einmischungen nicht mehr. Diese Länder benötigen immer weniger klassische Entwicklungshilfe, sie brauchen in den meisten von ihnen nicht einmal mehr hochqualifizierte Fachleute, weil im eigenen Land genügend ExpertInnen zur Verfügung stehen.
Wie soll die deutsche Kooperationspolitik angesichts dieser großen Veränderungen zukünftig ausgestaltet werden?
Ich plädiere für acht zentrale Ansätze zur Neuausrichtung der IZ:
1) Die Agenda 2030 und die Sustainable Development Goals (SDG) sind eine Zielbestimmung für alle Länder hinsichtlich Klima, Gerechtigkeit und Frieden. Internationale Kooperation muss sich an den von der Staatengemeinschaft vereinbarten Normen orientieren, ohne die legitimen Eigeninteressen aufzugeben.
2) Deutsche IZ sollte grundlegend als Soft-Power-Konzept angelegt werden, das sich durch Überzeugungs- und Anziehungskraft auszeichnet. Dazu bedarf es eines gewandelten Bedarfs an deutscher Expertise.Immer weniger wird traditionelle Hilfe und Expertise benötigt, hingegen Kompetenzen zum Aufbau von Joint-Ventures in Wirtschaft, Forschung und Kultur. Soft Power ist nachweisbar vorteilhaft, um internationale politische Entscheidungen zu beeinflussen. Die deutsche EZ hat in ihrer 65-jährigen Geschichte ein einzigartiges internationales Netzwerk aufgebaut. Es gilt, dieses Netzwerkkapital besser in Wert zu setzen, denn Deutschland wird im Globalen Süden nicht länger als der geborene Partner für Zusammenarbeit gesehen. Soft-Power-Kooperation vertiefen heißt, das aufgebaute Vertrauenskapital zu erweitern, das EZ-Organisationen, politische Stiftungen, der DAAD, die Universitäten und Bildungseinrichtungen, Goethe-Institute und privat organisierte wie Städte-Partnerschaften aufgebaut haben, indem sie Ideen austauschen und gemeinsam nach Lösungen suchen (wie gegen den Klimawandel oder Kinderarbeit).
3) Eine strategisch angelegte und moderne IZ sollte wirtschaftsnah gestaltet werden. Das ist gegenwärtig zu wenig der Fall. Um eine geoökonomische Alternative vor allem zum allseits beklagten Vorgehen Chinas zu entwickeln, sollte sich die Kooperation der Netzwerkorganisationen mit der deutschen Wirtschaft strategisch positionieren. Die hochentwickelte deutsche Industrie sollte vor allem den Fokus auf Technologiekooperation und Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung (F&E) legen. Zugleich sollte sie die Verbindung deutscher und lokaler Unternehmen in Wertschöpfungsketten vertiefen. Dazu kann IZ beitragen und damit Wissenstransfer und Wissensauslese zum beidseitigen Nutzen ermöglichen. Die traditionelle EZ konzentrierte sich meist auf kleinräumige Projekte, Berufsbildung oder Förderung von lokalen Klein- und Mittelunternehmen, hingegen nimmt die neue IZ eine Weiterung vor, indem sie Netzwerkpower betont und zugleich die gemeinsamen Interessen der Wirtschaftskooperation in den Fokus nimmt.
Dies beinhaltet auch ein Konzept von „Wachstum mit Jobs“, ein bislang weitgehend nicht verfolgtes Ziel. Deutsche EZ bewegte sich jahrzehntelang im Fahrwasser der Weltbank und des IWF, die Strategien der Wirtschaftskooperation durchorganisierten, aber das Ziel der Beschäftigung weitgehend aussparten. So generierten viele Länder des globalen Südens zwar Wirtschaftswachstum – aber ohne ausreichende Jobs (jobless growth). Die von den Bundesregierungen verfolgten „Marshallplan mit Afrika“ und „Compact with Africa“ wiesen ebenfalls diese Schwäche auf. Im Mittelpunkt stand die Verbesserung des wirtschaftlichen Umfeldes, Liberalisierung der Märkte, höhere Investitionen und Öffnung des Handels. Aber Industrieentwicklung, Beschäftigung und Schutz vor unfairem Handel wurden vernachlässigt. Wie Theo Rauch schrieb, habe die EZ versagt, produktive Beschäftigungs- bzw. Einkommensmöglichkeiten zu fördern.
4) Ein wesentlicher Baustein einer verantwortlichen Politik sind „Do-no-harm-Strategien“, die angesichts der wieder steigenden globalen Armut, der Klimakatastrophen, Ernährungs- und Migrationskrisen wichtig bleiben. Aber deutsche IZ sollte mehr tun als das. Durch Joint-Ventures von Unternehmen und dem Einsatz von Soft Power sollte sie mit Partnerländern Wertschöpfungsaktivitäten entwickeln. Das bedeutet eine Abkehr von der Wirtschaftsagenda multinationaler Konzerne, die Rohstoffe weltweit ausbeuten, die Landwirtschaft großflächig schädigen, die niedrige Löhne in armen Ländern nutzen, aber kaum lokale Wertschöpfung hervorrufen und dadurch nationale Entwicklung konterkarieren – ohne Wissenstransfer, ohne technisches Upgrading und angemessene Wertschöpfung für lokales Unternehmertum. Das heißt auch, es bedarf eines deutschen und europäischen Gegenmodells, das mit höherer lokaler Wertschöpfung in der Landwirtschaft, dem Dienstleistungssektor und der Industrie einhergeht. Diese Strategie nutzt langfristig deutschen Unternehmen und trägt auch zum Wohlstand unseres Landes bei. So eine Wertschöpfungsagenda könnte auch eine strategische Antwort auf Chinas Agieren sein. Zwar darf man nicht erwarten, damit großflächig und umfassend umsteuern zu können, aber ein so geartetes Einbettungsmodell würde Zeichen setzen.
5) Zur strategischen Ausrichtung gehört auch, die angebotsorientierten Maßnahmen (wie z.B. Berufsbildung) mit nachfrageorientierten Maßnahmen zu verknüpfen, damit sich dadurch lokales Unternehmertum gut entwickelt. Das weiterhin verfolgte Ideal von Insellösungen, wie etwa deutsche Berufsbildungsaktivitäten, läuft ins Leere, solange es nicht gelingt, diese Angebote mit der lokalen Nachfrage der Landwirtschaft und Industrie zu verbinden. Auch die deutsche Wirtschaft muss sich anders aufstellen, will sie in den Ländern des globalen Südens nicht weiter zurückfallen – das heißt Investitionspartnerschaften mit lokalen Akteuren eingehen und nicht nur exportieren.
6) Die IZ-Politik sollte vom BMZ gesteuert werden, eine eigenständige Rolle spielen und nicht in das Auswärtige Amt integriert werden. Ein Blick nach Großbritannien genügt, um festzustellen, dass eine solche Eingliederung eher zu Ineffizienz und Planlosigkeit führt. Aufgrund der verschiedenen Interessen der Ministerien (wie z.B. Verteidigung und Landwirtschaft) bedarf es eines effektiven Schnittstellenmanagements, um die Wirksamkeit der geplanten Maßnahmen zu erhöhen. Dies ist bislang nicht der Fall.
7) Es ist an der Zeit, dass die Nichtregierungsorganisationen (NRO), die zum Teil von den Zuwendungen des BMZ stark abhängen, sich einer Selbstreflektions-Agenda unterziehen. In den letzten Jahren waren sie oft nur der „Schoßhund“ des BMZ, und ihr eigenes Profil als kritische Begleiter der EZ/IZ verblasste. Gerade die NRO sollten aus ihrer ohne Zweifel vorhandenen Expertise und ihren Netzwerken mehr machen, eigene Vorschläge zur Ausgestaltung der IZ in die Debatte bringen und zugleich in die deutsche Öffentlichkeit hineinwirken, um für die grundsätzliche Zustimmung zu internationaler Kooperation in einer auseinanderdriftenden Welt zu werben, denn die Unterstützung für EZ/IZ sinkt.
8) Deutschland sollte mit deutlich mehr Engagement als bisher die kolonialen Verbrechen aufarbeiten und in Kooperation mit den betroffenen Ländern seine Partnerschaften neu aufstellen. Dies wäre ein Zeichen von substanzieller Neuausrichtung und würde helfen, Vertrauenskapital aufzubauen, und zugleich demonstrieren, dass paternalistisches Agieren der Vergangenheit angehört.
Realitätscheck und Ruck erforderlich
IZ-Politik benötigt einen Ruck. Die längst überfällige Grundsatzdebatte über die deutsche Außen- und Entwicklungspolitik sollte keine Weiter-So-Agenda mit ein wenig Kosmetik in Angriff nehmen und auch keine unerfüllbaren Wolkenkuckucksvisionen formulieren. Davon hat es in den vergangenen Jahrzehnten genügend viele gegeben, etwa dass durch die Kooperation die weltweite Armut gesenkt werden könne, oder EZ ein Motor von Demokratieentwicklung sei. Auch sollten wir endlich erkennen, dass Deutschland durch Wachstums- und Innovationsschwäche an Wirtschaftspower – und damit an Soft Power für Gestaltungsfähigkeit – eingebüßt hat. Das „Modell Deutschland“ verliert an Attraktivität. Und was noch wichtiger ist: Regierungen in aller Welt fordern nicht mehr bloß Mitspracherechte im politischen Diskurs ein, sondern sie wollen selbst tonangebend sein und über ihre Entwicklung entscheiden.
Dennoch herrscht in der deutschen Entwicklungspolitik immer noch der Geist der Formulierung unrealistischer Erwartungen, was nur zu einem Scheitern und zu erneuter Frustration führen kann. Wir tappen immer wieder in diese Falle. Es wäre besser, die IZ einem Realitätscheck zu unterziehen und dadurch besser zu verstehen, was sie gestalten kann und was nicht. Es ist notwendig, ans „Eingemachte“ zu gehen und alte Zöpfe abzuschneiden. Vor allem ist die endgültige Abkehr der staatlichen EZ von der traditionellen Projektpolitik, die immer noch die meisten Mittel verschlingt, in Angriff zu nehmen und damit Mittel für neue Aufgaben bereitzustellen. So oder so werden die fortgesetzten Kürzungen im BMZ-Haushalt eine Verdichtung der EZ-Aktivitäten erfordern.
Seit vielen Jahrzehnten wollen Kritiker die EZ abschaffen. In den 1970-er Jahren wurde sie als neokolonial kritisiert. In den 1980-er Jahren brandmarkte Brigitte Erler sie als „Tödliche Hilfe“ – sie komme nur den Reichen zugute und grenze die Armen aus. In den 1990-ern kritisierte man die EZ, weil sie Entwicklung hemme und Strukturen verfestige. Die Strukturanpassungsprogramme und Good Governance würden sozial nachteilige Wirkungen haben und westliche Normen zum Maßstab nehmen. Zudem verschärfte sich im Laufe der Zeit die Kritik an den Eigeninteressen der Entwicklungsindustrie und deren Verharrungskonservativismus. Um nicht wieder in eine dieser Schubladen zu fallen, ist der Weg für eine partnerschaftliche IZ zu ebnen.
Die IZ hat sich in letzter Zeit als durchaus diskursfreudig gezeigt. Das ist ein gutes Zeichen und sollte in den kommenden Monaten für einen Neuorientierungsschub in der Formulierung einer konsistenten IZ sorgen. Je schneller wir begreifen, dass die Welt sich gedreht hat und wir uns anpassen müssen, desto besser.
Alle in der Welternährung geäußerten Ansichten sind die der Autor*innen und spiegeln nicht zwangsläufig die Ansichten oder die Positionen der Welternährungsredaktion oder der Welthungerhilfe wider.

Robert Kappel ist emeritierter Professor für Wirtschaft und Politik in Afrika der Universität Leipzig und war zuvor Präsident des German Institute of Global and Area Studies (GIGA) in Hamburg.